Kurzer Rückblick auf heute (II)

(zoon politicon) Wahlentscheidungen, die wir heute im Kurs “Empirische Politikforschung in der Praxis” behandelt haben, sind sozialwissenschaftlich gut untersucht. Sie haben, mit dem Wahlergebnis, das man erklären will, eine objektive und quantifizierte Grösse als Ausgangspunkt. Sie kommen in allen allen Demokratie vor, und sie folgen sich zeitlich in regelmässigen Abständen. Das sind fast schon ideale Voraussetzungen für empirische Forschung. Hinzu kommt, dass es sich um ein Forschungsfeld handelt, indem sich Grundlagen- und Anwendungsforschung seit langem bewegen und sich auch gegenseitig befruchtet haben. Wahlforschung ist heute nicht nur eine der entickeltesten Teilgebiete der Politikwissenschaft. Sie hilft auch, relevante Tatsachen zu identifizieren, sie bietet Erklärungen hierfür an, sie erlaubt Prognosen, und sie gibt auch Handlungshinweise für ein rationaleres Verhalten politischer Akteure.


Mein Arbeitsplatz nach den letzten Parlamentswahlen im TV-Studio Leutschenbach, wo ich als Wahlanalytiker für die SRG SSR idée suisse tätig war

1. Theorien des Wählens
Die relevante Theoriediskussion ist auf Deutsch im Handbuch Wahlforschung weitgehend dargestellt worden. Auf der theoretischen Ebene werden vier Ansätze unterschieden:
. Wahlgeografische Erklärungen aufgrund der räumlichen Bedingungen, die Religion, Sozialstruktur und politische Tradition formen und so vor allem in Agrargesellschaften politische Entscheidungen bei Wahlen determinieren;
. wahlsoziologische Erklärungen, wobei politische Parteien das konfliktreiche Verhalten von BürgerInnen regeln, indem sie ihre Werthaltungen, Interessen und Gruppenzugehörigkeiten während Wahlkämpfen repolitisieren;
. wahlpsychologische Erklärungen, für die Einstellungen der BürgerInnen wie die mittelfristige Parteiidentifikation, die Kandidaten- und Themenorientierungen, die während des Wahlkampfes entstehen, die Wahlentscheidungen bestimmen;
. und wahlökonomische Erlärungen, die BürgerInnen als rationale Nutzenmaximierer sehen, die bei Wahlen auf dieser Basis namentlich eine ökonomische Evaluierung der Regierungsarbeit vornehmen.
Nach Ansicht verschiedener führender Wahlforscher zeichnet sich heute immer mehr ab, dass wahlgeografische und wahlsoziologische Theorien zu komplex angelegt sind und die Erklärung der Wahlentscheidung zu weit hergeholt suchen. Diese findet nach Auffassung von Politikwissenschaftern wie Jürgen Falter weitgehend im Menschen selber statt und könnte mit einer Synthese von ökonomischen und psychologischen Theorien noch verbessert untersucht resp. erklärt werden.

2. Empirie (bezogen auf die Schweiz)
. Seit 1995 testet die akademische Wahlforschung in der Schweiz sozialwissenschaftliche Theorien, um das hiesige Wahlverhalten zu erklären. Sie kommt dabei zum Schluss, dass es am sinnvollsten ist, sozialpsychologische Ansätze, angereichert durch ökonomische Erklärungen einzusetzen. Das aktuelle Wahlverhalten ergibt sich demnach durch die bisherige Wahl, die mittelfristige Parteiidentifikation und die Position auf der Links/Rechts-Achse, erweitert um die Themenidentifikationen der Wählenden.
. Die angewandte Wahlforschung wurde ihrerseits 1999 neu begründet. Sie versucht, sowohl nachfrage- wie auch angebotsseitig Wahlverhalten zu erklären. Die Parteien werden nicht als fixe Grössen gesehen, sondern aufgrund ihrer Kampagnenfähigkeit als variable, die sich in unterschiedlich intensivem und geeignetem Masse an die Wählerschaft wenden. Diese wiederum identifiziert sich mit Parteien aufgrund eines für das Zielpublikum adäquat geführten Wahlkampfes, aufgrund der medialisierten Personen, welche die Partei repräsentieren und aufgrund von Werthaltungen resp. politischen Positionen in Grundsatzfragen.

