Wähle Dein Europa!

Die Gewerkschaften in Oesterreich setzen zur Schlusskampagne im Wahlkampf für das EU-Parlament an, mit einem Mobilisierungsvideo, das dem gleich, mit dem in der Schweiz zugunsten der Abstimmung über die Personenfreizügigkeit mit der EU geworben wurde.

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Die Wahlen ins EU-Parlament stehen unter keinem guten Stern. Es gibt keinen gesamteuropäischen Anlass. Die Kampangen finden in den Ländern statt, und werden meist mit nur halber Kraft gefahren. Den KandidatInnen geht der Hauch von Engagement ab, und die Streitthemen sind eher rar.

Und am 7. Juni wird das Europäische Parlament neu bestellt.

Nun platzt, beispielsweise in Oesterreich, das Mobilisierungsvideo in die Schlussphase der Entscheidfindung, wie wir es aus der Abstimmung über die verbindliche Personenfreizügigkeit in der Schweiz schon kennen. Eine halbe Million mal, wurde es per Internet weiter gerecht, und es hat den Ausgang der Abstimmung höchstwahrscheinlich zugunsten der EU-BefürworterInnen beeinflusst.

Initiant ist diesmal der Oesterreichische Gewerkschaftsbund. Entsprechend ist die Geschichte aufgebaut. Die Manager einer Firma mit Glas-Stahl-und-Betonbau freuen sich über den Wahlausgang für das Parlament in Brüssel. Zu früh ist ihre Party angesetzt, denn die prognostizierte Wahlbeteiligung steigt wider allen Erwartung rapide an. Ursache ist ein Aufruf, vor allem junger Menschen, die sich bei dieser Wahl ihr Europa nicht nehmen lassen wollen, und mit dem guten Beispiel vorangehen.

Wie das auch im Fall des Schweizer-Videos der Fall war, kann man es via Internet an Freunde oder Bekannte versenden, wobei dann ihr Name in grossen Lettern als Vorbild in der Zeitung erschent.

Als ich vor wenigen Wochen in Oesterreich war, prophezeite Fritz Plasser, Politikprofessor in Innsbruck, die Wahlbeteiligung werde nicht so tief sein, wie in den frühen Umfragen. Denn die grossen Parteien OEV und SPOe würden erst ganz am Schluss ihr Gewicht in die Waagschale der BürgerInnenentscheidungen werfen, und dann auch punkten.

Wähle also dein Europa, wenn Du darfst …

Claude Longchamp

Wo PolitikerInnen und Parteien in der Politlandschaft stehen

Unter der Leitung des Lausanner Politologen Andreas Ladner haben Daniel Schwarz und Jan Fivaz, beide führend am smartvote-Projekt beteiligt, eine Analyse der Positionierung von NationalratskandidatInnen am Beispiel der Wahlen von 2007 vorgelegt, die solide das aktuelle politische Koodinatensystem der Schweiz auskleidet.

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Die Studie überzeugt zunächst durch die Datenbasis. 85 Prozent der KandidatInnen bei den jüngsten Nationalratswahlen haben mitgemacht. Das ist deutlicher mehr als etwas bei der Nachwahlbefragung im Rahmen des Selectsprojektes, an dem sich nur die Hälfte beteiligt haben.

Der Hauptgrund liegt im Nutzen der Teilnahme. Erhoben wurden die Daten im Rahmen des Onlinedienstes smartvote, das es den Wählenden erlaubt, sich selber im Vergleich zu den BewerberInnen zu vergleichen. Die Kandidierenden bot dieser moderne Internet-Angebot eine willkommene Gratismöglichkeit, sich thematisch zu profilieren, was die Mitmachbereitschaft sichtbar erhöhte.

Die Hauptergebnisse
Zunächst halten die AutorInnen der Studie fest, dass die Gewählten thematisch nicht systematisch von den Kandidierenden abweichen. Zwar sind sie leicht rechter, und etwas weniger ökologisch, doch hat das damit zu tun, dass linke und grünen Parteien im Verhältnis zu den Gewählten mehr Listen vorschlugen.

Unter den Gewählten sind die Frauen leicht linker als die Männer. Dies trifft bei allen Parteien – ausser der SP – zu, weil sich hier auch die Männer weit links positionieren.

Die interne Geschlossenheit der Parteien ist davon kaum beeinflusst. Am homogensten treten die KandidatInnen von SP und Grünen in Erscheinung, am meisten streuen die von CVP und FDP. Bei der FDP ist das selbst in ihren selbstgewählten Profilierungsthemen der Fall. Bei der SVP schliesslich ist die Geschlossenheit mittel, in den Kernfragen aber ausgesprochen hoch.

Wo es Unterschiede innerhalb der Parteien gibt, folgen sie hauptsächlich sprachregionalen Differenzierung, werden sie beschränkt auch durch den konfessionellen Kontext ihrer Wahlkreise bestimmt.

Vergleicht man die Positionierungen zwischen den Parteien, werden drei Konfliktmuster ersichtlich:

. zunächst die Unterscheidung zwischen Bürgerlichen und Linken;
. dann die zwischen der SVP und den übrigen Parteien und
. schliesslich die zwischen der SVP und der FDP einerseits, den Parteien Mitte/Links anderseits.

Reduziert werden kann das auf zwei gut bekannte Dimensionen: die Links/Rechts-Achse einerseits, der Gegensatz liberal/Konservativ anderseits. Dabei ist die SVP klar rechtskonservativ, SP und Grüne fast identisch links und beschränkt liberal positioniert, womit sie sich isolieren können, während die FDP eine leicht rechtsliberale, die CVP eine klar zentristische Position einnimmt, und damit bei Allianzbildungen regelmässig berücksichtig werden müssen.

