Vom Sinn der Tatsachen in der Wissenschaft

(zoon politicon) In der gestrigen Vorlesung “Empirische Politikforschung in der Praxis” stiessen wir kurz auf den Aufklärer David Hume. Er hat den Empirismus als Gegenposition zum Rationalismus von René Desacartes begründet. Dieser liess sich vom Mensch als vernunftbegabtes Wesen leiten, jener vom Mensch, der dank seiner Sinne die Welt erfahren kann. Bis heute sind beide erkenntnistheoretische Positionen, wenn auch in kritisch verarbeiteter und kombinierter Form bestandteil der Philosophie der Wissenschaften.

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Nachdenken über Thomas Huxleys prägnante Aussagen zum Sinn der Tatsachen in der Wissenschaft empfohlen

Per Zufall bin ich heute auf den britischen Agnostiker Thomas Huxley (1825-1895) gestossen, der im 19. Jahrhundert lebte. Nicht weil er der Grossvater des bekannten Aldous Huxley (Schöne, neue Welt 1932) war, behielt ich ihn im Auge. Vielmehr viel mir auf, dass er mit wenige Worten das wissenschaftliche Denken, das Hume (“gegen die Macht der Gewohnheit”) entwickelt hatte, prägnant zusammenfasste; drei Kernsätze seies deshalb hier zum Nachdenken über den Empirismus in den Natur- und Sozialwissenschaften festgehalten:

„Die größte Sünde gegen den menschlichen Geist ist, Dinge ohne Beweis zu glauben.“

„Jede neue Wahrheit beginnt ihren Weg als Ketzerei und beendet ihn als Orthodoxie.“

„Die Tragödie der Wissenschaft – das Erschlagen einer schönen Hypothese durch eine häßliche Tatsache.“

Schönes Wochenende (trotzdem)

Claude Longchamp

Kurzer Rückblick auf heute (I)

Der Stoff war wohl etwas viel. Ich werde mich beschränken. Klar zu kurz gekommen ist die Produktion und Diffusion von Wissen in der Wissensgesellschaft. Ich werde das an geeigneter Stelle nachholen.

Aus der heutige Präsentation und Diskussion zum Einstieg in die Veranstaltung “Empirische Politikwissenschaft in der Praxis” ziehe ich die folgenden inhaltlichen Schlüsse, die behalten werden sollten:

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Sir Raimund Popper, geistiger Vater des kritischen Rationalismus lehrt uns die Lebenseinstellung, wonach ich mich irren kann, du recht haben kannst, und wir gemeinsam uns auf die Suche nach Wahrheit machen sollten.
Quelle: http://blog.b92.net/arhiva/node/4960

1. Zum Selbstverständnis der Politikwissenschaft heute
. Der Politikbegriff in der Politikwissenschaft ist dreigeteilt: Er umfasst Strukturen, Prozesse und Inhalte.
. Die Grundbegriffe der Politikwissenschaft sind Ideologie, Norm, Macht und Kommunikation.
. Politische Theorien sollen dreierlei leisten: Tatsachenfestellungen ermöglichen, Prognosen erlauben, und Handlungsvorschläge entwickeln.
. Die Systemtheorie in der Form der Autoposesis ist die wichtigste übergeordnete Theorie der Sozialwissenschaften.
. Politik ist in dieser Perspektive das Teilsystem, das allgemeinverbindliche Entscheidungen trifft.
. Politikforschung untersucht in erster Linie das Handeln politischer Akteure, dessen Voraussetzungen und Wirkungen.

2. Wissenschaftstheoretische Voraussetzung der empirischen Forschung
. Die vorherrschende Wissenschaftstheorie der modernen emprischen Sozialwissenschaften ist der kritische Rationalismus.
. Theorien müssen auf expliziten Begriffen basieren und logisch konstruiert sein. Sie dienen der Verknüpfung von Gegenstandstheorien.
. Wissenschaftliche Gegenstandstheorien müssen empirisch geprüft sein.
. Die Deduktion oder Ableitung von Hypothesen aus der Theorie ist der Königsweg der Forschung, denn nur das garantiert Erklärung.
. Die Induktion oder Herleitung von Theorie aus gesicherten Beobachtung ist dann sinnvoll, wenn es keine Theorien gibt.
. Verifizierte Hypothesen stützen die Theorie, falsifizierte müssen zur Revision der Theorie führen.

3. Das Menschenbild in den sozialwissenschaftlichen Handlungstheorien

. Das Menschenbild in den verschiedenen Sozialwissenschaften ist sehr verschieden. Es gilt stets zu fragen, wie adäquat eine Theorie für die eigene Problemstellung ist.
. Oekonomische Handlungstheorien sind in politischen Analyse bei klar definierbarem Nutzen und wenig Restriktionen geeignet. Sie vermitteln jedoch kaum Annahmen zu kultur- und persönlichkeitsbezogenen Einflüssen auf das Handeln. Sie basieren auf eine idealisierten Informationsverständnis.
. Psychologische Handlungstheorien sind vor allem geeignet, den Zusammenhang zwischen Persönlichkeitsentwicklung und Handlungen aufzuzuzeigen.
. Soziologische Handlungstheorien eignen sich, um normative und kulturelle Einflüsse auf Handlungen zu untersuchen.
. Spezifisch politikwissenschaftliche Handlungstheorien gibt es kaum. Die Politikwissenschaft bedient sich in der Regel der Modelle anderer Disziplinen, meist in Verbindung von Oekonomie und (Sozial)Psychologie oder Soziologie.