3. Praxis (in der Schweiz)
In der Praxis geht es allerdings weit weniger um die Bildung von Erklärungsmodellen, denn um die Prognosefähigkeit der Wahlforschung. Dabei kommen immer mehr verschiedene Instrumente zum Einsatz, wie Wahlumfragen, Wahlbörsen, und ökonometrische Modelle. Bisher arbeiten kein Instrument ganz fehlerfrei. Die Güte der Prognosen kann aber verglichen werden. Anders als im Ausland schneiden dabei Wahlumfragen in der Schweiz neuerdings am besten ab. Wahlbörsen erweisen sich als etwas weniger genau, und sie haben vor allem keinen Erklärungswert. Extrapolationen von kantonalen Wahlen sind ebenfalls etwas weniger genau, vor allem weil sie die vermehrte Nationalisierung der Wahlkämpfe nicht reflektieren.

Meine Bilanz
Die Wahlforschung entwickelte sich rasch. Ihre Anfänge in der Schweiz gehen auf die 70er Jahre zurück. Die rasanten Veränderungen der Parteistärken bei Nationalratswahlen seit 1995 haben sowohl die Grundlagen- wie auch die Anwendungsforschung stimuliert. Die Erkenntnisfortschritte sind rasch gewachsen. Die Prognosefähigkeit hat generell zugenommen. Die Erklärungskraft der verwendeten Ansätze sind noch etwas uneinheitlich, es zeichnet sich aber hierzulande ein sozialpsychologischer mainstream ab, erweitert um ökonomische Erklärungen oder um kommunikationswissenschaftliche.
Die Wahlforschung ist generell wie auch in der Schweiz einer jener Zweige in der Politikwissenschaften, die durch eine evolutionäre Wissensvermehrung ausgehend von der Wissenschaft, aber auch übergreifend auf die Praxis gekennzeichnet sind.

Claude Longchamp

Empirische Politikforschung in der Praxis (II): das Anwendungsfeld “Wahlen”

(zoon politicon) In unserer Vorlesung “Empirische Politikforschung in der Praxis” steht das erste Anwendungsfeld an. Es handelt sich um Wahlen. Sie werden, wie angekündigt, unter drei Aspekten behandelt:

. den Theorien der Wahlforschung
. ausgewählten empirischen Ergebnisse hierzu
. und praxisrelevanten Themen der Wahlforschung.

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Szenen aus dem amerikanischen Wahlkampf 2008: “Who wins?” ist auch die zentrale Frage der empirischen Wahlforschung in Theorie und Praxis.

Das ganze wird auf die Frage der Prognosefähigkeit von Wahlen zugespitzt: Einerseits gehen wir der sehr praktischen Frage nach, war 2007 in der Schweiz die besten Wahlprognosen lieferte (Wahlbefragungen, Wahlbörsen, oder politökonomische Modelle). Anderseits fragen wir, welche Ansätze aus der Wahltheorie die besten Erklärungsansätze anbieten.

Wir behandeln Ergebnisse aus dem Studienreihen “Selects” und “Wahlbarometer”, und wir kombinieren sie mit Medieninhaltsanalysen zu Trend im gekauften und redaktionellen Raum während des jüngsten Wahlkampfes.

Ich verspreche nicht zu viel: Der eine oder andere Primeur aus der aktuellen Wahlforschung ist schon drin.

