“Paradigma”, “turn” oder bloss Mode

Geht man an einen (sozial)wissenschaftlichen Kongress, wähnt man sich normalerweise nicht an einere Mode-Show. Weder die Kleidungen, noch die Frisuren und schon gar nicht die Haltungen der Akteure verleiten einen zu dieser Annahme. Schaut man sich indessen die Beiträge an, die an (sozial)wissenschaftlichen Kongressen präsentiert werden, wird man häufig den Verdacht nicht los, dass da vor allem Modisches vorgestellt wird. Nur versteckt es sich häufig hinter anderen, hochtrabenden Begriffen: turn ist heute besonders in, Paradigma war das mal!

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Immer mehr macht sich das Phänomen der rein modischen Weltdeutungen auch in den Sozialwissenschaften breit. Ich halte mal dagegen!

Paradigmen
Der Philosoph Thomas S. Kuhn hat mit alle dem 1970 angefangen und rasch Furore gemacht. Er untersuchte die Wissenschaftsgeschichte, und er unterstellt, dass sich das wissenschaftliche Wissen diskontinuierlich entwickle, – in Paradigmen eben. Zwar gelang es ihm nie, den Begriff selber verbindlich zu definieren, doch war das Paradigma nach Kuhns Vorstoss auf die philosophische Bühne weit herum bekannt und wurde es vielerorts begeistert aufgenommen.

Paradigma war eigentlich als Beispiel, als Vorbild oder als Muster gedacht. Es umschrieb das, was beobachtet und überprüft wird, die Art der Fragen, welche gestellt und geprüft resp. wie die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung vorbildlich interpretiert werden sollten. In den Naturwissenschaften machte das noch einigermassen Sinn: die kopernikanische Wende, die Physik Newtons und Einsteins Denkrevolution markierten das, was Kuhn als Paradigmenwechsel vorgeschwebt hatte.

In den Sozialwissenschaften erwies sich der Begriff schlicht als Uebertreibung. Die Entstehung der Oekonomie, der Soziologie oder Psychologie sind allenfalls ein Paradigmenwechsel, – eine Abkehr von geistes- und sozial- und humanwissenschaftlichen Denk- und Forschungsweisen. Innerhalb dieser Wissensgebiete fand man jedoch kaum Paradigmenwechsel.

turns
Die aufstrebenden Revolutionswissenschaften der 70er Jahre reagierten entsprechend: In den Kulturwissenschaften entdeckte man als Erstes die Sprache als Gegenstand der Forschung, sprach im Gefolge von Richard Rorty vom linguistic turn und meinte damit die Entstehung von neuen Fachgebieten wie Linguistik und Semiotik. In den 90er Jahren wandte man sich dem voll von neuen Hoffnungen dem Bild zu, das im Begriff war, die elektronische Welt zu erobern, ohne dass sich schnell genug auch eine Bildwissenschaft etabliert hätte. Schliesslich kam es zum spatial turn, der Entdeckung des Raumes statt der Zeit als wichtigster kultureller Determinante überhaupt.

Für all das kann man noch einiges Verständnis aufbringen. Immerhin entwickelte sich (vor allem die deutschsprachige) Kulturwissenschaft in den letzten 40 Jahrenn sprunghaft, indem sie ihre Betrachtungsweise stufenweise veränderte, und, würde ich beifügen, sich damit auch erweiterte verbesserte.

Moden
Was sich indessen sonst noch alles auf Klippen, Wenden, Kehren und Sprünge in den(Sozial)Wissenschaften überall kapriziert, ist meist nicht mehr als eine Mode unter WissenschafterInnen. Anstatt neue Fakten zu präsentieren, übersehene Argumente zu liefern oder Kombiationen zu entwickeln, die zu wirklich neuen Theorie führen, erhält man nicht selten nur dünne Vermutungen vorgesetzt, bekommt man Botschaften durchgegeben und unbelegte Hypothesen aufgetischt. Damit man die Dürftigkeit der sog. Innovationen übersieht, überziehen die Vorreiter der neuen Moden ihre Produkte mit einem rhetorischen Zuckerguss, die der vermeintlichen Neuerung höhere Bedeutungen zumessen. Revolutionen mindestens im Denken, wohl auch im Wissen, vielleicht sogar im Können, und wenn’s ganz hoch kommt, selbst auch im Handeln begleiten die meist bloss begrifflichen Verschiebungen für einfache Beobachtungen, Aussagen, Zusammenhänge und Modelle, die längst bekannt sind, nun aber neu verpackt daher kommen.