Das letzte, erwähnenswerte Ergebnis der Untersuchung betrifft die Einschätzung der Kandidierenden bezüglich ihres Standortes im politischen Spektrum und innerhalb der eigenen Partei. Die drei Politikwissenschafter kommen zum Schluss, diese falle sehr wohl zutreffend aus. Entsprechend suchen die PolitikerInnen in der Regel am richtigen Ort Panaschierstimmen, und finden sie sie mehrheitlich auch, wenn sie das interessiert!

Die Würdigung
Die kleine, aber nützliche Studie ist ein erster Schritt zur gsichteren inhaltlichen Differenzierung von KandidatInnen und Parteien in der Schweiz aufgrund von Sachfragen. Was sich aufgrund von Analyse von Volksabstimmung für Parteien schon länger abzeichnet, bekommt hier dank smartvote eine willkommene Erweiterung.

Die Ergebnisse sind für Theorie und Praxis wertvoll. Denn die insgesamt sehr plausiblen Resultate sind ein (nachträglicher) Beleg dafür, dass das Instrument, das smartvote entwickelt hat, valide Ergebnisse zum politischen Raum liefert. Inskünftig kann man nicht mehr unwidersprochen behauptet, die Angaben, welche die BewerberInnen bei solchen Umfragen machen, seien unbrauchbar, weil rein taktischer Natur, um sich mit populären Positionen zu profilieren. Das wird auch der Praxis der empirischen Politikforschung zu Gute kommen!

Claude Longchamp

Andreas Ladner, Daniel Schwartz, Jan Fivaz: Die Positionierung der Nationalratskandidierenden 2007, Cahier de l’IDHEAP 243, Chavannes-Lausanne 2008

Eigenverantwortung statt Eigennutzen

Die kulturkritische Debatte zu den zukünftigen Werten der Führungskräfte in den Unternehmen wird auch in der Schweiz immer deutlicher. Symptom hierfür ist die jüngste Sonderbeilage “Weiterbildung und Karriere” der Neuen Zürcher Zeitung.

“Eigenverantwortung statt Eigennutzen”, das könnte man als Titel über den Extrabund in der heutigen NZZ setzen. Das wird angesichts der öffentlichen Kritik am Shareholder-Value-Denken und -Handeln insbesondere in Banken bald schon zum Programm.

Einleitend zur Beilage kritisieren Doris Aebi und René Kuehni den erfolgten Kulturwandel insbesondere in der Finanzbranche. Ursache der Krise sei eine vom angelsächsischen Investment Banking beeinflusste, auf kurzfristigen Erfolg und persönliche Gewinnmaximierung ausgerichtete Mentalität. Das dichte Netz an Informationstechnologie haben dieser Veränderung global gefördert und die Bedeutung nationaler Regulatoren relativiert.

Jetzt, wo die sich selbst erzeugende Blase geplatzt sei, suche die Wirtschaft, von wütenden Kunden, enttäuschten Aktionären und verunischerten ArbeitnehmerInnen getrieben, nach einem neuen Aufbruch. Denn die Führungskräfte der Zukunft müssen einen radikale Erneuerung, die kulturelle Gegenrevolution bringen.

Dialog, Exzellenz und Aufmüpfigkeit werden als neue Leitwerte in der Ausbildung von Führungskräften empfohlen. Die Manager der Zukunft müssten eine Kultur des Vertrauens entwickeln, Gestaltungsfreiräume ermöglichen und Entwicklungsmöglichkeiten zulassen, um von der Dominanz monetärer Anreize wegzukommen.

Die beiden InhaberInnen eines Unternehmensberatungsbüros in Zürich fordern, dass Firmen Leute an ihre Spitze berufen, die Eigenverantwortung von Eigennutzen setzten, nicht der nun bekannten Gier, sondern dem unternehmerischen Interesse folgten und damit die langfristige gedeihliche Entwicklung von Unternehmen ermöglichten.

Der Aufruf aus einer liberalen, wenn auch erneuerten Sicht leuchtet durchaus ein!

Claude Longchamp

Immer wieder dieser Röschtigraben!

Regelmässig erhalte ich Anfragen für Auskünfte als Experte. Die meisten dieser Anfrage lehne ich ab; aus Zeitgründen, weil mich die Fragestellung nicht intessiert oder weil man mit einer einfachen Internetrecherche das Ganze auch beantworten kann. Jetzt habe ich wieder einmal eine Ausnahme gemacht, und eine Anfrage einer Studentin zum unendlichen Thema „Röstigraben“ beantwortet; hier das ganze Interview, für alle anderen, die mich danach fragen möchten …

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Alice Grosjean: Was sind für Sie persönlich die grössten Unterschiede zwischen Romands und Deutschschweizern (Sprache, Charakter, Mentalität)?

Longchamp: Selbstverständlich in der unterschiedlichen Sprache, die auch andere Kulturräume eröffnet, verbunden mit einer ganz anderen Geschichte, welche das Verhältnis zu Imperien, Aufgaben des Staates, Einstellung zu Steuern und Formen der Entscheidfindung geprägt hat. Darüber hinaus gibt es für mich eher innerhalb der Sprachgruppen mehr Unterschiede, als dass ich solche zwischen diesen sehen würde.

Was schätzen Sie besonders an den West-, was an den Deutschschweizern?

In Fribourg aufgewachsen, Sohn einer deutschsprachigen Mutter und eines französischsprachigen Vaters bin ich ja von beidem etwas. Auch deshalb glaube ich nicht, dass es den Deutsch- und Westschweizer gibt. Wir allen haben mehr oder wenig viel oder wenig des einen oder anderen Kulturraumes in uns. – So gesehen schätze ich an der Romandie das Latenium, das Museum in Neuenburg, wegen der modernen Architektur, des grossen Wurfs über die Regionalgeschichte, und den Publikumsandrang, den es damit auslöste. und an der Deutschschweiz mag ich besonders Luzern mit dem perfekten Einbindung in die Umwelt, der gemütlichen Lebensweise und dem Mix aus Tradition und Offenheit besonders gut. Am liebsten bin ich aber in Murten, irgendwo zwischen der Kirche der französisch- resp. deutschsprachigen Bevölkerung …

Sind die Romands die besseren Patrioten?