Am Schluss der Veranstaltung fragen wir uns, wie Theorie und Praxis in der Wahlforschung zusammenhängen, und wie, auf der Basis des kritischen Rationalismus, weitere Erkenntnisfortschritte möglich sind. Denn daran sind TheoretikerInnen wie PraktikerInnen interessiert!

Hier schon mal die neuen Unterlagen!

Claude Longchamp

smartvote hat den Wahlkampf 2007 neu aufgemischt

(zoon politicon) Für mich heisst der Wahlsieger 2007 “smartvote!”, die populär gewordene elektronische Wahlhilfe.

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Gepflegt ist die homepage von smartvote. Dezent sind die Farben, die im einfachen stiling auf einen wirken. Das macht den ganze Internetauftritt von smartvote fast schon elegant.

Klug war auch das Marketing. Den feschen und wenigen feschen Kandidierenden boten sie eine Plattform zu Eigenprofilierung. Den Wählenden offerierte man die Möglichkeit, ihr eigenes, politisches Spinnennetz zu erstellen, und so sich selber und die ihnen am nächsten stehenden KandidatInnen zu erkennen.

Listig haben die smartvotler damit die ganze politische Bürgerschaft dokumentiert. Fast eine Million Wahlberechtigte sollen sich so freiwillig registriert haben. Und für 187 den 200 Gewählten im Nationalrat gibt es jetzt ein einmaliges politische Nachschlagewerk. Das wird keiner pfiffigen und keinem pfiffigen Journalisten entgehen: Die nächsten vier Jahre wird wie noch nie kontrolliert werden, ob vor der Wahl auch nach der Wahl ist.

Clever hat die eigentliche Innovation dieses Wahlkampfes bewiesen, dass nicht einfach Föteli der BewerberInnen gefragt sind. Dass Personen nicht nur Emotionen transportieren, wie die Headlines der Medien suggieren. Nein, dass es auch 2007 ein eigentliches Bedürfnis gegeben hat, sich mit politischen Themen und Positionen der Parteien und KandidatInnen auseinander zu setzen.

Schlau, seit ihr, ihr Wahlsieger! Sogar ich bin euch beim Wahlentscheid halb gefolgt.

Claude Longchamp

Ein spannendes Experiment zur Wahlberichterstattung in der Wissensgesellschaft

(zoon politicon) Nur der Beste soll herrschen, meinte Platon. Doch Aristoteles widersprach ihm: Die Menge kann nicht irren! Beide Philosophien hallen bis heute in der politischen Berichterstattung nach: Platon legitimiert ExpertInnen, Aristoteles Internetservices wie “wikipedia”.

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Das Experiment
2007 habe ich, als Experte, an einem Experiment im online-Lexikon “wikipedia” teilgenommen. Anonym habe ich am Artikel “Schweizer Parlamentswahlen 2007” mitgeschrieben. Fleissigster Initiant ist Lirum Larum, von dem ich bis heute nicht weiss, wer er ist. Die Autorenliste zeigt aber, das im Wahljahr mehrere Dutzend Personen mitgeschrieben haben.

Betrachtet man das Endergebnis, kann man ausgesprochen zufrieden sein. Entstanden ist ein ausführlicher, informativer und neutraler Artikel zu den jüngsten Parlamentswahlen. Bezogen auf die Nationalratswahlen wird Vieles zusammengefasst, das sonst auf Internet greifbar ist. Besonders wertvoll ist aber die einheitlich durchgezogene, interkantonale Aufarbeitung der Ständeratswahlen 2007, die es in so handlicher Form sonst nirgends gibt.

Mein persönliches Fazit
Mein persönliches Fazit: Es war spannend, sich jeden Tag zu fragen, was von dem, das passiert, ist bemerkenswert, und wie kann man das in geraffter Form, ohne Wertung und allgemein verständlich formulieren. Wenn mal was daneben ging – und das gabs!- entzündete sich bald eine Kontroverses auf der Diskussionsseite, und es wurden ganze Passagen geändert und gestrichen. Der grösste Dissens entzündete sich ohne Zweifel an der SVP-Demonstration vom 6. Oktober 2007. Beides ist wohl wikipedia-inhärent.