Mode ist, so ihre eigentliche Definition, die Art Dinge zu tun, zu nutzen und zu schaffen, die für einen bestimmten, meist kurzen Zeitraum und für eine bestimmte, meist unwichtige Gruppe von Menschen typisch ist. Deren einzige Sicherheit darin besteht, durch die nächste Mode abgelöst zu werden.

Bei Kleidung, Frisur und Auftritt finde ich das, selbst an wissenschaftlichen Kongressen, gelegentlich noch amüsant; in der Wissenschaft selber jedoch fehl am Platz!

Claude Longchamp

“Abstimmungen im Trend” – ein service public zur Beobachtung und Analyse der Meinungsbildung

(zoon politicon) Seit Herbst 1998 realisiert gfs.bern für das Schweizer Fernsehen regelmässig die Umfragen “Abstimmungen im Trend”. Damit werden bei eidgenössischen Volksabstimmungen die Stimmabsichten der Bürger und BürgerInnen im Vorfeld der Entscheidung erhoben. Zwischenzeitlich sind 38 Untersuchungen in diesem Projekt realisiert worden, die der Oeffentlichkeit zur Verfügung stehen. Die Zusammenarbeit zwischen SF und gfs.bern wurde jüngst für vier weitere Jahre bestätigt.

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Szenen aus dem jüngsten Abstimmungskampf zur “Kampfjetlärm-Initiative”, über die am 24. 2. 2008 entschieden wurde; der Gegenstand und die Kampagnen bilden den Ausgangspunkt für die Analyse “Abstimmungen im Trend”

Trend- nicht Punktprognosen
Die Serien “Abstimmungen im Trend” sind direkt keine Abstimmungsprognosen. Dazu ist man in der Abstimmungsforschung noch nicht in der Lage. Das gilt allerdings nur, wenn man punktgenaue Prognosen haben möchte. Denn diese setzen voraus, dass man weiss, wie sich die unentschiedenen BürgerInnen, die sich beteiligen wollen, die in er letzten Umfrage verbleiben, effektiv verhalten. Und da kann man nur antworten: Man weiss es nicht, und sieht besser von Faustregeln, was da passieren solle, ab!

4 Kennziffern
So bleiben am Schluss immer vier Kennzahlen; es sind dies: wie gross ist der Anteil, …

. der sich beteiligen will,
. der inhaltlich unschlüssig bleibt,
. der zustimmen will resp.
. der ablehnen will.

Primär ist das die letztmögliche Bestandesaufnahme, die man in der Schweiz in dieser Sache machen kann. Sekundär interessiert, was darauf für das Abstimmungsergebnis folgt. Dafür sind einerseits die Trends massgeblich, die sich über die Zeit hinweg bei diesen vier Indikatoren beobachten lassen. Anderseits gibt es einige Hypothesen, was nach der letzten Abstimmung geschieht, die wir laufend überprüfen und verbessern. Genau diese Hypothesen, die aus dem Dispositionsansatz abgeleitet werden können, sind es, die es uns – mit aller Vorsicht – erlauben, Trendprognosen zu machen, – Erwartungen, was nach der letzten Umfrage bis zur Abstimmung geschieht.

Die Befragungsanlage
Die letzte Umfrage findet immer in der 3. Woche vor den Volksabstimmungen statt. Publiziert wird sie am letztmöglichen Tag, den der Verband der Schweizerischen Markt- und Sozialforschungsinstitute zulässt, dem Donnerstag der vorletzten Woche vor der Volksabstimmung. Die erste Umfrage realisieren wir in der Regel in 6. oder 7. Woche vor der Volksabstimmung. Gelegentlich finden auch mehr als zwei Umfragen statt.

Die Befragungen basieren auf einer Repräsentativ-Befragung von mindestens 1200 Personen in der ganzen Schweiz. Sie wird telefonisch vom gfs-Befragungsdienst durchgeführt. Die Personenauswahl geschieht dabei nach einem mehrstufigen at-random Verfahren, das die höchste Neutralität bei der Auswahl garantiert. Dokumentiert werden die technischen Angaben zu allen Befragung vor Abstimmungen und Wahlen, die veröffentlicht werden, durch den Branchenverband. Ausgewertet, analysiert und kommentiert werden die Erhebnung vom Forschungsinstut gfs.bern.

Die Befragungen sind mit einem generellen Stichprobenfehler von +/- 2.9 Prozent behaftet. Genau genommen heisst dies, dass ein Wert von 50 % (mit 95prozentiger Wahrscheinlichkeit) um das grösser oder kleiner sein kann, wobei grössere Abweichungen unwahrscheinlicher, kleinere wahrscheinlicher sind. Die Unsicherheit, was mit den Unentschiedenen geschieht (im Schnitt 15 % in der letzten Umfrage) ist aber deutlich grösser als das, sodass der Umgang mit dem Problem “Unschlüssige” wichtiger ist, als die statistische Ungenauigkeit der Stichprobenerhebung.