Ach, was sind schon Patrioten? Als Napoléons Truppen die Schweiz besetzten, machten sie aus den französischsprachigen Untertanen gleichberechtigte Citoyens. Aufgeklärt wie vor allem die Intellektuellen in der Akademiestädten Genf und Lausanne von damals waren, verstanden sie sich als Patrioten, das heisst als Freunde der Revolution. Ihre Gegner nannten sich Republikaner, Föderalisten, und waren Reaktionäre, die das Rad der Geschichte umdrehen wollten. Während der Staatsgründung waren die Freisinnigen die Patrioten, welche mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft von 1848 mitten im monarchistischen Europa einen Coup lancierten. Doch das alles ist durch das Erlebnis des Zweiten Weltkriegs nachhaltig verändert worden: Patrioten waren danach jene, die sich gegen Hitler wandten, den General verehrten, dem Reduit anhingen, und dabei übersehen, dass sie sich ins Schneckenhaus zurückzogen, die Demokratie über Bord warfen, und die aufklärerischen Werte der Französischen Revolution verrieten. Patriot war man nun, wenn man antikommunistisch dachte und handelte, während alle anderen als fremde Fötzel traktiert wurden. – Nun sagen Sie zuerst, welchen Patriotismus sie meinen …

Gibt es Ihrer Meinung nach noch viele Vorurteile der Romands gegenüber den Deutschschweizern (oder anders herum)?

Die Konstruktion der Welt aufgrund einer einzigen Konfliktlinie ist das grösste Vorurteil, egal wo man lebt. „The Clash of Civilisation“ leitete der US-amerikanischen Politologe Samuel Huntington aufgrund einer Polarisierung von Kulturräumen ab, die er in erster Linie religiös, das heisst christlich oder nicht-christlich aufbaute. „Die Identitätsfalle“ nennt das sein grösster Kritiker, der Nobelpreisträger Amartyra Sen, und zählt auf, wie viele Identitäten die Menschen als soziale Wesen haben, kulturell, sprachlich, religiös, moralisch, ethisch oder politisch konstituiert sind und nur selten in der gleichen Kombination bei zwei verschiedenen Menschen vorkommen. Genau deshalb macht die Polarisierung in der Schweiz entlang des Röschtigraben wenig Sinn!

Wann und weshalb haben Sie persönlich den „Röstigraben“ am stärksten erlebt/wahrgenommen?

Am 6. Dezember 1992, bei der Volksabstimmung über den EWR-Vertrag, in der Romandie fast einstimmig angenommen, in der deutschsprachigen Schweiz mehrheitlich verworfen, nur von ausgewählten städtischen Gegenden befürwortet. Das war es auch berechtigt, diese Chiffre zu verwenden, doch finden sich davon selbst bei Europa-Abstimmungen heute nur noch Spuren.

Wie beurteilen Sie heute die politische Lage um den Röstigraben, existiert er überhaupt noch?

Er ist dann problematisch, wenn er gleichzeitig politisch, kulturell und ökonomisch wirkt, Mehr- und Minderheit, dominante und unterlegene Kultur, starke und schwache Oekonomien einander immer wieder gleich ausschliessen. Denn dann neigt man dazu, wirtschaftliche Verteilkämpfe in ethnischen Kategorien zu lesen, womit sie hochexplosiv und kaum mehr rational verbesserbar werden. Gegenwärtig findet man ja davon nur noch wenig: Die Romandie ist die Region der Schweiz, die am stärksten boomt, von der Weltwirtschaftskrise am wenigsten betroffen ist. Der Arc Lémanique, der entlang von Strassen und Schienen zu einem grossen melting pot von Interessen und Werten zusammenwächst, ist Zürich von seinem Zukunftspotenzial her jedenfalls ebenbürtig.

Was hat sich in den letzten 40 Jahren verändert?


40 Jahre sind willkürlich! Eine Zusammenstellung des Poltikwissenschafters Christian Bolliger, die man auf dem Internet schön nachverfolgen kann, zeigt, dass das Verhältnis zwischen den Sprachregionen seit es Volksabstimmungen gibt, die ihm als Indikatoren gelten kaum je stabil waren, und es wohl auch nicht sein werden. Das einzige war immer ein Problem ist, besteht darin, dass man nur noch neben, kaum mehr miteinander lebt.

Sind die Anstrengungen den Röstigraben zu überqueren und die jeweils andere Sprache und Mentalität kennen zu lernen, z.B. von jungen Leuten, heute grösser als früher?

Nein, eher nicht. Eigentlich lebt ja nur noch Biel/Bienne die Zweisprachigkeit wirklich. Der Rest kümmert sich kaum darum. Im Alltag, im Berufsleben, in den Medien, herrscht Segregation und Binnnensicht vor. Die lingua franca, in der sich die SchweizerInnen gemeinsam unterhalten, ist zwischenzeitlich englisch, weil man einander sonst nicht mehr versteht! Und unter den Zuwanderern ist es bald einmal albanisch!

Glauben Sie, dass sich Westschweizer manchmal in gewissen Dingen benachteiligt fühlen (Z.b. in politischer Sicht oder in den Medien)?

Sie sind eine Minderheit. Die Sprache ist aber nur eine der grossen Konfliktlinien in der europäischen und schweizerischen Gesellschaft, die sich politisch auswirken. In der Schweiz ist der Stadt/Land-Gegensatz heute viel wichtiger, auch der Konflikt zwischen wirtschaftlichen Interessengruppen rangiert vor der Sprachenfrage. Diese findet sich am ehesten, wenn es um Relation zwischen Zentral- und Gliedstaaten geht, denn da reflektiert sich die Minderheitsposition am ehesten. Beschränkt trifft das auch zu, wenn wir über die Aufgaben des Staates, der Gemeinschaft und des Individuums reden und wenn es um das Verhältnis zum Ausland geht, weil es durch die nächstgelagerten Referenzraum ganz unterschiedlich erscheint. Die Mehrheiten sind aber nicht immer identisch, sodass ich das nicht zu vertiefen brauche.