Ich hole hier noch drei Gedanken zur Wissenschaft in der Wissenschaftsgesellschaft nach, die in den Unterlagen angelegt sind, aber nicht behandelt wurden:

4. Wissenschaft in der Wissensgesellschaft
. In der Wissensgesellschaft wird die Rolle der Universitäten in der Wissenproduktion durch andere Institutionen konkurrenziert, die angewandte Forschung und anwendbares Wissen herstellen und vermittelen.
. Angewandte Forschung will die politische Praxis durch die Erhöhung rationaler Entscheidungen verbessern. Sie leitet sich entweder aus der Grundlagenforschung her, oder wird durch die politische Praxis direkt aktiviert.
. In der Anwendungsforschung begegnen sich Wissenschaft und Politik am besten auf pragmatische Art und Weise zur Bestimmung geeigneter Ziele und Mittel. Häufig bestimmt jedoch die Politik die Ziele der Forschung und die angewandte Forschung optimiert die Mittel, die eingesetzt werden sollen. Selten ist das verhältnis umgekehrt und die Wissenschaft bestimmt die politischen Ziele.

Zum Schluss nochmals den Leitsatz der Veranstaltung insgesamt: Der Praxisbegriff ist doppelt: In der Grundlagenforschung meint man damit die Empirie, im Gegensatz zur Theorie, in der angewandten Forschung versteht man jedoch das Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Lehre und praktischer Politik.

Ich freue mich auf die Fortsetzung. Wir sprechen dann über die Wahlforschung als Anwendungsfeld.

Claude Longchamp

Schlüsselwerke der Politikwissenschaft handlich aufgearbeitet

(zoon politicon) Da geht die Praxis der Theoretiker und der Praktiker weit auseinander: Muss man die Klassiker der Politikwissenschaft ausführlich gelesen haben, oder reicht es, wenn man die relevanten Zusammenfassungen kennt? Die Antworten stehen sich da diametral gegenüber: In der wissenschaftlichen Ausbildung sagt man: Ja, man muss sie in extenso gelesen haben. In der ausseruniversitären Praxis wird man Antworten: Unmöglich!

Ich gebe folgende Antwort: Im eigenen Arbeitsgebiet lohne es sich, die grossen Gedankengänge der relevanten Literatur einmal von A bis Z durcharbeitet zu haben. Und es ist sinnvoll, in einzelnen Forschungsgebieten die verzweigten Hinweise auf Neues selber aufgespürt zu haben.
Darüberhinaus mache ich mir nichts vor: Eine Uebersicht über die schnelle Entwicklung des Faches bekommt man so nicht. Doch das ist häufig essenziell. Gerade auch für Nicht-Fachleute.

Da bleibt nur der Griff zu Lexikas, um Begriffe sauber bestimmt zu bekommen, zu Handbüchern, um thematische Zusammenfassungen zu erhalten, oder eben zu diesem Buch:

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Steffen Kailitz: Schlüsselwerke der Politikwissenschaft. Wiesbaden 2007, 499 S.

In diesem Buch bekommt man rasche und knappe Antworten auf herausragende Werke der Politikwissenschaft, etwa zu Klaus von Beymes “Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa”, zu Walter Bagehots “The English Constitution” oder zu Max Webers “Wirtschaft und Gesellschaft”.

In diesem neuartigen Band werden 129 zentrale Werke der Politikwissenschaft handlich besprochen. Das ist verdankenswert, wenn man gezwungen ist, für eine Fragestellung, für ein Projekt oder für eine Vorlesung schnell abzuschätzen, was der Gehalt der Ergebnisse und Erkenntnisse ist.

Gerade dann, wenn man von einem Werk der Politikwissenschaft so angesprochen wird, steht es einem ja frei, bei geweckter Muse mal das ganze Buch zu lesen!

Claude Longchamp

Selbstverständlich bleiben zwei Werke zur Politikwissenschaft unverzichtbar:
Kurzfassung: Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe (2 Bd.). München 2005 (3. Aufl.)
ausführliche Fassung: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik (7 Bde.), München 1995 ff.

Die online Kurzversion kann man hier nachschlagen:
PolitikWissen.de

Empirische Politikforschung in der Praxis (I)

(zoon politicon) Am Freitag startet meine Vorlesung in St. Gallen. Sie trägt den Titel “Empirische Politikwissenschaft in der Praxis“. Sie findet im Rahmen der Masterausbildung zu “International Affairs and Government” statt.

Die Vorlesung will in das Denken, Forschen und Handeln von PolitikwissenschafterInnen einführen, die im wachsenden Feld der angewandten Forschung tätig sind. Konkret will ich den Unterschied aufzeigen zwischen dem (theoretischen) Wissen, das die Politikwissenschaft hat, und dem (praktischem) Können, das man als Politikwissenschafter in der Praxis haben muss.

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Schema zur Strukturierung der Anwendungsfelder in der Vorlesung “Empirische Politikwissenschaft in der Praxis” (anclickbar)

Ich baue die Vorlesungsteile auf folgendem Schema auf: In der Wissenschaft teilt man die Tätigkeiten normalerweise zwischen Theorie und Empirie auf, also zwischen rein rationalen Ueberlegungen, was Sache ist, und den Erfahrungen, die man als Mensch mit der Sache macht. Das leistet empirische Forschung. In der Praxis ist diese Unterscheidung wichtig, weil sie hilft, ungeprüftes und geprüftes Wissen zu unterscheiden. Danach ist sie aber nicht mehr die massgebliche Differenzierung: Vielmehr gilt nun das geprüfte Wissen als Lehre, von der man durch die Anwendung zur Praxis kommt. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf Probleme, die vorhanden sind, sinnvolle Antworten vorschlägt.