Die Publikation
Die Gesamtheit der Ergebnisse stehen den SRG-Medien für die Erstpublikation zur freien Verfügung. Sie werden zeitgleich mit der Veröffentlichung in den elektronischen Medien integral auf der Website von gfs.bern aufgeschaltet und können so von allen Interessierten konsultiert werden. Das hat sich auf die Akzeptanz der Ergebnisse nachweislich vorteilhaft ausgewirkt.

e-Publikationen durch gfs.bern
e-Publikation durch SF

Wir fahren also weiter: auf ein nächstes Mal!

Claude Longchamp

Disposition – Prädisposition – Einstellung. Begriffe der Entscheidungsanalyse mit unterschiedlichen Konsequenzen

(zoon politicon) “Disposition” kommt als Begriff in verschiedenen Wissenschaften vor. Die Medizin gehört genauso dazu wie die Psychologie. So wie ich den Begriff für die Analyse der Meinungsbildung bei Volksabstimmungen, politikwissenschaftlich für die Abstimmungsforschung verwendet also, einsetze, bedeutet er: Entscheidungsabsicht.

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Grundgedanke der Informtionsverarbeitung aufgrund von Prädispositionen, die zu einer Entscheidung führt, wie er durch den Dispositionsansatz für die individuelle politische Meinungsbildung postuliert wird (Quelle: gfs.bern)

Entscheidungsabsichten gehen einer Entscheidung zuvor, wenn diese nicht spontan gefällt werden. Ist dies der Fall, kann eine Entscheidung kaum unter dem Aspekt der Meinungsbildung analysiert werden. Denn das ist nur dann der Fall, wenn es, wie in einem Abstimmungskampf angenommen, zur Verarbeitung von Informationen kommt, die, meist massenmedial verbreitet, seltner personal vermittelt, in die Entscheidfindung miteinbezogen werden. Die Informationsverarbeitung wiederum geschieht auf der Basis der Alltagserfahrungen, mit der die BürgerInnen versucht sind, die Fragestellung der Volksabstimmung auch ohne Meinungsbildungsprozess zu beantworten. Alltagserfahrungen, die politische relevant werden können, nenne ich “Prädispositionen”.

Meinungsbildung, die einer politischen Entscheidung zuvor geht, besteht damit aus Prädispositionen einerseits, verarbeiteten Informationen anderseits, die zu einer vorläufigen Entscheidungsabsicht führen, Dispositionen genannt, welche in der Entscheidung selber zu einer Zustimmung oder Ablehnung (allenfalls auch zu einer Stimmenthaltung) führen.

Die Informationsverarbeitung ihrerseits kann in verschiedene weitere Elemente zerlegt werden; hier sind sie nicht von Belang. Denn es geht mir um die Eigenheiten des Dispositionsbegriffes gegenüber dem Einstellungsbegriff:

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Analytisches Modell der Meinungsbildung auf kollektiver Ebene, wie es der Dispositionsansatz für Volksabstimmungen postuliert (Quelle: gfs.bern)

Zunächst: Der Dispositionsbegriff ist dynamischer als jener der Prädisposition; dieser ist dem Einstellungsbegriff in den Sozialwissenschaften verwandt, wird aber nur soweit verwendet, als er auch entscheidungsrelevante Reaktionen auf Fragestellung beinhaltet.

Sodann: Der Einstellungsbegriff wird aus einem Grund für die Analyse der Meinungsbildung nicht direkt verwendet, denn er unterstellt definitorisch, dass die Reaktionsweisen auf Objekte jeglicher Art, die zu den Einstellungen zählen mehr oder weniger konstant sein müssen.

In der Abstimmungsforschung kann man das eigentlich nur unterstellen, wenn man Meinungsbildung einzig akteurszentriert auf der Mikro-Ebene untersucht, und bei der Informationsverarbeitung eine reine Verstärkerwirkung vorhandener Einstellungen unterstellt. Beides hat sich in der Forschung zur Meinungsbildung bei Wahlen als mögliches Modell erwiesen, bei Sachabstimmungen als sehr unwahrscheinliches. Deshalb ziehe ich den Begriff der (Prä)Disposition vor, weil er Veränderungen in der Entscheidungsabsicht gegenüber offener ist, und das, anders, als in der Einstellungsforschung, als “Nicht-Einstellung” abqualifiziert.

