Die neue Form der Referendumsfähigkeit in der Schweiz

Dass die Gewerkschaften referendumsfähig sind, ist keine Ueberraschung. Sie haben es bei der 11. AHV-Revision bewiesen. Dass nun auch der K-Tipp auf dem Weg hierzu ist, kann als symptomatische Neuerung in der politischen Mobilisierung in der Schweiz gesehen werden. Selbst die Politikwissenschaft wird mit ihren gängigen Vorstellungen der politischen Mobilisierung umdenken müssen.

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In der schweizerischen Referendumsdemokratie ist die Fähigkeit, innert 100 Tagen 50’000 Unterschriften zusammen zu bringen, ein wesentliches Kriterium der Konfliktfähigkeit einer Organisation. Wenn diese darüber hinaus beweisen kann, dass sie auch eine Abstimmungskampagne so erfolgreich führen kann, dass das dabei ein Volksmehr resultiert, bezeichnet man einen Akteur als referendumsfähig.

Die Parteien der Schweiz sind das in beschränkter Hinsicht. In Verbindung mit mitgliederstarken Organisationen, die ihnen nahestehen, gelten aber fast alle grösseren politischen Parteien als referendumsfähig. Bei den Grünen machen die Umweltorganisationen die Differenz aus, bei der SP die Gewerkschaften, bei CVP und FDP der Gewerbeverband, bei der SVP zusätzlich die Jungpartei und die AUNS.

Neueren Datums ist, dass nun auch Zeitschriften Referenden lancieren. Das war beispielsweise beim BVG-Umwandlungssatz, den das Parlament beschloss, der K-Tipp, unterstützt von Saldo und Bon à savoir. Auf diese Initiative hin wurde die Unia bei der Unterschriftensammlung aktiv, und es folgten mit etwas Abstand, die PdA, die Grünen und die SP.

Von der rekordverdächtigen Zahl von 205’000 Unterschriften gegen den vom Parlament beschlossenen teiferen Umwandlungssatz sammelt der K-Tipp einen Drittel. Das sind annähernd 70’000 gültige Signaturen. Das alleine hätte gereicht, um die Vorlagen zwingend zur Abstimmung zu bringen.

Der K-Tipp ist damit jedoch noch nicht zwingend referendumsfähig. Aber er ist auf dem besten Weg dahin. Die erste Hürde hat er genommen. Die zweite, die Kampagne, wird er ohne Zweifel auch nehmen, gehört doch die journalistische Kampagne zum Kerngeschäft der Zeitschrift. Die dritten und letzte Stufe steht aber noch aus; die Volksabstimmung über den BVG-Umwandlungssatz wird zeigen, ob der K-Tipp effektive vollumfänglich referendumsfähig wird oder nicht.

Wenn dem dereinst so ist, muss man die klassisch politikwissenschaftliche Denkweise im Zeitalter der Mediengesellschaft umkehren. Demnach sind die Parteien Zentralen der politischen Aktion, die sich auf Verbände als Massenorganisationen stützen, und Massenmedien als Instrumente der Kommunikation einsetzen. Die neue Formel lautete vielmehr: Fachzeitschriften sind die zentralen politischen Akteure, die verwandte Interessenorganisation mobilisieren können und so politische Parteien zum Mitmachen bewegen.

Claude Longchamp

Wahlprognosen: eben doch kein Kinderspiel!

Die Meldung schlug ein: Wahlprognosen erstellen, sei ein Kinderspiel. Denn Wahlentscheidungen würden in hohem Masse aufgrund von Personenimages gefällt. Und folgten so erschliessbaren Stereotypen, die sich bereits im Kindesalter ausbildeten. Jetzt hat die Prognose der Härtetest in der Schweiz nicht bestanden.

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Roland Debély, Bisheriger in der Neuenburger Regierung, vermittelt visuell Führungswillen, blieb aber wegen seiner Gesundheitsreform nicht unumstritten. Leadership-Prognosen sind eben keine Wahlprognosen, wie das Beispiel zeigt.

Auslöser der Nachricht war ein Forschungsprojekt von John Antonakis, Professor für Management am HEC der Universität Lausanne. Folgerungen zu einer neuen Beratungspraxis bis hin zur wissenschaftlich begründeten Kinderwahlrecht schossen bereits ins Kraut.