Politik basiert häufig nur auf der Kombination von Erfahrungen der PolitikerInnen einerseits, und der Praxis, die sie daraus ableiten. Forschung wird in Sachfragen beigezogen, nicht aber für die politische Arbeit selber. PolitikwissenschafterInnen in der Praxis wollen gerade das aufbrechen. Angewandte Politikforschung nun, die Lehren, die die Politikwissenschaft erarbeitet hat, mit dem Argument, die Rationalität von Entscheidungen prozessmässig zu erhöhen.

Aufbauend auf dieser These zur Vorlesung hat die Veranstaltung 6 Bestandteile:

1. Einleitung: Was ist empirische Politikforschung in der Praxis
2. Anwendungsfeld 1: Wahlen
3. Anwendungsfeld 2: Volksabstimmungen
4. Anwendungsfeld 3: Politische Kultur und Wertewandel
5. Gruppenarbeiten: Präsentation und Diskussion
6. Schlussfolgerungen

Jeder Vorlesungstag besteht aus je 4 Stunden Unterricht in Form einer Vorlesung resp. von Gruppendiskussionen.

Am ersten Freitag behandle ich die Einleitung abschliessend. Die Unterlage dazu kann hier abgerufen werden.

Ich freue mich auf die Veranstaltung, auf die aktive Teilnahme von StudentInnen, und bin auch offen für Anregungen, die via den Blog von Aussen kommen!

Claude Longchamp

SRG Hochrechnung zu eidgenössischen Volksabstimmungen

(zoon politicon) Die Hochrechnung für die SRG SSR idée suisse Medien ist eine typische Eigenentwicklung des Forschungsinstituts gfs.bern. Das Produkt wird seit 16 Jahren angeboten; aktuell wurde die bestehende Zusammenarbeit wieder verlängert.

Proben für die Hochrechung: die SF DRS Crew an einem frühen Abstimmungssonntag

Auf nationaler Ebene ist die Dienstleistung mit der denkwürdigen Volksabstimmung über den Beitritt der Schweiz zum EWR entstanden. Wichtigstes Ziel war es, die Bekanntgabe des verbindlichen, aber nicht offiziellen Abstimmungsergebnisses merklich zu beschleunigen. Das Produkt gefiel damals so gut, dass wir seither lückenlos an jedem gesamtschweizerischen Abstimmungstag eine Hochrechnung realisiert haben.

Basisinformation

Die Hochrechnung basiert auf einer ersten Extrapolation von realen Gemeindeergebnissen auf die Kantonsebene, und auf einer zweiten Extrapolation von den Kantonen auf den Bund.

Entscheidend ist dabei die Auswahl der Gemeinden. Sie werden so bestimmt, dass sie für ihren Kanton repräsentieren. Um Zufälligkeiten auszuschliessen, werden aber in der Regel nur Gemeinden von einer mittleren Grösse berücksichtigt, die garantieren, schnell ausgezählt zu haben. Im Schnitt kommen rund 80-100 Gemeinden pro Vorlage zum Zug, – je nach Thema jeweils andere.

Die Extrapolationen in zwei Stufen basierte von Anbeginn an auf mathematischen Modellen. Dagegen war die Bestimmung von Referenzabstimmungen anfänglich Intuition. Heute entsteht sie aufgrund statistischer Vergleichsmodelle. Letzteres ist unsere eigentliche kreative Leistung. Vermutlich verfügen nur wir über das Wissen, wie das am Sichersten geschieht.

Anders als im Ausland hat sich in der Schweiz die exit-poll Methode als Hochrechnungsbasis nicht durchgesetzt. Das hat zwei Gründe: Die Kosten sind höher, und die hohe Zahl der vorzeitig briefliche Stimmenden mindert den Wert von Befragung vor den Abstimmungslokalen.

Leistungen
Die Hochrechnung selber leistet zweierlei:

. Erstens, die schnelle Bestimmung des Volks-, und wenn nötig auch des Ständemehrs aus Gemeindedaten.
. Zweitens, aber auch eine Analyse des räumlichen Abstimmungsprofils hinsichtlich seiner polit-ökonomischen und polit-kulturellen Eigenheiten.

Ueber die Hochrechnung wird seit dem 6. Dezember 1992 in den SRG-Medien berichtet. Die Information setzt an Abstimmungen um 12 Uhr 30 ein, und sie endet meist um zirka 17 Uhr 30. Im Normalfall werden die hochgerechneten Ergebnisse alle 30 Minuten aufdatiert resp. zu Erstanalyse verarbeitet.

Auf Internet wird die Entwicklung der Ergebnisse dokumentiert. Die meisten Agenturen, privaten Radios der Schweiz und ausländischen Medien, die sich für die Schweiz interessieren, berichten darüber.

Genauigkeit
Unterschieden wird zwischen Trend- und Hochrechnungen. Trendrechnung lassen nur qualitative Aussagen (wird angenommen, wird abgelehnt, ist nicht entscheidbar) zu, während Hochrechnungen Angaben machen, in welchem Verhältnis das Ja und das Nein zueinander stehen. Um 14 Uhr muss eine Hochrechnung vorliegen, die bis am Schluss auf 2 Prozent genau bleibt. Im Schnitt weichen unsere Extrapolationen um 1 Prozent vom vorläufig amtlichen Endergebnis ab, das die Bundeskanzlei am Abend des Abstimmungstages kommuniziert.