Was könnte man in der Kommunikation zwischen Deutsch- und Westschweiz verbessern?

Reisen bildet, wandern auch! Reisen und wandern Sie alle mehr in der Schweiz umher, und gehen sie nicht immer an die gewohnten Orte. Das gilt für alle, entdecken sie Vielfalt der Schweiz, wie das im 18. Jahrhundert so populär wurde und lange nachhalte, heute leider viel zu wenig mehr vorkommt. Und lernen sie dabei auch Menschen in ihrer ganzen Kultur kennen, indem sie sich Mühe geben, ihre Sprache zu verstehen. Die Bestimmung der Schweiz ist es, eine GrenzgängerInnen-Nation zu sein!

Claude Longchamp

“animal spirits” statt “rational choice”.

“Um zu verstehen, wie die moderne Weltwirtschaft in die Sackgasse geraten ist, müssen wir unser Wissen erneuern”, fordert der Nobelpreisträger von 2001 George Akerlof mit seinem Kollegen Bestsellerautor Robert Shiller. Wie andere Grössen ihres Faches, haben sie mit kritischer Distanz zum Geschehen herauszufinden versucht, was angesicht der Weltwirtschaftskrise schief gelaufen ist und ihre Folgerungen in einem nun auch auf Deutsch erschienenen Buch präsentiert.

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Unter den Lösungen Akerlofs und Shillers fällt eine besonders auf: Der kühl-rational handelnden “homo oeconomicus” soll durch ein realistischeres Modell ersetzt werden. Denn die prominenten Autoren sind überzeugt, dass Volkswirtschaften zu Hysterien neigen, die in Exzesse, Manien und Paniken auarten, wenn sie sich selbst überlassen werden. Begründet sehen sie das in der ökonomischen Theorie, die in iher dogmatischen Form die Nutzenfunktionen gesellschaftlicher Normen ganz vernachlässige.

Ursachen der jüngsten Instabilitäten seien die “animal spiritis”, die Urinstinkte, die je nach dem in eine euphorische oder abgelöschte Grundstimmung verfallen können, schreiben die Oekonomen. Der Herdentrieb, der von der Börse ausgehe, verstärke danach den wirtschaftlichen Auf- oder Abschwung, – im Guten wie im Schlechten.

Die Banken hätten aus kurzsichtigem Eigenintresse heraus gehandelt, als sie Kredite für Hauskäufe an zahlungsunfähig mittel- und Unterschichten vergaben. “Es mag zwar sein, dass ein solches Vorgehen nicht illegal ist, doch in unseren Augen kann man die besonders marktschreierischen Geldhäuser durchaus als korrupt bezeichnen”, halten Akerlof und Shiller unmissverständlich fest.

Aus ihrer Sicht ist das Vorgehen dann ökonomisch sinnvoll, wenn klar definierte Eigentumsrechte und transparenten Informationen gegeben sind. Doch genau das sei mit der Entwicklung neuer Finanzinstrumente nicht gegeben gewesen und systematisch negiert worden. Und: “Wenn diese Bedingungen nicht garantiert werden können, entwickeln sich Märkte dysfunktional.”

Das haben in der Schweiz auch die Grossbanken erlebt, bei denen die Abschreibungen 2007 und 2008 drei Viertel des Eigenkapitals vernichteten, schreibt die “NZZ am Sonntag” heute. Der Analyse der beiden hier genannten Oekonomie-Professoren stimmt sie zu. Die Massnahmen, die auf ein weises, vom Staat geprägtes Laissez-faire hinaus laufe, hält sie jedoch für zu vage.

Claude Longchamp

George A. Akerlof, Robert J. Shiller: Animal Spirits. Wie Wirtschaft wirklich funktioniert, Campus Verlag 2009.

Terminator am Ende?

Kalifornien lehnt die Vorschläge zur Haushaltssanierung, die Gouverneur Arnold Schwarzenegger vorgebracht hat, in einer Volksabstimmung weitgehend ab. Der Bundesstaat im Westen der USA braucht jetzt eine harte Haushaltssanierung und wohl auch einen Reform der parlamentarischen wie auch direktdemokratischen Entscheidungsverfahren.


Am Tag davor: Gouverneur Schwarzenegger wirbt für seine Haushaltssanierung, die er im Parlament durchgebracht hat. IN der Volksabstimmung von gestern scheitert er aber deutlich.

Arnold Schwarzenegger, der Gouverneur von Kalifornien, weilte am Dienstag in Wahington, um der Verkündung neuer Umweltstandards für amerikanische Autos beizuwohnen, die Präsident Barack Obama auf der Basis von Vorschlägen Schwarzeneggers beschlossen hatte. Gleichentags wie dieser in der Hauptstadt grosse Erfolge feierte, erlitt er in seiner Wahlheimat drastische Niederlagen. Fünf der sechs Propositionen, die Schwarzenegger zur Sanierung der maroden Staatshaushaltes vorgelegt hatte, scheiterten in der Volksabstimmung mit Nein-Anteil von 60 Prozent und mehr. Einzig angenommen wurde der Vorschlag, die Politikergehält einzufrieren, solange der Staat Defizit ausweise.