Antonakis, der Spezialist für Leadership, machte nun bei den Neuenburger Staatsratswahlen von diesem Wochenende die Probe aufs Exempel. Er liess Genfer Kinder im Alter von 10-12 Jahren die 30 KandidatInnen für einen Sitz in der Kantonsregierung bewerten. Gefragt wurde, wem man zutraue, Kapitän auf einem Schiff im Mittelmeer zu werden. Die bisherigen erhielten über der Wahlfoto symbolisch eine Mütze, die sie auszeichnete, die anderen traten unverändert an.

Das Ergebnis fiel ausgesprochen ernüchternd aus. Zwei der fünf bestplatzierten wurden von Kindern erkannt. Die drei anderen Favoriten der SchülerInnen fielen in der ersten Runde der Volkswahl teilweise hochkannt durch.

Das hängt auch mit der Uebungsanlage zusammen: PolitikerInnen müssten nicht nur Leadership vermitteln. Sie müssen auch im richtigen Moment für die richtige Partei mit den richtigen Forderungen in Erscheinung treten. Und Politikerinnen kommen zwischenzeitlich in Frage, selbst, wenn sie in unseren Kapitänsbildern fehlen.

Krass ist der Prognosefehler im Experiment bei Roland Debély. Der Gesundheitsdirektor schnitt bei den Kindern am besten ab. Er wurde gestern demonstrativ nicht wiedergewählt. Auf der Liste der FDP belegte er den letzten Platz unter fünf Kandidaten.

Die Begründungen, die man seit gestern für das schlechte Abschneiden hörte, stehen der Hypothese des Experimentes diametral gegenüber. Der 61jährige bürgerliche Politiker aus Cernier tritt zwar medial gekonnt auf. Seine Gesundheitspolitik in den letzten vier Jahren ist den NeuenburgerInnen aber nicht entgangen, und sie wurde am Wochenende quittiert!

John Antanakis verteidigte am Sonntag abend in einer ersten Stellungnahme seine Annahmen. Sie hätten sich in Frankreich bewährt. In der Schweiz werde es einige Relativierungen geben, fügte er bei. Die Kleinheit der Verhältnisse führe möglicherweise zum einem anderen Verhalten.

Das ist das Mindeste, was man sagen kann, füge ich bei. Denn aus meiner Sicht belegten die Neuenburger Staatsratswahlen, dass es nicht möglich ist, PolitikerInnen aus der Image-Retorte zu sein. PolitikerInnen sind in erster Linie VertreterInnen von Parteien, Regionen, Interessen und gesellschaftlichen Gruppen. Mit all ihren Stärken und Schwächen!

Mein erster Schluss: Die Kriterien der Identifikation, die so entstehen, entsprechen nicht einfach dem, was man im Management von wirtschaftlichen Organisation für wichtig hält.

Und mein zweiter: Zum Eignungsverfahren von Kapitänen äussere ich mich als Politikwissenschafter lieber nicht!

Claude Longchamp

Neuenburg: Linke baut Mehrheit im Parlament aus.

Neuenburg war seit Frühling 2005 der einzige Schweizer Kanton mit einer linken Mehrheit in Parlament und Regierung. Mit den heutigen Wahlen bleibt das im Parlament jedenfalls auch in den nächsten vier Jahren so. Die Linksparteien (SP, Grüne und KommunisteInnen) bauten heute ihren knappen Vorsprung von 1 auf 5 Sitze aus. In der Regierung müssen alle KandidatInnen in einen zweiten Wahlgang. Die Mehrheitsverhältnisse hängen hier von den Allianzen ab.

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Jean Studer, SP, bisheriger Staatsrat und bestgewählter Kandidat im 1. Umgang bei den Neuenburger Kantonsratswahlen.

Die bisher grösste Partei im Kanton Neuenburg, die SP, verliert bei den heutigen Parlamentswahlen. Sie wird 5 ihrer 41 Mandate einbüssen. Neu grösste Partei ist die vereinigte bürgerlichen liberal-radikale Partei, die aus FDP und LP hervorgegangen ist. Sie kann 1 Mandat zulegen und ist jetzt mit 41 Sitzen im Neuenburger Kantonsrat vertreten.