Die Ironie der Geschichte: Die Hochrechnungen haben sich bei politische Interessierten innert kürzester Zeit durchgesetzt. Sie gelten heute als zuverlässige Referenz für den Abstimmungsausgang. Sie haben sich so auch vorteilhaft auf die Glaubwürdigkeit von Umfragen vor Abstimmungen ausgewirkt, obwohl sie selber gar kein demoskopisches Produkt sind!

Claude Longchamp

Live Bericht aus dem Hochrechnungszentrum in der Blogosphäre:
2.3.2007
17.6.2007

Politologie für die Zeitungslektüre

Wie die meisten Menschen lesen auch PolitologInnen Zeitungen. Doch sie machen es mit anderen Filtern. Für Sie sind Zeitungsinformationen auch Ausgangslagen für die Schnellanalyse dessen, was politikwissenschaftlich Relevantes berichtet wird. Und das kann auch für Nicht-PolitologInnen ganz nützlich sein.
Werner Patzelt, Politikprofessor in Dresden, der eine erfolgreiche Einführung in die Politikwissenschaft verfasst hat, machte hierfür zwei Vorschläge, die man sich gut merken kann.

Das PPP/MINK-Schema von Werner Patzelt für die rasche Analyse politikwissenschaftlich interessanter Zeitungsberichte

PPP: der dreifach differenzierte Politikbegriff

Im Deutschen haben wir nur einen Begriff für “Politik”; im Englischen sind es drei: “PPP” steht für “policy”, “politics” und “polity”.
“Policy” umschreibt den Inhalt einer Politik, “politics” den Prozess der Entscheidung, und “polity” die strukturellen resp. kulturellen Voraussetzungen, aufgrund derer eine Entscheidung hierzu stattfindet.
In einem Artikel zum Handeln eines politischen Akteures (z.B. Staatspräsident, Ministerin, Parlamentarier, Gerichtvorsteher, Polizeibehörde, ParteivertreterInnen, Quartierverein) stellt sich also zuerst die Frage, um was es geht: um ein Programm, um eine Entscheidung oder um das System.
Meist reicht eine der drei Begriffsbestimmungen, gelegentlich braucht man zwei, selten drei. Das zeigt, wie undifferenziert der deutsche Politikbegriff ist. Es verweist auch darauf, mit Vorteil in den englischen Politik-Kategorien zu denken.

MINK: die vier zentralen Politikdimensionen
Nun sind wir wieder beim Deutschen. Das Wort besteht aus den Anfangsbuchstaben der vier zentralen, politikwissenschaftlichen Dimensionen: der Macht, der Ideologie, den Normen und der Kommunikation.

Ideologie ist die selektive Wahrnehmung oder Schilderung einer Ausgangslage. Es interessiert vor allem, was ausgeblendet wird und bleibt. Denn es gilt: Politische Akteure handeln aufgrund ihrer Ideologie, also ihrer selektiven Definition von Realität. Sie unterscheiden sich von anderen Akteuren aufgrund der Unterschiede im Zugriff auf Situationen und Veränderungen.
Wenn gehandelt wird, steuern Normen jegliche Handlung. Politologisch relevant ist vor allem, wie ein Akteur mit rechtlichen, politischen oder sozialen Normen umgeht, denn so lassen sich seine Absichten bestimmen. Regierungen müssen in der Regel legal und konventionell handeln. Oppositionelle dagegen spielen mit dem Tabubruch, der Normverletzung oder dem Gesetzbruch, um auf ihre speziellen Situation aufmerksam zu machen.
In einer Entscheidung haben jene Akteure Macht, welche die Chancen haben, ihren Willen auch gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen. Macht zeigt sich auch, wenn man Entscheidungen verhindern oder die Voraussetzung von Entscheidungen so gestalten kann, dass der eigene Wille begünstigt wird. Macht zeigt sich in jeder Entscheidung, in der Unterscheidung von Entscheidern und Entscheidbetroffenen.
Schliesslich ist Kommunikation der direkte oder medial vermittelte Austausch von Informationen und Sinndeutungen. Kommunikation ist bei der Konstitution ideologischer Wirklichkeiten massgeblich, Kommunikation zeigt den Umgang mit Normen, und mit Kommunikation propagieren Akteure auch Ziele und Mittel, die in Entscheidungen eingesetzt werden.

Nicht immer sind alle vier Dimensionen werden durch jede politische Handlung angesprochen. Das liegt in der Natur der Sache. Meist kommt in Zeitungsartikeln jedoch die Akteurskommunikation in Kombination mit Ideologien, mit Normen oder mit Macht in Verbindung vor.

Meine Erfahrung
Meine Erfahrung bei der Anwendung des Schemas sagt mir: Das MINK-Schema kann bei der Zeitungslektüre immer dann verwendet werden, wenn ein politische Akteur handelt und man nach den politikwissenschaftlich relevanten Begriffen und Dimensionen dieser Handlung fragt. Das erschliesst einem Zusammenhänge, ob sie im Bericht vorkommen oder nicht. Und genau das hilft, die letztlich meist positionslose Zeitungslektüre, deren Informationen jenseits von Sensationen sofort wieder vergessen werden, politologisch interessanter zu gestalten!

Claude Longchamp

Werner Patzelt: Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriss des Faches und studiumbegleitende Orientierung, Passau 1993 resp. eine der Neuauflagen davon

Vorlesung vs. Vortragung

(zoon politicon) Die Vorlesung stammt aus der Zeit der wachsenden Hörerschaft an der Universität, die sich ein Buch nicht leisten konnte. Also liess man sich vorlesen. Der Vorlesende wiederum war sich so sicher, nicht gegen die Zensur zu verstossen. Denn vorgelesen wurde nur aus zugelassenen Bücher.