Die Menge hatte recht und war schnell!
Der Aritikel ist nach den Wahlen noch um einiges gestrafft und bereinigt worden. Heute verfügen wir,

. dank der Menge von Beobachtungen, die von verschiedenen Leute unabhängig gemacht wurde,
. dank dem Willen das festzuhalten und sich damit auch instant der Kritik auszusetzen, und
. dank den nachträglichen Bemühungen, einen fehlerfreien und gut verlinkten Artikel daraus zu machen,

über einen der nützlichsten Artikel zu den jüngsten Parlamentswahlen in der Schweiz. Für mich eines der spannendsten Experiment, Wissen zu produzieren, das vor dem Entstehen der Wissensgesellschaft undenkbar gewesen wäre.
Wünschenswert wäre nun, das Experiment global weiter zu denken, und die Sprachversionen auf wikipedia dem höchsten Wissensstand (für einmal auf Deutsch) anzupassen!

Claude Longchamp

“Wahlbarometer” – die praktische Wahlforschung in der Schweiz

(zoon politicon) “Wahlbarometer” ist gleichzeitig ein Projektname und ein Programm: Es handelt sich um das Informationssystem der SRG SSR idée suisse Medien, das im Jahr vor den eidgenössischen Wahlen aufgezogen wird. Und es bedeutet, dass man nicht ein-, sondern mehrmalige Messung vornimmt, um die politische Temperatur des Landes fortgesetzt zu messen.

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Ziel des Projektes ist es, die Entwicklung der Parteistärken in den letzten 12 Monaten vor dem Wahltag zuverlässig zu ermitteln. Hierfür wurden 2006/2007 9 vor- und eine Nachbefragung zu den Wahlabsichten gemacht. Anders als alle anderen Wahlbefragungen in der Schweiz, beschränkt sich das Wahlbarometer aber nicht nur auf Beteiligungs- und Parteiwahlabsichten bei Nationalratswahlen.

Das Konzept der letzten drei Wahlbarometer-Serien hat das Forschungsinstitut gfs.bern entwickelt. Das Set, das 2007 angewendet wurde, unterschied im Gefolge soziologischer, sozialpsychologischer, ökonomischer und kommunikationswissenschaftlicher Theorien Erklärungsansätze auf Seiten der Angebote der Parteien wie auch der Nachfrage durch die Wählenden:

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Angebot
. die Identifikation mit der Kampagne der Parteien
. die Identifikation mit BundesrätInnen/ParteipräsidentInnen der Parteien
. die Identifikation mit den thematischen Positionen der Parteien in den Sachfragen, die am meisten interessieren

Nachfrage
. Position der Wählenden auf der Links/Rechts-Achse
. Position der Wählenden in zentralen Wertfragen
. soziologische Merkmale der Wählenden

Für jede der Befragungen, die mit einem einheitlichen Fragebogen vor den Wahlen realisiert wurden, interviewte der gfs-Befragungsdienst mindestens 2000 repräsentativ ausgewählte, wahlberechtigte Personen im Inland.

Berichtet wurde im unmittelbaren Nachgang zu den Befragung in allen Medien der SRG SSR idée suisse. “Schweizer Fernsehen” etablierte zu den News-Gefässen eine eigene “Wahlbarometer”-Sendung. Der Schlussbericht erschien 4 Tage nach der Wahl. In den Printmedien der Schweiz wurden die Ergebnisse aus den Wahlbarometer ausführlich zitiert. Das Forschungsinstitut gfs.bern erstellte eine allgemein zugängliche, ausführliche Ergebnisdatenbank, die via Internet abrufbar ist.