Dennoch gelang die angestrebte bürgerlichen Wende im Kanton Neuenburg nicht. Denn die SVP verliert 3 ihrer 17 Mandate. Neu kommt sie auf 14 Sitze. Je 4 Sitzgewinne gibt es für die Grünen (neu 14 Mandate) und die kommunistischen Popisten (neu 10 Mandate). Die linke Solidarité verliert ihren einzigen Sitz.

Die Linksparteien verfügen damit über 60 Sitze im Neuenburger Parlament. Die Rechte bringt es auf 55. Die knappen Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Linken sind damit seit heute abend etwas deutlicher geworden, als sie es die letzten vier Jahre waren.

Da im ersten Wahlgang zur Zusammensetzung der neuenburger Regierung niemand das absolute Mehr schaffte, muss die Ballotage am 26. April 2009 entscheiden. Gegenwärtig liegen zwei SP-VertreterInnen vor drei Liberal-Radikalen.

Massgeblich beeinflusst werden dürfte der Ausgang durch die Wahlverbindungen: In einer Kampfwahl sind sowohl die SP wie auch die FDP auf Allianzen im eigenen Lager angewiesen, um die Mehrheit zu erreichen.

Die SP braucht die siegreichen Grünen, deren Kandidat, Bau-und Umweltdirektor Fernand Cuche, allerdings ein schlechtes persönliches Ergebnis einfuhr und hinter dem dritten SP-Kandidaten liegt. Die Liberal-Radikalen wiederum sind auf die SVP angewiesen, um eine rechte Mehrheit zu sichern, obwohl alle ihre 5 Bewerbungen vor dem bestgewählten SVP-Kandidaten liegen.

Eine Variante hierzu ist eine stille Wahl, auf die sich SP und FDP einigen könnten, wobei die Mehrheit im Parlament über die Verteilung des 5. Sitzes im Staatsrat entscheiden würde. Dabei dürfte die FDP ihre Hausmacht im Kantonsparlament in die Waagschale werden, die SP die bestätigte linke Mehrheit. Beide müssen aber verhindern können, dass Grüne und SVP wieder antreten.

Claude Longchamp

Aber, aber, Philipp Müller!

Sehr geerhter Herr Nationalrat Müller

gemäss “Sonntag” wollen sie “vorzeitige Neuwahlen. Am liebsten schon morgen”. Denn Parlament und Regierung der Schweiz sollten neu bestellt werden, da ihre Politik angesichts der Polarisierung festgefahren sei. Um es gerade heraus zu sagen: über den Befund könnte man diskutieren, über den Vorschlag nicht

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FDP-Leuchtturm Philipp Müller will mehr Politik aus dem Bauch heraus, zum Beispiel mit Parlamentswahlen, die jederzeit möglich sein sollten.

Ich nehme an, Sie kennen die Bundesverfassung. Art. 145 lautet: “Die Mitglieder des Nationalrates und des Bundesrates sowie die Bundeskanzlerin oder der Bundeskanzler werden auf die Dauer von vier Jahren gewählt.” Das ist im aktuellen Fall, der auch für Sie als Nationalrat gilt, bis Oktober 2011.

Sie wollten sich der aufgeworfenen Sache mit einer parlamentarischen Initiative annehmen, schieben sie nach. Schön, sag ich da. Bis die behandelt und entschieden ist, braucht es aber seine Zeit. Und dann müsste eine Verfassungsänderung auch noch vors Volk und die Kantone, und bräuchte erst noch das doppelte Mehr. Das geht wohl noch länger.

Herr Müller, ich schätze Ihre Art, die Sachen, die sie bewegen wollen, gerade heraus zu benennen. Ich bin nicht immer Ihrer Meinung, aber bei Ihnen weiss ich normalerweise, woran man ist. Doch diesmal scheinen Sie, nach ein paar guten Auftritten in der Sonntagspresse der Versuchung erliegen zu sein, erneut das Wort zu Sonntag haben zu können.