Das ist heute alles anders.

Aber es werden unverändert Vorlesungen gehalten. Der Dozent spricht, die Studenten hören zu, und schreiben mit, wie wenn sich nie etwas verändert hätte.

Im Idealfall gibt es heute ein vollständiges Skript. Das erleichtert die Nachbereitung der Veranstaltung und die Vorbereitung von Prüfungen. Ersteres ist unverändert löblich, letzteres ist dient meist nur dem Training des Kurzzeitgedächtnisses.

So sind die wenigen Neuerungen zu begrüssen, keine Texte mehr, sondern nur noch Gedankenstützen in Folienformen abzugeben. Sie zwingen zu erhöhter Aufmerksamkeit während den Veranstaltungen. Und so regen sie an, zwischen Nachvollzug bestehender Unterlagen und und Aufnahme des Gesagten zu unterscheiden, denn das muss in den Unterlagen mit eingene Worten und Gedanken ergänzt werden.

Das Beste ist aber immer noch die frei gehaltene Rede während einer Vortragung. Denn sie gelingt nur, wenn der Dozent den Stoff bis auf den Grund beherrscht und ihn mit Ueberzeugung vermitteln kann. Und das ist der Anfang der Bildung und ihrer Vermehrung!

Claude Longchamp

“politik digital” setzt in den Neuen Medien Massstäbe

(zonn politicon) Die Website ist ausgezeichnet. Sie wurde auch mehrfach ausgezeichnet.

politik-digital” setzt auf dem Internet Massstäbe in der Politikvermittlung. Betrieben wird sie vom eingetragenen Verein “pol-di.net”.

Im Mittelpunkt steht, mehr Transparenz zu schaffen zu politischen Institutionen und politischen Entscheidungen. Damit will man einen Betrag leisten zujm Aufbau der europäischen Informations- und Wissensgesellschaft.

Die Website kennt drei Schwerpunkte:

. eConsumer: Hier geht es um politische Bildung für Netznutzer.
. e Democracy: Hier geht es um politische Meinungsbildung via Internet.
. eGovernment: Hier geht es um Entwicklungen im elektronischen Behördenverkehr.

Die Autoren sind anerkannte Politikwissenschafter, gewählte Mitglieder des (deutschen) Parlaments und WebjournalistInen mit Erfahrungen.

Wer sich interessiert, kann einen Newsletter abonnieren, mitdiskutieren, Kommentare verfassen, oder ganz einfach: ausdrucken und nachlesen!

Zurecht bezeichnet man “politik-digital” als die grösse unabhängige Internet-Plattform für Politik und Neue Medien. Schade nur, dass der Export der deutschen Fassung in anderen Ländern wie der Schweiz nicht recht Fuss fassen will.

Claude Longchamp

In welcher Welt leben wir eigentlich?

(zoon politicon) Sicher, der Titel, den die BBC-Journalistin, Jessica Williams, ihrem Buch gegeben hat, ist aus doppeltem Grund reisserisch; er lautet: “50 Fakten, die die Welt verändern sollten”. Einmal gibt er vor, 50 (neue) Fakten zu präsentieren; sodann behauptet er, dass die Titel uns zu Aenderungen bewegen sollten.

Was die Welt verändern sollte, stellte die BBC-Journalistin Jessica Williams zusammen; seit 2004 wird der Beststeller der Wissenschaftsjournalistin diskutiert.

Als Wissenschaftler wird man zunächst antworten: eine fleissige, journalistische Arbeit. Und man wir auch festhalten, dass Anstösse gegeben werden. Gleichzeitig wird man bei so apodiktischen Aufhängern erst recht die wissenschaftliche Skepsis spielen lassen. Sind das Realitäten oder Konstruktionen? Sind es Faktoren oder Zuspitzungen?

Eine der unbestrittenen Aufgabe der Wissenschaft ist es , Richtiges von Falschem zu trennen, um Schlussfolgerungen nur auf gesicherten Wissen ziehen zu können. Die diesbezügliche kritische Diskussion des Buches, das 2007 auch auf deutsch erschienen ist, hat noch nicht stattgefunden. Also sollte sie geführt werden, – auch von WissenschafterInnen.

Nun ist die skeptische Prüfung von Wissen nur die eine Aufgabe des wissenschaftlichen Arbeitens. Zu ihren Qualifikationen, vor allem auch der Forschung gehört die Neugier, denn nur die spornt an, Bekanntes zu hinterfragen, Unbekanntes sichtbar zu und so Neues zu erkunden, oder eben: zu ent-decken.

Und das ist unbestrittene Stärke dieses Buches: Es präsentiert eine Unmenge von Hinweisen auf Sachen, die gegenwärtig geschehen, schief laufen, würde die autorin sagen. Es interessierte sie im wahrsten Sinne des Wortes die Welt, in der wir leben. Und das ist noch immer der beste Aufhänger für jegliches Nachdenken und auch wissenschaftliches Forschen.

Genau deshalb bringe ich hier die 50 Schlagzeilen des Buches, – unkommentiert. Nicht als bewiesen Fakten, aber als inspirierende Hinweise, die uns motivieren sollen, für das wissenschaftliche Arbeiten eigene Fragen zu stellen, Diagnosen zu entwickeln, Dokumentationen anzulegen, Belege zu prüfen und Folgerungen daraus zu ziehen!