Das Ergebnis der Referenden ist ein herber Rückschlag für Gouverneur Schwarzenegger, der die Wählënden in allen sechs Initiativen um Zustimmung gebeten hatte, denn bei Ablehnung droht ein Budgetdefizit von 21 Milliarden Dollar. Nötig geworden waren die vorgeschlagenen Reformen, weil Kalifornien derzeit ganz besonders unter der Wirtschaftskrise leidet. Erstmals seit 1938 fehen in diesem Jahr die Steuereinnahmen in absoluten Zahlen zurück. Korrigieren wollte ihre Gouverneur das, in dem er die Einkommens-, Mehrwert- und Fahrzeugsteuer erhöhte. Zudem hätte mit einer Zustimmung in der Volksabstimmung die Möglichkeit bestanden, eine grossen Geldanleihe aufzunehmen, um die Löhne der Staatsangestellten garantieren zu können.

Vergeblich hatte Schwarzenegger die Stimmenden vor einem Nein gewarnt. Jetzt bleibt ihm nichts anderes übrig, als den dicken Rotstift anzusetzen. Vor allem Schulen sowie das Sozial- und Gesundheitssystem müssen mit drakonischen Einsparungen rechnen. 5000 Staatsbediensteten droht die Entlassung. Außerdem will Schwarzenegger sieben wertvolle Immobilien verkaufen – darunter das Gefängnis San Quentin bei San Francisco und das Sportstadion Los Angeles Coliseum.

Bruno Kaufmann, Präsident von iri europe, der Schwarzenegger und Kalifornien gut kennt und eine Denkfabrik für direkt Demokratie leitet, glaubt, dass es nötig sein wird, die Entscheidungsstrukturen der parlamenarischen wie auch direkten Demokratie in Kalifornien zu überprüfen, um die Regierungsunfähigkeit der volkswirtschafltich bedeutsamen Bundesstaates der Vereinigten Staaten von Amerika zu verhindern. Er würde sich freuen, wenn seine Organisation nächstes Jahre den ersten Weltkongress für direkte Demokratie in den US durchführen könnte, um mitzuhelfen, alle Möglichkeiten der Institutionenreform auszuloten.

Claude Longchamp

Die unvernünftige Vernunft

Die Krise auf den Finanzmärkte zwingt Investoren zu Lernprozessen und die Wirtschaftswissenschaft zur Hinterfragung ihrer Entscheidungstheorien. Das täte beispielsweise auch der Wahlforschung gut, die im Schwang der unkritischen Gedankenlosigkeit mitgegangen ist.

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Daniel Kahneman, Professor für Psychologie an der Princeton Universität, 2002 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet.

“Die weitaus schwächste Aktie der Welt ist jene der Logik AG, denn ihre Gesetze werden von der Börse nie verfolgt”, wetterte einst der Börsenguru André Kostolany. Mehr als der Vernunft folge die Börse der Erwartung, und in die mische sich der Herdentrieb.

Daniel Kahneman, der israelisch-amerikanische Psychologe, der 2002 als Nicht-Fachmann den Wirtschaftsnobelpreis erhielt, hat sich solchen Fragen angenommen und den rational handelnden Akteur, von dem die Oekonomie so gerne ausgeht, durch ein psychologisch determiniertes Subjekt ersetzt.

Ausgangspunkt von Kahnemans Ueberlegungen ist, dass sich die meisten Menschen für gute Autolenker halten, ihr Handeln rationalisieren und sich so überschätzen. Bei Männern kommt das typischerweise mehr vor als bei Frauen.

Das trifft auch auf Investoren zu. Zu deren grossen Fehlern gehört die Ueberreaktion im Moment. Kurzfristiger Aktivismus sei, sagt Dahneman, gerade in Zeiten der Unsicherheit, kein guter Ratgeber. Denn er wird durch Angst und Ueberreaktion bestimmt. Diese wiederum seine nicht unerheblich, weil soziale Ansteckung die Börse reagiere, wie der Herdentrieb in der Wissenschaft genannt wird.

Institutionelle Anleger sind, so die Forschung, von diesen Probleme etwas weniger befallen als private. Das hat mit ihrem gegenüber privaten Anlegern erhöht strategischen Verhalten zu tun, müssen sie doch ihre Entscheidung stärker begründen, und sind sie, wegen der Ausdrücklichkeit und Schriftlichkeit von Entscheidungen, kritisierbarer. Damit wächst die Chance von effektiven Lernprozessen statt nachträglichen Rationalisierungen.

Diese Einsicht in der empirischen Wirtschaftsforschung ist so gut, dass man sie auch in der Wahlforschung anwenden sollte. Denn da hat (dank dem Herdentrieb?) der rational-choice-Ansatz zwischenzeitlich eine zentrale Stellung inne. Unverkennbar sind seine Verdienste bei der Analyse individualistischer Entscheidungen; problematisch ist aber, wenn das tel quel mit vernünftigem Entscheiden gleichgesetzt wird, handelt es sich doch nicht um nicht mehr als wissenschaftliche Rationalisierungen.

Claude Longchamp

Hochrechnungen zum Abstimmungssonntag

17. Mai 2009. Abstimmungstag. Die Volksentscheidungen über die Biometrischen Pässe und die Komplementärmedizin werden gefällt. Ein Bericht in Raten, wie ich die von unserem Institut gfs.bern geleitete Verarbeitung der Abstimmungsergebnisse erlebte.

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11 00
Im Studio ist die Zeit des Probens. Die Schminke ist auch schon gesetzt. Jetzt kommen die ersten Ergebnisse. Gemeinden, die um 10 Uhr die letzte Urne schliesslich, melden ihre Resultate. Unser Telefonteam ist im vollen Einsatz. Und das Analyseteam verfolgt die news-Lage interessiert.

11 30
Gespannte Ruhe. Eigentliche Prognosen wagt niemand. Nur über das Wetter wird gelästert. Einen sonningen Tage im Freien, das wünschen sich hier die meisten, die im Dienst sind. Von Westen her drohe ein Gewitter, wirft jemand ein. Man ärgere sich nicht zu früh, heisst es. Ob das politisch gemeint sei, fragt die Redaktion sicherheitshalber nach. Wie gesagt, für Prognosen ist es nicht der Moment.