Was würde geschehen, wenn wir schon wieder wählen würden? Die kantonalen Wahlen zeigen ein leichtes Plus für die SVP und für die Grünen an. Sitze verlieren würden wohl SP und ihre FDP. Bei der CVP dürfte eine gemischte Bilanz resultieren. Gestärkt würden aber aller Voraussicht nach die BDP und die Grünliberalen.

Die von ihnen beklagte Polarisierung wäre damit nicht geringer. Hinzu käme mit den gestärkten Kleinparteien eine erhöhte Fragmentierung der politischen Landschaft. Ob damit in der Volksvertretung eine klarer Wille zum Ausdruck käme als jetzt, darf bezweifelt werden.

Die Schweiz hat sich, gerade unter freisinniger Führung, politische Institutionen gegeben, die auf Stabilität ausgerichtet sind. Deshalb haben Bundesräte, Nationalräte, Ständeräte und die Spitzen der Bundeskanzlei feste Amtszeiten. Der Grund hierfür ist einfach: Wir haben gleichzeitig eine Verfassung, die man recht flexibel ändern kann. Die totale Flexibilisierung des Staates, wie sie es wollen, müsste zwangsläufig zur opportunistischen Instabilität führen.

Besteht dennoch ein Handlungsbedarf in kürzeren Zeitintervallen, ist politische Führung angesagt. Diese besteht eben nicht, wie das heute so üblich geworden ist, in der eigenen Position, verstärkt durch einen Partner, sondern in der Regel aus drei der grösseren Regierungsparteien. SVP, FDP und CVP rechnet sich, SP, CVP und FDP meist auch. Ihre Partei hätte es also in der Hand, mit der CVP die Zentrumsbrücke der Schweizer Politik zu bilden, und mit jeweils einer der Polparteien eine sachlibezogene Allianz einzugehen.

Die Spekulation, dass man die Schweiz mit einer SVP/FDP-Mehrheit regieren könne, die 2003 aufkam, ist das Problem. Die aktuelle Krise verweist darauf, dass rechte und liberale Politiken zwar materiellen Wohlstand für bestimmte Gruppen bringen, gesellschaftspolitisch aber Gräben in der Europafragen, bei den Sozialwerken und im Verhältnis der Landesteile aufwerfen. Deshalb funktioniert diese Politik weder im Parlament richtig, noch hat sie sich in der grossstädtischen Politik als Alternative zur Konkordanz erwiesen. Herr Leuchtturm, Ihr eigener Parteiräsident, Fulvio Pelli, hat das diese Woche mit aller Deutlichkeit gesagt.

Das einzige Argument, das in dieser Logik für Neuwahlen sprechen würde, dürfte Ihnen nicht behagen: Es wäre die personelle und parteipolitischen Erneuerung des Bundesrates, und zwar im Sinne der Angleichung stabiler Mehrheiten in der Regierung an die, die im Parlament möglich sind. Das kann man auch ohne lange Staatsreformen einleiten.

Sie behaupten, ihre Forderung sei ein uraltes Anliegen der FDP. Ich widerspreche Ihnen. Uralt ist am Freisinn, dass er sich für vernünftige Sachen in der Schweiz eingesetzt hat. Politisch “uralt” sehen dagegen die aus, die solchen Unsinn, wie Sie heute, in die Welt setzen.

Weiterhin schönen “Sonntag”, wünscht Ihnen

Claude Longchamp

Historischer Moment für die Weltwirtschaft – und für die Schweiz?

Gastgeber, Grossbritanniens Ministerpräsident Gordon Brown, sprach am G-20-Gipfel vom Durchbruch zur neuen Weltordnung. Die meisten Kommentatoren waren sich einig, einen historischen Moment erlebt zu haben, selbst wenn in einzelnen Ländern wie der Schweiz die Ernüchterung überwiegt. Was wird unser Land für Schlüsse daraus ziehen?

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Botschaft aus London an die Schweiz: Aus der Isolation herausfinden, in die das Land mit dem Bankgeheimnis geraten ist. (Quelle: Chapatte/LeTemps)

Vier Massnahmen beschloss der mit Spannung erwartete Gipfel der mächtigsten Staaten und Organisationen in London, welche die neue Weltordnung begründen sollen: ein gigantisches finanzielles Stützungsprogramm in der Höhe von 1,1 Billionen Franken, das Ende des Bankgeheimnisses, Auflagen für Bonuszahlungen in Banken und Versicherungen und strengere Kontrolle für Hedge-Fonds und Rating-Agenturen.