1. Eine japanische Frau kann damit rechnen, 84 Jahre alt zu werden, eine Botswanerin wird im Mittel nur 39.
2. Ein Drittel aller übergewichtigen Menschen lebt in Entwicklungsländern.
3. Die Vereinigten Staaten und Grossbritannien haben von allen Industrienationen die meisten Teenagerschwangerschaften zu verzeichnen.
4. China fehlen 44 Millionen Frauen.
5. In Brasilien gibt es mehr Avon-Beraterinnen als Armeeangehörige.
6. Im Jahre 2002 fanden 81 Prozent aller Hinrichtungen weltwelt in nur drei Ländern statt: in China, im Iran und in den Vereinigten Staaten.
7. Britische Supermärkte wissen mehr über ihre Kunden als die britische Regierung.
8. Jede Kuh in der EU wird mit zwei 2,5 Dollar pro Tag subventioniert. Das ist mehr, als 75 Prozent aller Afrikaner zum Leben haben.
9. In über 70 Ländern verstossen gleichgeschlechtliche Beziehungen gegen das Gesetz. In neun Ländern werden sie mit dem Tod bestraft.
10. Einer von fünf menschen auf der Erde lebt von weniger als einem Dollar pro Tag.
11. In Russland sterben jährlich über 12’000 Frauen als Opfer von häuslicher Gewalt.
12. Im Jahre 2003 unterzogen sich 145 Millionen Amerikaner der einen oder anderen Form von plastischer Chirurgie.
13. In jeder Stunde wird mindestens ein Mensch von Landminen getötet oder verstümmelt.
14. In Indien gibt es 44 Millionen Kinderarbeiter.
15. Ein Bewohner der Industrienationen verzehrt jährlich zwischen sechs und sieben Kilogramm an Nahrungsmittelzusatzstoffen.
16. Der Golfspieler Tiger Woods ist der höchstbezahlte Sportler der Welt. Er verdient 78 Millionen Dollar pro Jahr – oder 148 Dollar pro Sekunde.
17. 7 Millionen Amerikanierinnen und eine Million Amerikaner leiden unter einer Essstörung.
18. Fast die Hälfte aller britischen Fünfzehnjährigen hat schon einmal illegale Drogen ausprobiert, und fast ein Viertel gehört zu den Gewohnheitsrauchern.
19. Die Industrielobby beschäftigt in Washington 67’000 Personen – das macht 125 Lobbyisten auf jeden gewählten Kongressabgeordneten.
20. In jeder Minute sterben zwei Menschen durch Autounfälle.
21. Seit 1977 hat es an nordamerikanischen Abtreibungskliniken über 90’000 Fälle von Gewalttaten und Vandalismus gegeben.
22. Mehr Menschen kennen die goldenen Bögen des McDonald’s-Emblems als das Kreuz der Christenheit.
23. In Kenia machen Bestechungsgelder in einem normalen Durchschnittshaushalt einen Drittel der Ausgaben aus.
24. Weltweit werden durch den Handel mit illegalen Drogen etwas 400 Milliarden Dollar umgesetzt – ungefähr genauso viel wie in der gesamten legalen Pharmaindustrie der Welt.
25. Ueber ein Drittel aller Amerikaner glaubt, dass schon einmal Ausserirdische auf der Welt gelandet seien.
26. In über 150 Ländern wird gefoltert.
27. Jeder fünfte Mensch auf der Erde leidet Tag für Tag Hunger – das sind insgesamt mehr als eine Milliarde Menschen.
28. Ein in den Vereinigten Staaten geborener Schwarzer männlichen Geschlechts wird mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu drei mindestens einmal im Leben im Gefängnis landen.
29. Ein Drittel der Weltbevölkerung ist gegenwärtig in einen Krieg verwickelt.
30. Die Oelreserven der Welt könnten im Jahre 2040 erschöpft sein.
31. 82 Prozent aller Raucher leben in Entwicklungsländern.
32. Ueber 70 Prozent der Erdbevölkerung haben noch nie ein Freizeichen gehört.
33. Bei einem Viertel aller bewaffneten Konflikte der Welt in den letzten Jahren hat der Kampf um natürliche Ressourcen eine ursächliche Rolle gespielt.
34. In Afrika sind 30 Millionen Menschen HIV-positiv.
35. Jedes Jahr sterben 10 Sprachen aus.
36. Jahr für Jahr kommen mehr Menschen durch Selbstmord ums Leben als in sämlichten bewaffneten Konflikten der Welt.
37. Jede Woche werden in Amerika im Durchschnitt 88 Kinder der Schule verweisen, weil sie eine Schusswaffe mit in den Unterricht gebracht haben.
38. Es gibt auf der Welt mindestens 300’000 Gesinnungsgefangene.
39. In einem Jahre werden 2 Millionen Mädchen und Frauen Opfer von Genitalverstümmelungen.
40. In den bewaffneten Konflikten der Welt kämpfen gegenwärtig 300’000 Kindersoldaten.
41. An den allgemeinen Wahlen des Jahres 2001 beteiligten sich in de Grossbritannien knapp 26 Millionen Wähler. Bei einer Staffel der Reality-TV-Show Pop Idol wurden über 32 Millionen Stimmen abgegeben.
42. Amerika gibt jährlich 10 Milliarden Dollar für Pornographie aus – denselben Betrag, den es auch in die Auslandhilfe steckt.
43. Im Jahre 2003 gaben die Vereinigten Staaten 396 Milliarden Dollar für die Rüstung aus. Das entspricht dem Dreiunddreissigfachen dessen, was alle sieben “Schurkenstaaaten” zusammen investieren.
44. Gegenwärtig gibt es auf der Welt 27 Millionen Sklaven.
45. In Amerika werden Stunde 2,5 Millionen Plastikflaschen weggeworfen. Das würde ausreichen, um alle drei Monate den Weg zum Mond damit zu pflastern.
46. Ein durchschnittlicher britischer Stadtbewohner wird bis zu dreihundert Mal am Tag von einer Kamera erfasst.
47. Jedes Jahr werden etwa 120’000 Frauen und Mädchen nach Westeuropa verkauft.
48. Eine aus Neuseeland nach Grossbritannien eingeflogene Kiwi produziert das Fünffache ihres Gewichtes an Treibhausgasen.
49. Die Vereinigten Staaten schulden den Vereinten Nationen über eine Milliarde Dollar an Beiträgen.
50. Kinder, die in Armut aufgewachsen sind, erkranken mit einer dreimal so hohen Wahrscheinlichkeit an psychischen Leiden wie Kinder aus wohlhabenden Familien.