Ich habe meine Ueberlegungen und Analysen mit dem Dispositionsansatz in verschiedenen Schritten und für verschiedene Zwecke entwickelt; die zentralen Publikation daraus sind in den nachstehenden Sammelbänden publiziert worden:

. Schiller, Theo (Hg.): Direkte Demokratie — Forschungsstand und Perspektiven, Opladen 2002.
. Donges, Patrick (Hg.): Politische Kommunikation in der Schweiz. Bern 2005.
. Blum, Roger / Meier, Peter / Gysin, Nicole (Hg.): Wes Land ich bin, des Lied ich sing? Medien und politische Kultur, Bern 2006.

Eine schnell greifbare e-Fassung des Dispositionsansatzes für die Abstimmungsforschung findet man hier.

Claude Longchamp

“VOX-Analysen” als Instrument der Nachanalyse von Volksabstimmungen in der Schweiz

Nach eidgenössischen Volksabstimmungen werden in der Schweiz seit 1977 sogenannte Vox-Analysen durchgeführt mit dem Ziel, das Stimmverhalten der Stimmbürger und Stimmbürgerinnen in ihren Sachentscheidungen besser zu verstehen.

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VOX-Analysen geben Auskunft darüber

* wer wie gestimmt hat
* welches der Informationsstand war, auf dem die Entscheidungen getroffen wurden,
* welche individuell relevanten Gründe für die Stimmabgabe maßgebend waren
* welche Botschaften der Kampagnen verstanden und befolgt wurden.

Zu diesem Zweck wird eine repräsentative Stichprobe von ca. 1000 stimmberechtigten Personen nach Werthaltungen, politischen Meinungen und Verhaltensweisen, Partei- und Vereinszugehörigkeit, dem Kenntnisgrad der Vorlagen, den verschiedenen Aspekten des Sachentscheids, der Meinungsbildung und der Einschätzung der Wichtigkeit jeder Vorlage befragt.

Die VOX-Analysen sind sowohl der Politik als auch der Öffentlichkeit gut bekannte und viel zitierte Meinungsumfragen und genießen eine hohe Akzeptanz. Die VOX-Analysen werden von den politikwissenschaftlichen Instituten der Universitäten Bern, Genf und Zürich ausgewertet. Das Forschungsinstitut gfs.bern führt die VOX-Befragungen durch und koordiniert das Projekt seit Beginn.

Die VOX-Analysen werden von der Schweizerischen Bundeskanzlei finanziell unterstützt.

Wegen der sehr hohen Zahl von Volksabstimmungen auf nationalen Niveau in der Schweiz und ihrer lückenlosen Erforschung seint 1977 sind die VOX-Analysen in besonderem Masse geeignet, die Meinungsbildung und die Entscheidung in politischen Fragen zu dokumentieren.

Die Daten der Befragungen stehen spätestens ein Jahr nach den Abstimmungen über das Datenarchiv SIDOS für die wissenschaftliche Forschung frei. Sie sind in verschiedenen Dissertationen und Forschungsberichten gewinnbringend verwendet worden.

aus: Wikipedia

Unterlagen zur den VOX-Analysen können wie folgt bezogen werden:
Hauptergebnisse nach Abstimmungsdaten
Bezugsmöglichkeiten der integralen Publikationen: info@gfsbern.ch (Bestellungen sind kostenpflichtig)
Bezugsmöglichkeiten der VOX-Daten
Referate an der VOX-Tagung zum 30. Geburtstag der Serie

Kooperationspartner:
Uni Bern/Dr. Hans Hirter
Uni Genf/Prof. Thanh-Huyen Ballmer-Cao
Uni Zürich/Prof. Adrian Vatter
Uni Zürich/Dr. Thomas Milic

“Abstimmungsforschung” in Wikipedia

(zoon politicon) Diese erste Fassung zum Artikel “Abstimmungsforschung” in Wikipedia habe ich während den Vorbereitungen für den Kurs am kommenden Freitag in St. Gallen gemacht. Rückmeldungen nehme ich gerne auf dem einen oder anderen Kanal entgegen.

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Die Abstimmungsforschung will erklären, wer wie und warum auf eine bestimmt Art und Weise stimmt.

Abstimmungsforschung

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Die Abstimmungsforschung ist eine Teildisziplin vor allem der Politikwissenschaft, teilweise auch der Kommunikationswissenschaft, der politischen Geografie und der politischen Oekonomie. Sie untersucht das Abstimmungsverhalten der stimmberechtigten Personen. Die Abstimmungsforschung geschieht aufgrund offizieller Statistiken zum Abstimmungsverhalten oder anhand von Daten aus Repräsentativ-Befragungen, die vor- oder nachher zum Verhalten und zur Entscheidung selber erhoben werden.