Stabilität, Wachstum und Arbeit verspricht man sich durch die Massnahmen. Erwartet wird, dass man damit die globale Wirtschaftskrise mildern kann, vor allem aber, dass man eine Wiederholung der Ursachen für die aktuelle Weltwirtschaftskrise inskünftig verhindert kann.

Allgemein wurde der Gipfel als Erfolg gewertet. Die zentralen Industrienationen und Schwellenländer zeigten einen ausgleichenden Handlungswillen, der den Protest auf der Strasse beschränkte. Denn mit der neuen Weltordnung soll die Entwicklung der Weltwirtschaft in berechenbare Bahnen gelenkt werden. Nach den Erfahrungen der letzten Monate ist das letztlich zum Wohle aller, wenn auch im Einzelfall mit Nachteilen verbunden.

Entsprechend fällt die Bewertung in der Schweiz aus. Ihr gelang es nicht, sich unter die Mitglieder der G-20 einzureihen und die Themen resp. Inhalte mitzuentscheiden. Vielmehr fand sie sich wegen ihrer Steuerpolitik in der Isolation. Die Schwarze Liste der Steueroasen konnte zwar abgewendet werden, weil die Schweiz die bisherigen Vorbehalte gegen die OECD-Richtlinien zum Bankgeheimnis aufgab. Dennoch bleibt der Druck, symbolisch mit der Präsenz auf der grauen Liste, bestehen, da man nicht rechtzeitig 12 Doppelbesteuerungsabkommen vorweisen konnte, die den Tatwillen zur Umsetzung belegen. Daran wird die nationale Politik rasch arbeiten müssen, um aus der Defensive heraus zu kommen, in der die Schweiz mit dem G-20-Gipfel geraten ist.

Claude Longchamp

Der Bundesrat im internen Härtetest

Die welsche Zeitschrift “Illustré” veröffentlichte diese Woche erstmals ihre Umfragewerte zur Akzeptanz der BundesrätInnen seit Beginn der Finanzkrise. Fazit: Der Bundesrat als Ganzes hält sich, 4 seiner 7 Mitglieder erleiden aber teilweise massive Einbrüche in ihrer Akzeptanz.

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Die Beurteilung des Schweizer Bundesrates im längerfristigen Trend

Ueli Maurer, der neue SVP-Bundesrat, erscheint erstmals im Bundesratsbarometer, das MIS seit 1996 zwei Mal jährlich auf der Basis einer Bevölkerungsbefragung erstellt. Er konnte sich gleich auch Platz 3 hieven. 75 Prozent der abgegebenen Beurteilungen über ihn waren positiv. Damit ist sein Start klar besser geglückt als seinerzeit der von Christoph Blocher.

Ueberflügelt wird der Neue aus der SVP allerdings durch die Abtrünnige aus der SVP. Denn Eveline Widmer-Schlumpf, heute BDP, ist nur ein gutes Jahr nach ihrer umstrittenen Wahl in den Bundesrat zur anerkanntesten Magistratin der Schweiz aufgestiegen. 89 Prozent (+7%punkte) der Bewertung fallen bei ihr positiv aus.

Zwischen den beiden befindet sich Doris Leuthard. Die CVP-Bundesrätin kennt immer noch Spitzenwerte, wenn sie auch erstmals an Zustimmung verlor (79%; – 8%).

Von der Aktualität leicht profitieren konnte dagegen Micheline Calmy-Rey (66% positiv; +2%punkte). Bei der SP-Bundesrätin scheiden sich die Geister aber entlang der Sprachgrenzen und auch zwischen Stadt und Land zusehends.

Der grösste Verlierer ist Pascal Couchepin, der kaum mehr Unterstützung unter den BürgerInnen hat (22% positiv, -18%punkte) und eindeutig das Schlusslicht im Barometer der Bundesregierung markiert. Viel an Zustimmung (61%; – 18%) eingebüsst hat auch der andere FDP-Bundesrat, Hans-Rudolf Merz. Der Spitzenplatz während seiner krankheitsbedingten Abwesenheit ging unter den akuellen Umständen klar verlustig.