12 35
Die Komplementärmedizin wird gemäss Trendrechung klar angenommen. Bei der Biometrie ist alles offen; eine Trendaussage in die eine oder andere Richtung ist nicht möglich.
Das bestätigen auch die Kantonsergebnisse, die schon vorliegen. Glarus sagt zur Biometrie nein, mit 5 Stimmen Differenz. Derweil sind die vorliegenden vorläufigen Kantonsergebnisse in der Romandie eher im Nein, in der deutschsprachigen Schweiz nicht ganz einheitlich, aber ganz knapp mehrheitlich im Ja.

13 10
Die Komplementärmedizin ist angenommen. Gemäss Hochrechnung sind 67 Prozent dafür. In der Extrapolation der Gemeindeergebnisse erscheinen auch alle Kantone auf der Ja-Seite. Das doppelte Mehr ist hier ausser Zweifel.
Bei den biometischen Pässen zeichnet sich ein ganz knappes Ergebnis ab. Eine Hochrechnung liegt noch nicht vor, und die Trendrechnung ist zu nahe bei 50 Prozent um die Richtung anzugeben.

13 45
In der Tat, die Hochrechnung zu den Biometrischen Pässen gibt gerundet 50:50. Die Differenz aufgrund der vorläufigen Extrapolation ist so gering, dass keine weiterreichenden Schlüsse gemacht werden können. Bei der Beteiligung zeichnet sich ein tiefer Teilnahmewert ab. Er wird unter 40 Prozent liegen.

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Knapp, knapp, knapp, so knapp wie seit 7 Jahren nicht mehr! Damals ging es um die SVP-Asylinitiative. Den Ausschlag gaben die AuslandschweizerInnen, welche die Vorlage kippten. Es brauchte aber eine Nachzählung, bis das Resultat klar war.
Momentan weiss man nicht, ob das alles auch hier auf uns zukommt.

15 15
Es ist entschieden: Die Hochrechnung von 14 50 gab 50,1 Ja zu den Biometrischen Pässen, das vorläufig amtliche Endergebnis von 1505 weist einen Ja-Wert von 50,14 Prozent aus. In Stimmen sind das gut 5508 an Differenz.
Die Stimmbeteiligung liegt bei hochgerechneten 37 Prozent.

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Die kleine Pause war verdient. Ein Stück Käsekuchen und ein Orange-Jus. Doch wird sind mit dem Zeitplan im Verzug, wegen dem knappen Ja zur Biometrie.
Jetzt geht die Analyse los: 38 Prozent effektive Beteiligung sind nicht nur wenig, sondern auch unterdurchschnittlich für schweizerische Volksabstimmungen. Das ist so etwas wie die “Basis-Mobilisierung +”. Die BefürworterInnen erhielten die Unterstützung von den praktisch sicheren Teilnehmenden. Die GegnerInnen haben darüber hinaus wohl ein wenig zusätzlich mobilisieren können. Dafür spricht, dass die Beteiligung in der Romandie etwas mehr ist, als der Sockelwert erwarten lässt, und dort die Biometrischen Pässe etwas verstärkt umstritten waren.

Räumliche Verteilung von Zustimmung Ablehnung bei Komplementärmedizin (links) und Biometrischen Pässen (rechts)
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Quelle: BfS

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Die Erstanalyse der Komplementärmedizin gibt eine klare Abweichung. Sie betrifft die Gebiete mit einer überdurchschnittlichen SVP-Stärke. Sie sind die einzigen, die statistisch signifikant weniger stark zugestimmt haben. Die Effekte werden vor allem in der deutschsprachigen Schweiz sichtbar, kaum aber in der Romandie.
Die parteipolitische Aufladung gesundheitspolitischer Vorlagen ist und bleibt aber schwierig. Parteipolitische Opposition wird maximal von den treuen Parteianhängerschaften verstanden, strahlen aber kaum darüber hinaus. Die Basis der Grünen, der SP, der CVP und der FDP will, dass die Komplementärmedizin wieder in die Grundsversicherung aufgenommen wird.

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Auch zu den Biometrischen Pässen liegt die Erstanalyse vor. Wo die CVP, genereller auch die Mitte-Wählenden überdurchschnittlich stark vertreten, stimmt man eher zu. Das gilt exemplarisch für den Kanton Luzern, der am klarsten von allen Ja sagte. Auf der anderen Seite zeigt sich die verstärkte Ablehnung durch die Regionen, in denen insbesondere rot-grün verstärkt gewählt wird. Hier war das Nein über dem Mitteln. Nur sehr beschränkt kann das auch für Regionen mit SVP-Dominanz gesagt werden.
Von den generellen Konfliktmuster schlägt aber nur das zur Sprache systematisch an. Alles andere bleibt zurück.
Das Ja zu den biometrischen Pässen stammt demnach aus dem politischen Zentrum, das kräftig in den Schwitzkasten genommen wurde. Da das von verschiedener politischer Seite, ergibt die Nein-Karte ein neuartiges Patchwork. .
Der politische Druck kam von aussen auf das Parlament. Dieses tut gut daran, ihre diesbezüglichen Modernisierungsvorhaben nicht nur juristisch und technisch zu beurteilen, sondern auch politisch zu gewichten.

18 00
Was bleibt von diesem Abstimmungssonntag? Sicher das knappe Ja zu den Biometrischen Pässen, dann die klare Sache bei der Komplementärmedizin. Und schliesslich die auch für die Schweiz tiefe Beteiligung.
Die Debatten waren diesmal weniger durch Konfrontation, Emotion und Werbemitteleinsatz geprägt. Vielmehr berichteten Zeitungen und Internetseiten über das Pro- und Kontra. Das Wesentliche war dann irgendwann gesagt, sodass die Kampagnen am Schluss förmlich aufliefen. Die Entscheidungen dürften vielmehr aus den Lebenswelten heraus getroffen worden sein, und sind denn auch politisch nicht eindeutig zu fassen.
Das Zentrum hat sich heute zweimal durchgesetzt. Die Linke hat einmal gewonnen, einmal verloren. Die SVP unterlag mit ihren zwei Nein-Parolen zwei Mal.