Im Gegensatz zur Wahlforschung ist die Abstimmungsforschung wenig entwickelt. Das hat mit dem selektiven Vorkommen von Volksabstimmungen in den verschiedenen politischen Systemen, aber auch mit der Komplexität von Fragestellungen zu tun, die höher ist als bei Wahlen. Abstimmungsforschung wird systematisch und seit längerem nur in den USA (vor allem in Kalifornien) und in der Schweiz betrieben.

Methoden

Folgende Methoden werden für die Abstimmungsforschung, speziell für die Analyse der Entscheidfindung, eingesetzt:

* Quantitative Methoden wie Befragungen von Wahlberechtigten (telefonisch, mündlich, online oder schriftlich)
* Qualitative Methoden wie Fokusgruppen
* Hochrechnungen
* Aggregatdatenanalysen wie Erstanalysen
* Medieninhaltsanalysen
* Schätzungen auf Basis von Modellen

Institute der Abstimmungsforschung (Schweiz)

In der Schweiz leiten drei kommerzielle Institute regelmässige Abstimmungsforschung auf Umfragebasis für Massenmedien, Abstimmungskomitees, Interessengruppen, gelegentlich auch für Parteien:

* gfs.bern
* Isopublic
* Demoscope

Die politikwissenschaftlichen Institute der Universitäten Bern, Genf und Zürich publizieren mit dem Forschungsinstitut gfs.bern nach jeder eidgenössischen Volksabstimmung eine wissenschaftlich fundierte Abstimmungsuntersuchung, die sog. VOX-Analyse.

Zudem veröffentlichen bundesweite und diverse kantonale Aemter deskriptive und visuelle Darstellungen der Abstimmungsergebnisse, die der Forschung zugänglich sind.

Ergebnisse der Forschung

Deskriptive Raumanalysen von Abstimmungsergebnissen wie jene der Statistischen Aemter beschränken sich weitgehend auf die Eigenheiten des Stimmverhaltens nach Merkmalen der Siedlung und auf Einflüsse der Sprach- resp. Konfessionskontexte. Analytische Raumanalysen wie jene der Forschungsgruppe sotomo zeigen darüber hinaus für die Schweiz drei grundlegende Konfliktlinien im Stimmverhalten über einzelne Sachfragen hinaus auf:

* der Gegensatz zwischen rechts und links (analog zu Wahlen)

* der Gegensatz zwischen Tradition und Moderne

* der Gegensatz zwischen technokratischen und ökologischen Politikverständnis.

Jedes Thema, aber auch jeder Ort lässt sich auf diesen drei Konfliktdimensionen verorten. Daraus entsteht ein politischer Raum von Sachthemen und räumlichen Kulturen, der deutlicher komplexer ist als in der Wahlforschung, die meistens mit der Verortung von Wählern und Parteien auf der Links/Rechts-Achse auskommt.

Die Umfrageforschung zum Abstimmungsverhalten, wie beispielsweise die VOX-Analysen, bestätigt die hohe Bedeutung von politischen Orientierungen und Werthaltungen für Sachentscheidungen. Sie bilden mit den Alltagserfahrungen die Prädispositionen einer Entscheidung. Darüber hinaus arbeitet die Abstimmungsforschung mit den Wirkungen, welche die Informationsverarbeitung auf die Ausbildung von Entscheidungsabsichten hat.

Als widerlegt gilt die vereinfachte Vorstellung, die meisten Menschen hätten analog zur Parteiidentifikation bei Wahlen mittel- und längerfristig klar festgelegtem, statische Entscheidungsabsichten zu allen Sachfragen und jedem Zeitpunkt. Das gilt nur dann, wenn man sich aufgrund der thematischen Alltagserfahrungen einerseits, der politischen Versiertheit anderseits ein hinreichende Vorstellung über den Abstimmungsgegenstand, das mit ihm verbundene Problem resp. die zur Diskussion stehenden Lösungen machen kann.

In allen anderen Fällen kommt es zu einem dynamischen Gemisch aus allgemeinen und thematischen Prädispositionen einerseits, Informationsverarbeitungen während Abstimmungskämpfen anderseits. Indidivueller resp. kolletiktiver Meinungswandel kommt dabei in zwei Formen vor: dem Meinungsaufbau von der Unschlüssigkeit zur Schlüssigkeit in die eine oder andere Richtung, sowie Meinungswandel von der vorläufigen Zustimmung zur finalen Ablehnung (oder umgekehrt).