Moritz Leuenberger schliesslich, der SP-Vertreter aus Zürich, bringt es noch auf 58% Zustimmung, was im Vergleich 6 % weniger sind und auch nur zum Platz 6 reicht.

Der Bundesrat als Ganzes hielt sich übrigens, obwohl die Umfrage unmittelbar nach der Bekanntgabe der neuen Bankgeheimnispolitik am 13. März 2009 erfolgte: 55% der Antworten aus der Repräsentativ-Befragung waren positiv, 4 Prozent mehr als vor 6 Monaten. Vom Spitzenwert im April 2000, der bei 78% lag, ist man allerdings weit entfernt.

Claude Longchamp

Frühere Umfragen von MIS hierzu.

Den strukturellen Populismus der Gegenwart untersuchen

Noch in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts war es in der politikwissenschaftlichen Analyse üblich, die Entstehung populistischer Bewegungen an bestimmte Momente zu knüpfen, die einschneidende Brüche darstellten und zu Entwicklungen von Protest ausserhalb des Parteiensystems führten. Das sei passé, meint der Rostocker Politikwissenschafter Nikolaus Werz, der von einem strukturellen Populismus der Informationsgesellschaft spricht, der neue Ursachen habe und neue Fragen aufwerfe.

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Der Populismus ist selber in den etablierten Demokratie Westeuropas Teil der politischen Kultur und des politischen Systems geworden. Dabei verändert er den Stil der Demokratie, ohne sie zu zerstören, ist eine zentrale Botschaft des hier besprochenen Buches von Nikolaus Werz

Natürlich ist Italien das meist diskutierte Anschauungsbeispiel für das, was die neue Fragestellung zum Populismus ist. Drei Parteien, die allesamt populistischen Charakter haben, bilden seit dem Zerfall der traditionellen bürgerlichen Parteien fast ununterbrochen die Regierung, ohne dass die linken demokratischen Kräfte dem “Projekt Berlusconi“, das auf immer mehr Machtkonzentration ausgerichtet ist, ernsthaft etwas entgegenhalten können.

Aehnliches kommt aber auch anderswo vor, in Oesterreich, in der Schweiz, in Belgien, in den Niederlanden, Dänemark, ja in Deutschland und Frankreich, was die Diskussion der Phänomen über eine Beurteilung Italiens hinaus interessant macht.

Das politikwissenschaftlich unvoreingenommen zu analysieren, ist die Absicht der Analysen, die der Rostocker Politikwissenschafter Nikolaus Werz in einem Sammelband vorgelegt hat. Sein Fazit: Während in West- und Osteuropa der Rechtspopulismus dominiert, lässt sich in Nord- und Südamerika ein Populismus feststellen, der linke wie rechte Erscheinungsformen verbindet. Die Demokratie ist dabei nicht einfach abgeschafft worden, wenn auch in ihrem liberalen Verständnis erschüttert.

Der Frankfurter Historiker und Politologe Hans-Jürgen Puhle versucht, das in einem gewichtigen Ueberblickskapitel zu synthetisieren: Gesprochen wird von einem Designer-Populismus, einem neuen Politikstil, der sich in der Demokratie etabliert hat und genau deshalb regelmässig für Kontroversen sorgt. Seine Symptome sind die Sehnsucht nach Leadership und führungszentrierter Parteipolitik, was zu einer Dominanz der SpitzenpolitikerInnen kombiniert mit einer ideologsichen Beliebigkeit führe, die eine pragamtische Behandlung des Augenblicks mit einem gehörigen Schuss an medialer Empörung zur Folge hat. Der Bonapartismus ist, bilanziert Puhle, zum Element der etablierten Parteienpolitik und damit auch zu einem Kennzeichen der Staatspolitik geworden.