19 00
Ich sitze im Zug nach Bern. In Olten ziehen von Westen her dicke Regenwolken auf. Die Prognose lag goldrichtig.

Nachtrag Montag morgen
Unsere Hochrechnung zum Kanton Zürich ergab schnell 51,8 Prozent Ja. Jene auf der Website des Kantons zeigte dagegen 54,7. Hätten wir jene des Kantons übernommen, wären wir von Beginn weg bei rund 50,5 Prozent Ja für die eigenössische Hochrechnung gewesen. Die Trendaussage hätte aber auf einem tendenziellen Irrtum basiert. Denn der Kanton Zürich lag am Schluss effektiv bei 52,0 Prozent Ja.

Claude Longchamp

frühere Live-Blogs zu Abstimmungshochrechnungen

Meine Top Ten Buchliste zur politischen Kommunikation bei Wahlen

Et voilà: Einige meiner aktuellen Favoriten zur politischen Kommunikation im Zusammenhang mit Wahlen!

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• Lilleker, Darren: Key Concepts in Political Communication. Verlag: Sage Publications, Beverly Hills 2006, 224 Seiten.
Das Buch ist eine systematische und leicht zugängliche Einführung in 50 Kernkonzepte, Strukturen und die professionelle Praxis der politischen Kommunikation. Systematisch beleuchtet der Autor in einer detaillierten Analyse sowohl praktische als auch theoretische Themengebiete der Materie.

• PR-Kampagnen. Über die Inszenierung von Öffentlichkeit, herausgegen von Röttger, Ulrike, Verlag: VS, Wiesbaden 2008, 380 Seiten.
Ulrike Röttgers Buch gilt als Standardwerk des erfolgreichen Campaignings. Unternehmenskampagnen, Wahlkampagnen, Sozialkampagnen: Namhafte und kompetente Autoren beleuchten alle Formen der öffentlichkeitswirksamen PR. Weiterer Pluspunkt der Untersuchung sind die lesenswerten Fallstudien zu aktuellen Kampagnen.

Lau, Richard R., Redlawsk, David P.: How Voters Decide. Information Processing in Election Campaigns, Verlag: Cambridge University Press, Cambridge 2006.
Die Autoren analysieren die vier primären Entscheidungsstrategien bei der Wahl eines erfolgversprechenden Kandidaten. Mit einer neuartigen Experimentiermethode untersuchen die Forscher individuelle und kampagnenbezogene Faktoren, die den Wähler bei der Wahl einer Entscheidungsstrategie beeinflussen.

• Brader, Ted: Campaigning for Hearts and Minds. Verlag: University of Chicago Press, Chicago 2006, 280 Seiten.

Emotionale Elemente eines Wahlkampfs erzeugen unterschiedliche Effekte in der Bevölkerung. Gerade die mediale Inszenierung der Kandidaten zielt aufs Herz des Wählers. Mit Umfragen und Experimenten nähert sich der Autor dem noch wenig erforschten Phänomen und liefert die erste umfassende wissenschaftliche Studie über den emotionalen Aspekt der Stimmabgabe.

Trent, Judith S., Friedberg, Robert V.: Political Campaign Communication. Principles and Practices, Verlag: Rowman & Littlefield, Lanham 2007, 448 Seiten

Die aktualisierte Ausgabe dieses Klassikers analysiert nicht nur die US-Wahlkämpfe aus den Jahren 1996 bis 2006. Trent und Friedberg berücksichtigen zusätzlich das Anfangsstadium des Wahlkampfs 2008. Ein neues Kapitel beschäftigt sich mit dem Internet, das gerade im amerikanischen Wahlkampf eine zentrale Rolle spielt.

• Podschuweit, Nicole: Wirkung von Wahlwerbung. Verlag: Reinhard Fischer, München 2007, 182 Seiten.

Wahlwerbung wirkt – wie genau, ist bis jetzt jedoch kaum erforscht. Anhand von Werbetrackingdaten analysiert die Autorin, wie die Bevölkerung im Bundestagswahlkampf 2002 Parteienwerbung wahrgenommen hat. Sie untersucht, wie Wahlwerbung sich in die Erinnerung einprägt, die Aufmerksamkeit erregt, die Entscheidung beeinflusst und verarbeitet wird.

Green, Donald P., Gerber, Alan S.: Get out the Vote! How to Increase Voter Turnout!, Verlag: Brookings Institution Press, Washington DC 2008.

Der Klassiker der Schlussmobilisierung: Wissenschaftliche Methoden und praxisorientierte Darstellung geben einen detaillierten Überblick der gängigen Methoden von Tür-zu-Tür-Wahlkampf bis Telefonaktionen – und bewerten klar den Wirkungsgrad der Techniken.

Pumarlo, Jim: Votes and Quotes. A Guide to Outstanding Election Campaign Coverage. Verlag: Marion Street Press, Chicago 2007, 160 Seiten.
Gute Wahlkampfberichterstattung will vor, während und nach der Kampagne koordiniert sein. Jim Pumarlo zeigt auf, in welcher Weise die Medien für Wahlkampfzwecke nutzbar gemacht werden können. Außerdem beschreibt er, wie die Meinung des Lesers durch die Wahlberichterstattung beeinflusst wird und sich dann im Wahlverhalten niederschlägt.

Perlmutter, David D.: Blogwars. The New Political Background. Verlag: Oxford University Press, Oxford 2008, 272 Seiten.

Perlmutter untersucht die rasant wachsende Rolle des Internets am Beispiel populärer Blogs und zeigt, warum vom Präsidenten bis zum Berater immer mehr Politiker auf das neue Kommunikationsmedium zurückgreifen. „Blogwars“ ist die erste vollständige Untersuchung über die neue kontroverse Kraft der Blogs in der Politiklandschaft.