Der Dispositionsansatz, der speziell für die Analyse der Meinungsbildung bei Volksabstimmungen entwickelt worden ist, bietet hierfür Erklärungen und Prognosen an. In den USA wird vor allem RAS-Modell des amerikanischen Politikwissenschafters John Zaller verwendet, um die Chance von Meinungswandel in Sachfragen unabhängig von Volksabstimmungen zu untersuchen.

Claude Longchamp

Empirische Politikforschung in der Praxis (III): Das Anwendungsfeld “Volksabstimmungen”

(zoon politicon) Volksabstimmungen sind ein konstitutiver Bestandteil des politischen Systems der Schweiz. Nirgends wo sonst auf der Welt wird so häufig über Sachfragen abgestimmt wie hierzulande. Für die Politikforschung ist das eine besondere Herausforderung: In keinem anderen Teilgebiet hat die Politikwissenschaft in der Schweiz einen so grossen Standortvorteil wie in diesem.

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Im Gegensatz zur weit entwickelten Wahlforschung befindet sich die sozialwissenschaftliche Abstimmungsforschung erst noch in den Anfängen; für die Politikwissenschaft der Schweiz ist das eine der grössten Herausforderungen.

Zum Forschungsstand in der Grundlagen- und Anwendungsforschung
Die empirische Forschung zum Abstimmungsverhalten der BürgerInnen begann dennoch eher zögerlich: Raumbezogene Datenanalysen standen am Anfang (50er und 60er Jahre), Untersuchungen auf Befragungsbasis folgten in den 70er Jahren. Die Grundlagenforschung beschränkte sich dabei weitgehend auf die Nachanalyse von Volksentscheidungen. Sie entwickelte damit, etwa im Bereich der VOX-Untersuchungen, Erklärungskompetenzen, jedoch kaum Prognosefähigkeiten.

Die praxisorientierte Politikforschung zu Volksabstimmungen hat einen hierzu komplementären Weg beschritten. Sie hat vor allem an ihrer Fähigkeit gearbeitet, den Abstimmungsausgang vorherzusehen. Sie kann das zwar nicht als Punktprognose machen, jedoch ist sie in der Lage, das aus dem Prozess der Meinungsbildung heraus zu leisten. Sie hat hierfür spezifische Untersuchungsdesigns vorgeschlagen, Methoden und Verfahren der Analyse entwickelt, und sie arbeitet seit einigen Jahren unter dem Stichwort “Dispositionsansatz” an konzeptionellen Erklärungen der erarbeiteten Befunde resp. auffindbaren Typen der Meinungsbildung.

Zielsetzungen des dritten Tages
Der dritte Tag der Veranstaltung “Empirische Politikforschung in der Praxis” widmet sich ganz dem Stand der Abstimmungsforschung in der Schweiz, mit einem Vergleich zum Ausland.

Im Gegensatz zum Vorgehen bei der Wahlforschung beschreiten wir, wie die Forschung auch, nicht den klassische deduktiven Weg von der Theorie über die Prognose hin zur Beobachtung und allfälligen Modifikation von Theorien. Vielmehr wählen wir das induktive Vorgehen: Wir starten mit Beobachtungen, verallgemeinern diese zu Aussagen, versuchen diese hypothetisch zu erklären und schauen, welche der so gemachten Annahmen bestätigt werden können resp. widerlegt werden.

Das führt uns zum gegenwärtigen Stand der Dinge, der durch den Dispositionsansatz am besten reflektiert wird. Diese soll in diesem Kursmodul exemplarisch vorgeführt werden, und es soll gezeigt werden, ob und wie er sich bewährt bei den jüngsten Volksabstimmungen in der Schweiz bewährt hat.

Mit einem Ausblick soll auch der Theorie-Ansatz, der davon unabhängig für die emprische issues-Analyse durch den amerikanischen Politikwissenschafter John Zaller entwickelt worden ist, vorgestellt und zur Erklärung im Rahmen des Dispositionsansatzes diskutiert werden.

Unterlagen
Die Unterlagen zu diesem Kurstag sind hier abrufbar.

Claude Longchamp

Die Evolution des Wissens durch Theoriebildung und Informationsgewinnung

(zoon politicon) Die Falsifikation oder Verifikation einer Hypothese ist das A und O der Theorie emprischer Wissenschaften nach Karl R. Popper. Denn so kann man Fehler in den theoretischen Annahmen entdecken und vermeiden, und sich so der Wahrheit annähern.