Und jetzt?

Jessica Williams würde sagen: Handeln Sie sofort!
Ich schiebe nach: Prüfen Sie zuerst!

Jessica Williams: 50 Fakten, die die Welt verändern sollten, München 2007 (engl. Orginalausgabe: 50 Facts that Should Change the World, Cambridge 2004)

Konkordanz in der Schweiz auf dem Prüfstand

(zoon politicon) Seit die SVP Schweiz sich nicht mehr in der Regierung sieht, ihren Wählerauftrag aus der Opposition zum Bundesrat heraus sichtbarmachen will, an den Bundesratsparteiengesprächen nicht mehr teilnimmt, und in der “Arena” gleich starke Delegationen von Regierung und Opposition fordert, ist die Konkordanz wieder in aller Leute Mund. Seither wird auch viel behauptet, wie man sich in der Konkordanz nicht zu verhalten habe, wer den Rubikon überschritten habe, und welche Institutionen der Konkordanz überflüssig geworden seien.

Die Untersuchung
Gerade recht, um die tagesaktuelle, von parteipolitischen Interessen bestimmte Diskussion zu spiegeln, kommt da die politikwissenschaftliche Dissertation von Christian Bolliger, die 2007 unter dem Titel “Konkordanz und Konfliktlinien in der Schweiz, 1945 bis 2003”, erschienen ist. Bolliger interessiert sich dabei nicht für alles und jedes, was mit der Konkordanz zu tun hat, sondern für eine spezifische, in der Schweiz aber wichtige Fragestellung: “Wie stark entsprach die politische Praxis der schweizerischen Regierungsparteien im Wandel der Zeit dem Modell der Konkordanz, und trug diese Praxis zur Verminderung der gesellschaftlichen Praxis bei?”

akteursbeziehungen
Analyseschema für die parteipolitische Praxis der Konkordanz von Christian Bolliger (anclickbar)

Nach 467 kohärent und flüssig geschriebenen Seiten, die sich den Grundlagen der Fragestellung und dem empirisch anspruchsvollen Test der relevanten Hypothesen zu den Akteursbeziehungen widmen, kommt der Berner Politikwissenschaft zu folgendem bündigen Schluss: “immer weniger”. eigentlich hätte er noch beifügen müssen: ziemlich unberechtigterweise!

Der Analyseansatz
Bolliger denkt nicht streng institutionell. Konkordanz ist für ihn eine Praxis. Begründet sieht er sie, in Anlehnung an die international etablierte Konkordanztheorie, zuerst in der Segmentierung der Schweiz. Diese hat vier starke Konfliktlinien hervorgebracht, die es so kombiniert in andern Gesellschaften nicht gibt: die konfessionelle Konfliktlinie zwischen Katholiken und Reformierten, den Gegensatz von Stadt/Land, die Unterschiede zwischen den Sprachregionen und die Klassenstruktur im Besitzstand. Doch auch die direkte Demokratie, speziell das Referendum, sieht er im Gefolge der schweizerischen Konkordanztheorie, als Rechtfertigung, denn sie hat nach den Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit den Zwang zur Zusammenarbeit der politischen Eliten erhöht.

Daraus leitet der Autor sein analytisches Modell der Akteursbeziehungen ab. Zwischen den grösseren Parteien braucht es Kooperation, hier als Parteienkonkordanz beschrieben, denn zwischen den BürgerInnen einer segmentierten Gesellschaft herrscht Polarisierung. Die Parteien wiederum haben die Aufgabe, Bindungen herzustellen zwischen den StimmbürgerInnen und den Eliten, die konfliktmindernd wirken. Sie müssen dabei, eingebunden in die Parteienkonkordanz, ihre innere Geschlossenheit bewahren können.