• Balsiger, Mark, Roth, Hubert: Wahlkampf in der Schweiz. Ein Handbuch für Kandidierende, Bern 2007

«Wahlkampf in der Schweiz» ist eine Analyse, die auf einer Befragung von mehr als 1400 Kandidierenden basiert. Sie leitet daraus praktische Tipps ab, für Fragen wie: Welche Strategien sind im Wahlkampf erfolgreich? Was ist bei einer Kampagne zu beachten? Lohnt sich ein eigener Internet-Auftritt?

Mehr als nur Verstärkerwirkungen möglich

Welche Rolle spielt die politische Information bei Wahlentscheidungen? Eine vermehrt eigenständige und zunehmend massenmedial bestimmte, sagt der Mannheimer Politikwissenschafter Rüdiger Schmitt-Beck.

Klassisch wird die aufgewordene Frage durch die Forschungsergebnisse beantwortet, welche die amerikanischen Columbia-School im Gefolge von Paul Lazarsfeld beginnend in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts erarbeitet hatte. Medien als den wichtigsten Verbreitern von Informtion kommt dabei vor allem eine Verstärkerwirkung bestehender Prädispositionen der Menschen zu.

Differenzierter fallen die Schlüsse aus, wenn man der Habilitationsschrift von Rüdiger Schmitt-Beck folgt, die sich auf Sekundäranalysen von Wahlbefragungen in den USA, Grossbritannien, Spanien sowie West- und Ostdeutschland aus den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts stützt.

Politischen Prädispositionen der WählerInnen, kollektiv auch Grundlinien einer Entscheidung genannt, mischen sich in Entscheidungen mit Informationen, welche Wahlergebnisse oszillieren lassen. Das ist auch bei Schmitt-Beck der Ausgangspunkt. Als Einfluss von Information wird dabei jener Effekt definiert, der WählerInnen Entscheidungen treffen lässt, die sie ohne diese Informationen nicht gefällt hätten.

Die empirischen Ergebnisse, die Schmitt-Beck hierzu präsentiert, sind zunächst nicht unabhängig von der untersuchten Wahl resp. von ihrem Kontext: Personenwahlen wie die amerikanischen Präsidentschaftswahlen sind stärker informationsabhängig als Parteiwahlen; das gilt auch für Parteiwahlen in jungen gegenüber etablierten Demokratien. Schliesslich findet sich das Phänomen auch dort vermehrt, wo politische Entscheidungen von gesellschaftlichen Konfliktlinien unabhängiger, sprich individualisierter, ausfallen.

Unter den Prädisposition geht die Bedeutung der Schicht zurück, während Werthaltungen bei Wahlen wichtig bleiben, meist aber von Parteibindung überlagert werden. Informationen wiederum treffen auf zwei verschiedenen Wegen auf Parteibindungen: einerseits massenmedial resp. anderseits durch interpersonale Kommunikation. Dabei kommt dem Fernsehen generell die grösste Bedeutung zu, weil es ubiquitär verbreitet ist, während sich in der Nutzung von Printmedien und damit ihrer Bedeutung als Informationsquellen kulturell bestimmte Unterschiede finden. Das gilt auch für die Verbreitung von Gesprächen zur Informationsgewinnung, die zusätzlich durch den Grad der Politisierung von Wahlen beeinflusst sind.

Je pluralistischer ein Mediensystem ist, desto geringer fallen die erwarteten Medieneinflüsse aus. Konzentrationen im Mediensystem erhöhen diese jedoch ebenso wie die Abhängigkeit der Medien von politischen Akteuren. Hinzu kommt, dass moderat einseitige Berichterstattungen beeinflusender sind, als neutrale und klar gerichtete, weil letztere zu eigentlichen Gegenreaktionen unter den RezipientInnen führen.

Das Fernsehen trifft wegen seiner zentralen Stellung per definitionem auf vermehrt diskordante Prädispositionen. Gerichtete Printmedien in einem pluralistischen Mediensystem führen dagegen dazu, dass sich die WählerInnen jenen Medien zuwenden, von denen sie eine höhere Uebereinstimmung mit den eigenen Positionen erwarten. Das gilt ganz besonders auch für Primärbeziehungen wie Ehepartner, Verwandte und FreundInnen, weniger aber für Sekundärnetze wie Arbeitskolleginnen.

Informationen aus Kanälen, die Konkordanz mit den Prädispositionen versprechen, aktivieren diese in erster Linie. Sie verstärken damit die Grundlinie. Zu Konversionen kommt es vor allem dann, wenn diskordante Informationen aufgenommen und akzeptiert werden. Hierbei ist jedoch die Glaubwürdigkeit der Absender massgeblich. Dabei ist das Vertrauen meist wichtiger als die Kompetenz. Ist das Vertrauen von Absendern gegeben, können diskordante Informationen durch Prädispositionen überlagern oder verändern, sodass die Wahlergebnisse zu oszillieren beginnen. Das ist namentlich beim Fernsehen der Fall.

Insgesamt weichen die Ergebnisse, die Schmitt-Beck präsentiert, nicht fundamental von jenen der wahlbezogenen Kommunikationsforschung der amerikanischen Columbia-School ab. Doch reduziert der deutsche Politikwissenschafter angesichts verschiedenartiger Befunde die bisher übliche Beschränkung der Medienwirkung auf die übliche Verstärkerrolle. Ës kann auch zu einer Umkehr der Verhältnisse kommen, hält er in seiner Bilanz fest. Zahlreiche Fenster der Beeinflussung von Prädispositionen durch Informationen, sei dies bei parteiungebundenen BürgerInnen oder Wahlen, in denen Personen wichtiger sind als Parteien, werden angesichts der steigenden Durchdringung von Wahlkämpfen durch Massenmedien geöffnet.

Claude Longchamp