Der evolutionäre Prozess von Information-Theorie-Information
Aus verifizierten Hypthesen entsteht aber keine Theorie von selbst. Der Prozess der Entwicklung empirische gesättigter Theorien in der Wissenschaft ist komplexer. Der Soziologe Volker Dreier hat für die Evolution in der Theoriebildung und Informationsgewinnung in den Sozialwissenschaften ein sinnvolles, aber noch wenig gebräuchliches Schema vorgeschlagen.

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Die Operationen: Induktion, Konstruktion, Deduktion, Reduktion
Das Modell unterscheidet zunächst zwischen Theorie und Information, dann zwischen Hypothese und Prognose. Der klassisch deduktive Weg der Wissenschaften, die Deduktion oder Ableitung von Prognosen aus der Theorie setzt Beweistheorie vor aus. Es sind begrifflich, logisch und datenmässig geprüfte Aussagen zu einem Gegenstand. Der Weg hierzu setzt Hypothesen voraus, die sich bewährt haben und nicht mehr modifiziert werden müssen. Dreier nennt ihn Konstruktion. Die Herstellung von Theorien geschieht, indem Aussagen, die aus der Hypothese entstehen, miteinander verknüpft in eine grösseres Ganzes überführt werden, und das meist abstrakt, aber verbal beschrieben werden.

Der Kreislauf ist damit noch nicht geschlossen. Prognosen, die stimmen, führen zu neuen, relevante Informationen. Dreier nennt das die Reduktion. Geleistet wird das durch Bestätigungstheorien. Informationen wiederum stehen nicht nur am Ende des Kreislaufes, sondern am Anfang: Mittels Heuristik werden solche Informationen in Arbeitshypothesen umgewandelt, die anschliessen der oben beschriebenen Prüfung unterzogen werden.

Die theoretischen Schritte sind demnach

. die Heuristik in der Induktion,
. die Begründung in der Konstruktion
. der Beweis in der Deduktion und
. die Bestätigung in der Reduktion.

Dabei bleibt man stets im gleichen Wissenschaftsprogramm. Man entwickelt mit ihm Theorie, und man verwendet die Theorien für die Gewinnung relevanter Informationen, die ihrerseits zu verbesserten Theorie resp. präzisierten Informationen führen können.

Die Anwendung in meiner Vorlesung
Die Wahlforschung ist ein typisches Beispiel hierfür; sie gilt als eine der weitentwickeltsten Teilbereich der Sozialwissenschaften, weshalb man heute überwiegend deduktiv-reduktiv verfährt.
Die Abstimmungsforschung, die ungleich weniger entwickelt ist, verfährt noch überwiegend umgekehrt. Sie verfährt deshalb, wissenschaftstheoretisch gesprochen, induktiv-konstruktiv. Doch dazu nächste Woche mehr.

Geruhsames Wochenende!

Claude Longchamp

Die Weltuniversitäten für Sozialwissenschaften

Seit 2003 wird der Shanghai-Index publiziert, eine allgemeine Rangliste der Weltuniversitäten.

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Die soeben erschienen Version 2008 gibt nicht mehr nur hierzu eine Uebersicht, sondern untergliedert auch in 5 Fachrichtungen. Erstmals bekommt man so die besten Hochschulen der Welt zu sehen, die sich gegenwärtig in den Sozialwissenschaften ausgezeichnen. Für dieses Jahr sind das weltweit:

1. Harvard (1)
2. Chicago (9)
3. Columbia (7)
4. Stanford (2)
5. Berkeley (3)
6. MIT (5)
7. Princeton (8)
8. Pennsylvania (15)
9. Yale (11)
10. Ann Arbor (21)

Beschränkt man sich auf Europa, steht Cambridge an erster Stelle. Ueberhaupt, 7 der 10 Top-Plätze werden von britischen Universitäten eingenommen; die anderen drei sozialwissenschaftlich führenden Hochschulen kommen alles aus den Niederlanden. Hier die Liste für Europa:

1. Cambridge (world 18/4)
2. Oxford (world 23/10)
3. LSE (world 26/151)
4. Amsterdam (world 51/102)
5. London (world 51/25)
6. Manchester (world 51/48)
7. Warwick (world 51/203)
8. Erasmus (world 77/151)
9. Amsterdam (world 77/151)
10. London Business School (world 77/511)

Uebrigens: Keine Schweizer Universität wird in den Sozialwissenschaften als weltweit führend angesehen. Das ist notabene in allen 4 anderen Fachrichtungen, die im Shanghai-Index neuerdings unterschieden werden, anders!