Wie das genau ausgeprägt ist, interessierte den ehemaligen Doktoranden. Wenn Parteienkooperation und innere Geschlossenheit funktionieren, spricht er von Stabilität der Konkordanz. Gibt es nur Parteikooperation, halten die Parteien die inneren Widersprüche aber nicht aus, redet er von brüchiger Konkordanz. Gekittet ist die Konkordanz, wenn wenn die innere Geschlossenheit tief und die Parteikooperation gering ist. Und schliesslich ist die Parteienkonkordanz gescheitert, wenn es keine Parteienkooperation mehr gibt, dafür die Geschlossenheit der parteilichen Eliten hoch ist. Das jedoch ist nur die horizontale Konkordanz. Die vertikale entsteht aus den alles entscheidenden Bindungen der Parteieliten und den StimmbürgerInnen:

. Wirksam ist die Konkordanz dann, wenn Parteienkooperation und gesellschaftliche Bindungen hoch sind, denn das führt zu einer Verminderung der Polarisierung.
. Unwirksam ist sie, wenn die Parteienkooperation funktioniert, es aber an gesellschaftlichen Bindungen mangelt.
. Ein offener Parteienwettbewerb herrscht vor, wenn die Polarisierung in der Bürgerschaft gering, in den parteilichen Eliten aber stark sind.
. Schliesslich ist von manifesten Konflikten die Rede, wenn sowohl die gesellschaftliche wie auch die parteipolitische Polarisierung ausgeprägt ist.

Die Ergebnisse
Was nun ist, bei der Analyse von Volksabstimmungen, Parteikampagnen und politischer Praxis Sache?

Den gewählten Zeitraum unterteilt der Autor zunäcsht in drei Phasen: die unmittelbare Nachkriegszeit, die er mit Blüte der Konkordanz zusammenfasst, die 70er und 80er Jahre, welche die etablierte Konkordanz herausgefordert haben, und die Jahrtausendwende, in der die schweizerische Konkordanz entwertet worden sei. Vertieft beschäftigen muss man sich also nur mit der letzten Phase.

Den generellen Befund gilt es allerdings hinsichtlich der vier eingeführten Konfliktlinien zu differenzieren:

. Bezogen auf den Religionsfrieden in der Schweiz sieht Bolliger die Konkordanz weiterhin wirken. Die Parteien sind weiterhin in den Konfessionsgruppen verankert, und sie suchen in konfessionellen Fragen das Einvernehmen untereinander.
. Wechselhaft ist die Konkordanz in Sprachfragen geworden. Das hat weniger mit dem Verhalten der Parteien untereinander zu tun, als mit den Aufleben der Sprachgegensätze unter den Stimmberechtigten vor allem angesichts der aussenpolitischen Oeffnung.
. Verringert hat sich die Konkordanz bei den Klassenfragen. Hier ist man zu einem offenen Parteienwettbewerb übergegangen, bei dem man sich auf Eliteebene konkurrenziert, ohne dass in der stimmenden Bevölkerung ein vergleichbarer Konflikt festzustellen sei.
. Wenn das alles die Krisenbefunde der Konkordanz relativiert, so sieht Bolliger diese bei den Stadt/Land-Gegensätzen generell aufgebrochen: Sowohl die Elitekooperation sei um die Jahrtausend-Wende verschwunden, als auch die Bevölkerung in den Zentren und ihren Peripherien würden in unterschiedliche Richtungen tendieren. Das ist denn auch die eigentliche Herausforderung unserer Zeit.

Das alles führt den Autor zu vier Folgerungen für die gegenwärtige Situation:

. Erstens, die innere Geschlossenheit der Parteien bleibt, trotz selbständigen Kantonalparteien und ausdifferenzierten Verbänden, relativ hoch und konstant.
. Zweitens, die Bindungen der Parteien in der stimmberechtigten Bevölkerung sind aber schwach, sie ist aber teilweise im Wandel begriffen.
. Drittens, die gesellschaftlichen Konfliktlinien ihrerseits bestehen oder brechen auf, vor allem in räumlicher Hinsicht bei der Sprache und bei der Siedlungsart.
. Viertens, die Konkordanz ist angesichts dieser Verhältnisse in ihrer Praxis erheblich erschüttert.


Die Würdigung

Vieles von dem, was Christian Bolliger in seiner Doktorarbeit berichtet, dürfte Zustimmung finden. Sein Ansatz ist weitgehend deskriptiv, und seine Beschreibung treffen wohl zu. Allerdings neigt der Autor zu erheblichen Schematisierungen, die im Zeitverlauf, auf Ebene der einzelnen Parteien und bezogen auf die untersuchten Volksabstimmungen differenzierter hätten ausfallen können.

Die eigentliche Leistung der Disseration ist aber, eine Ordnung in die Begriffe der Konkordanzpraxis gebracht zu haben. Diese ist, so darf man folgern, nicht zwangsläufig eine theoretische Grösse, die aus der Gesellschaft, ihren zurückliegenden Konflikten, deren Verabreitungen in institutionellen Regelung entsteht. Vielmehr ist eine gewisse Bandbreiten an verschiedenen Praxen möglich, wie die Akteurskonstellationen zeigen: Wirksame Konkordanz in Konfessionsfrage steht eine offenen Wettbewerb bei Wirtschaftsinteressen gegenüber, brüchige Konkordanz in der Sprachenfrage koexistiert tiefen Konfliktlinien bei den Stadt/Land-Gegensatzen. Die einfache Schematisierung zwischen geeinter und gespaltener Gesellschaft, die Konkordanzdemokratie erfordert oder Wettbewerbsdemokratie zulässt, ist damit aufgehoben.

Die politische Praxis, die sich seit dem 12. Dezember 2007 stellt, erhellt die Studie von Christian Bolliger damit noch nicht. Der wissenschaftliche Praxis zur Konkordanzpraxis , die seit den Arbeiten von Neidhard und Lijphard zementiert erschien, erweitert die Arbeit um eine willkommene Innovation.

Claude Longchamp

Das generelle Forschungsprojekt
Christian Bolliger: Konkordanz und Konfliktlinien in der Schweiz 1945 bis 2003, Diss. Bern 2007
Die Buchreihe