Für diesen strukturellen Populismus werden im Sammelband fünf Ursachen genannt:

. erstens, die Mobilisierung gegen die Globalisierung, als Interessen- und Machtkartell, begründet durch neoliberale Politik, welche den Rückzug des Staates auf zentralen Feldern der Konfliktregelung fordert;

. zweitens, einen generellen Antimodernismus, der unter den VerliererInnen von Transformationsprozess jedweder Art SympathisantInnen findet;

. drittens, den Bedeutungsverlust von Grossorganisationen wie Parteien und Verbänden aber auch des Staates, angesichts stagfaltionärer Veränderungen, bei denen der Umbau des Staats weg vom keynsianistischen Wohlfahrtsstaat am Anfangs steht,

. viertens, parteiinhärente Probleme vor allem von catch-all parties, die den Zusammenhalt ihrer AnhängerInnen nur noch gewährleisten können, wenn der richtige Nerv der Zeit permanent getroffen wird,

. und fünftens, die Auswirkungen der new campaign politics mit elektronischen Medien, welche die Lösung von Sachfragen in den Hintergrund treten lassen, dafür aber auf die Vermehrung von Glaubwürdigkeit zentraler Führungspersonen ausgerichtet sind.

Soweit die Analyse. Brisant ist der Schluss, der in Uebereinstimmung mit konservativen Politikverständnissen daraus gezogen wird: Populismus sei zu einem mehr oder weniger dauerhaften Bestandteil demokratischer Systeme geworden, ohne dass sie sich früheren, marxistisch inspirierten Vermutungen, Populimus führe zwangsläufig zu Bonapartismus und der automatisch zu semi- und vollfaschistischen Regimes bewahrheitet hätten.

Die Politikwissenschafter ziehen daraus auch den Schluss, die Populismus-Analyse solle untersuchen, wie dominant gewordene Politikstil heute in der Regierungs- und Parteienpolitik generell verwendet werden, um Wahlen zu gewinnen und Regierungen zu stabilisieren.

Claude Longchamp

Nikolaus Werz (Hg.): Populismus. Populisten in Uebersee und Europa. Opladen 2003

FreundIn des Zentrums für Demokratie in Aarau werden

Am Samstag ist es soweit: Das neue Zentrum für Demokratie in Aarau, kurz ZDA, wird offiziell eröffnet. Heute war schon mal die Gründungsversammlung der FreundInnen des ZDA. Ein Kurzbericht aus der neuesten Innovation in der Schweizer Forschungslandschaft.

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Impression von der Gründungsfeier “Freunde des ZDA”, in der Mitte die beiden Initianten im Aarauer Einwohnerrat Stephan Müller, links, Mark Eberhart, rechts.

Die Stadt Aarau, der Kanton Aargau, die Fachhochschule Nordwestschweiz und die Universität Zürich tragen das ZDA gemeinsam, das rechtswissenschaftliche, politikwissenschaftliche und pädagogische Kompetenzen zur Erforschung von Demokratie vereinigt. Andreas Auer, Staatsrechtsprofessor an der Universität Zürich und erster Direktor in Aarau, umriss in einer brilliant vorgetragenen Rede die Absichten, die mit dem ZDA verbunden sind:

Zentrum stehe für Forschungszentrum. Man sei der Wissenschaft verpflichtet. Geleistet werde Grundlagenforschung, die in Politik und Gesellschaft transferiert werden solle. Man fühle sich nicht verpflichtet, missionarisch für Demokratie zu werben, ajedoch ihre Funktionsweise zu analysieren und an ihrer Verbesserung zu arbeiten.

Demokratie, sagte der Jurist, sei zunächst eine Staats- und Regierungsweise, die auf Wahlen, je nachdem auch auf Abstimmungen basiere. Diese wiederum brauchten Institutionen, die verfassungsmässig garantiert sein müssten. Funktionieren kaönne das Ganze nur in einer lebendigen Zivilgesellschaft, die sich aufgrund ihres kulturellen Selbstverständnisses ihrer Möglichkeiten und Grenzen bewusst sei.

Das Alles führte Andreas Auer im Aargauer Grossratsgebäude aus. Und das war symbolisch gemeint, ist doch der klassizistische Bau aus dem Jahre 1823 das erster Parlamentsgebäude in der Schweiz, das nach dem Vorbild der Französischen Revolution mit einem Halbrund und aufsteigenden Sitzreihen angelegt worden war. Besetzt war es heute jedoch nicht durch Revolutionäre, sondern durch 120 Menschen mit verschiedensten Hintergründen, aus denen mit dem Gründungsakt FreundInnen des ZDA wurden.