Claude Longchamp

PS:
Jedes dieser Rankings hat seine Eigenheit aufgrund der Parameterwahl. Im Einzelnen resultieren damit andere Klassierungen; der Gesamteindruck bleibt sich aber weitgehend gleich: Times Higher Education Awards (2007).

Eine stärkere Unterscheidung nach Forschung und Lehre, jedoch nicht nach Fachrichtungen sortiert, nimmt das spanische “Webometrics Ranking of World Universities 2008“.

Sind wir Menschen alle ein RREEMM?

Vilfredo Pareto, der italienische Oekonom, der an der Universität Lausanne lehrte, prägte für 100 Jahren den Begriff des “homo oeconomicus”. Demnach ist der Mensch ein individualistisches Wesen, das vernünftig handelt, und, egal wer der Mensch ist und wo er lebt, nur an seinem eigenen Nutzen interessiert ist. Vor rund 50 Jahren konterte der deutsch-englische Soziologe Ralf Dahrendorf und sprach erstmals vom “homo sociologicus”. Er definitierte den Menschen als gesellschaftliches Wesen, das gegenüber anderen Menschen in Rollen handelt. Erwartungen, Sanktionen, Normen und Werte, die im Umfeld des Menschen entstehen, steuern sein Verhalten.

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Das sozialwissenschaftliche Menschenbild der Gegenwart entspricht dem homo generalis

Und wo steht man heute in der Debatte zwischen dem individualistischen resp. gesellschaftlichen Wesen Mensch? Der deutsche Sozialwissenschafter Siegwart M. Lindenberg, der in Harvard habilitiert hat, im niederländischen Groningen als Soziologe lehrt und Direktor der Interuniversitären Zentrums für sozialwissenschaftliche Theorie und Methodologie ist, kommt zu einer vermittelnden Antwort: Er bestimmt den Menschen als homo generalis, kurz auch als RREEMM. Die Buchstaben sind dabei Abkürzungen für, das in der Definition Lindenbergs entscheidend ist:

R: resourceful
R: restricted
E: evaluation
E: expecting
M: maximizing
M: (wo)man

Aehnlich, wie die rationale Entscheidungstheorie, die sich auf den homo oecomicus stützt, handelt der Mensch nach Lindenberg als individualistisches Wesen, das an der Vermehrung seiner Vorteile interessiert ist. Anders als die ökomische Deutung der rationalen Entscheidung definitiert Lindenberg die Voraussetzung dieses Handelns nicht aufgrund klarer Präferenzen und vollständiger Informationen, die im Handeln kollektiver Akteure Sinn machen, bezogen auf das Individuum aber eine zu starke Vereinfachung darstellen.

Vielmehr führt Lindenberg aufgrund seiner kognitiven Soziologie vier Randbedingungen der Entscheidungen ein: Menschen …
… sind in ihren Entscheidungen nicht frei, sondern unterliegen mannigfaltigen Einschränkungen (“restricted”)
… verfügen über Kompetenzen, die sie in ihren Entscheidungen zu mobilisieren wissen (“ressorceful”)
… handeln nicht aufgrund den Begebenheiten, die sich kennen oder auch annehmen (“expecting”)
… und entscheiden sich, aufgrund ihrer Ziele, für jene Handlungsmöglichkeit, die ihnen am meisten Vorteile verspricht (“evaluating”).

Das Modell ist nicht die einzige Innovation in den sozialwissenschaftlichsten Handlungstheorien der Gegenwart, wohl aber eine der vielversprechendsten. Es ist nicht mehr so elegant und simpel wie die Modelle, die der amerikanische Oekonom Antony Downs in die Entscheidungstheorien eingebracht hat. Aber es ist auch einfacher und verständlicher, als die Diagnosen, welche die früheren Soziologen erstellt haben.

Was heisst das? Die Erwartung, dass sich die Wissenschaft vermehrt für das Handlungsmodell des homo generalis entscheidet, denn die Erwartungen des homo oeconomicus resp. des homo sociologicus haben sich nicht voll erfüllt. Sie sollten sich deshalb von den Restriktionen der Wissenschaftsgeschichte der letzten 100 Jahre befreien, und auf ihre innovative Kraft vertrauen, indem sie vorhandene Weiterentwicklung in ihren Entscheidungen nutzen.

Denn so würde auch sie als generalisierte Menschen handeln!

Claude Longchamp

Weiterführende Lektüre:
Bruno S. Frey: Ökonomie ist Sozialwissenschaft. Die Anwendung der Ökonomie auf neue Gebiete. München 1990.
Hartmut Esser: Soziologie – Allgemeine Grundlagen. 3. Auflage, Frankfurt/New York 1999.