Die FreundInnen wollen sich für das Gelingen der neugegründeten Demokratiezelle einsetzen, und sie sind überzeugt: Es können auch noch mehr Mitglieder sein, die dem Projekt zum Durchbruch verhelfen wollen.

Unter den Gründungsmitgliedern waren schon auch die beiden Aarauer Einwohnerräte Stephan Müller und Mark Eberhart, welche die Idee im Aarauer Stadtparlament lanciert hatten. Politisch links resp. rechts stehend, stimmen sie in Sachfragen selten überein; wenn es indessen um die Förderung von Demorkatie geht, ziehen beide am gleichen Strick. Ihre politische Seilschaft konnten sie inr Folge durch den Aarauer Stadtrat, insbesondere den Aarauer Stadtammann Marcel Guignard, und den Aargauer Regierungsrat erweitern, sodass man heute in der Kantonshauptstadt über ein respektables Uni-Institut verfügt, dessen Finanzierung für 10 Jahre gesichert ist.

Gearbeitet wird übrigens in der Villa Blumenstein am Rande der Stadt, wo einst Johnann Heinrich Zschokke, der Einwanderer aus Deutschland und Begründer des liberalen Aargaus, wohnte. 38 ForscherInnen und Angestellte des ZDA werden uns aus diesen Gebäulichkeiten heraus hoffentlich schon bald mit neuen, interessanten und verwendbaren Erkenntnissen zur besten aller schlechten Staatsformen überraschen.

Claude Longchamp

Nettere Nachbarschaft wieder gefragt

Ein Händeschütteln hat höchst Symbolisches an sich. Handfläche gegen Handfläche bedeutet, dass man einander zu spüren gibt, nichts mehr versteckt zu haben. Das bekräftigt nicht nur die Friedenshaltung, es ermöglicht auch einen Schlussstrich unter die Irritiationen der letzten Wochen.

DEU DEUTSCHLAND SCHWEIZ
quelle: der spiegel

Steinmeier begrüsste an der deutsch-schweizerischen Medienkonferenz in Berlin, dass die Schweiz nach internationalem Druck nun bereit ist, bei Steuerauskünften die Standards der Organisation für Entwicklung und Zusammenarbeit in Europa (OECD) einzuhalten. Calmy-Rey versicherte, die Schweiz werde die Zusagen umsetzen. “Wenn wir etwas sagen, dann machen wir es auch.” Das bestehende Doppelbesteuerungsabkommen mit der Bundesrepublik solle “baldmöglichst” geändert werden. Wichtig ist der Schweiz, dass strenge Richtlinien nicht nur für die Schweiz, sondern auch von anderen Finanzplätzen umgesetzt würden.

“Wir sind nette Nachbarn”, meinte die Schweizer Aussenministerin, “und mit einem netten Nachbarn geht man nicht so um. Das hat uns sehr getroffen.” Der Deutsche wiederum sagte: “Wir wollen diese Irritationen hinter uns lassen”. Der deutsche Aussenminister mochte sich für die Aussagen des Finanzministers nicht entschuldigen, wies aber den Wege der gepflegten Nachbarschaft.

Wie eng diese ist, zeigen folgende Zahlen: 44.000 deutsche Grenzgänger arbeiten gegenwärtig in der Schweiz, 230.000 Deutsche wohnen auch in der Schweiz. Der deutsche Aussenhandelsüberschuss beträgt 23 Milliarden Franken. Nach amtlichen Schweizer Angaben belief sich das Schweizer Investitionsvolumen in Deutschland 2007 auf 27 Milliarden Euro. Damit sei die Schweiz der sechstgrösste Investor in Deutschland. Deutschland sei mit einem Investitionsvolumen von 21 Milliarden Euro der neuntgrösste Investor in der Schweiz.

Nehmen wir es so, wie es ist: Eine Annäherung hat stattgefunden. Die Interessen bleiben unterschiedlich, doch der Umgangston ist wieder wie unter Nachbarn!

Claude Longchamp