Das “Wahlbarometer” erwies sich im Vergleich zu den effektiven Wahlergebnissen bei den letzten gemessenen Parteistärken als das genaueste Beobachtungssystem überhaupt. Die sechs wichtigsten Aussagen zu Entwicklungen in den Parteistärken und der Wahlbeteiligung stimmten qualitativ alle; die numerische Abweichung bei den Parteistärken betrug im Mittel 1,1 Prozent. Damit war das “Wahlbarometer” auch präziser als die Wahlbörsen und die Prognosen aufgrund kantonaler Wahlergebnisse. Im europäischen Vergleich schnitten alle Wahlumfragen in der Schweiz vergleichsweise gut ab, obwohl in den 10 Tage vor der Wahl nichts Neues mehr veröffentlicht werden darf.

Die theoriefähigen Ergebnisse aus dem Wahlbarometer werden in meinem Kurs “Empirische Politikforschung in der Schweiz” an der Universität St. Gallen vertieft behandelt.

Claude Longchamp

“Selects”- die akademische Wahlforschung in der Schweiz

(zoon politicon) “Selects” heisst die Studienreihe zur akademischen Wahlforschung in der Schweiz. Den Namen kann man auf zwei Arten deuten: als “Swiss Electoral Studies” und als “Auswahl” aus der Wahlforschung in der Schweiz. Beides ist wohl richtig.

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Ziel des Projektes “Selects” ist es, die Wahlforschung in der Schweiz zu professionalisieren, weiterzuentwickeln und zu institutionalisieren, um den Rückstand gegenüber der internationalen Wahlforschung aufzuarbeiten, den sich die Schweiz aufgrund ihrer eher direktdemokratischen Ausrichtung eingehandelt hat.

Ins Leben gerufen wurde Selects mit Blick auf die Parlamentswahlen von 1995. Seither sind drei eidgenössische Wahlen untersucht worden. Hinzu kommen einige Dissertationen, Spezialstudien und Fachartikel, die mit dem Material von Selects (Bevölkerungsbefragung, Interview mit Kampagnenakteure, Medienanalysen) entstanden sind.

Heute ist die Studienreihe ins Institut für empirische Sozialforschung der Universität Lausanne, kurz FORS, integriert. Die Datensätze sind via SIDOS abrufbar. Geleitet wird das Projekt seit anfangs 2008 vom Politikwissenschafter Georg Lutz.

Das Forschungsprojekt Selects wird von der Bundeskanzlei, der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften SAGW und dem Schweizerischen Nationalfonds SNF unterstützt.

Die Ergebnisse von resp. bis 2003 sind sowohl von den akademisch geschulten ForscherInnen als auch vom Bundesamt für Statistik analysiert und beschrieben worden. Das macht die Studienreihe als Nachschlagewerk ganz nützlich.

Die Vermittlung über das speziell interessierte universitäre Fachpublikum hinaus ist aber noch nicht geglückt. Die Präsentation der wissenschaftlichen Studienergebnisse von 2003 mit speziellen Regressionsanalysen blieb weitgehend unverstanden, und die Zuspitzung 2007 auf das Thema, Frauen würden sich für Politik immer wengier interessieren, war bei Wahlforschern heftig umstritten.

Die eigentliche Wahlstudie zu den Parlamentswahlen 2007 liegt noch nicht vor. Auch deshalb bleibt der vorläufige Eindruck, dass mit “Selects” die Schweizer Wahlen aus der akademisch-selektiven Position untersucht werden.

Claude Longchamp

Publikationsliste Selects
Daten Selects

Handbuch der Wahlforschung (in Deutschland)

(zoon politicon) Wahlforschung gehört weltweit zu den entwickeltsten Zweigen der Sozialwissenschaften. System- und Akteurstheorien verbinden sich in ihr. GeographInnen, SoziologInnen, OekonomInnen, PsychologInnen, KommunikationswissenschafterInnen und StatistikerInnen lieferten ihre Beiträge, die direkt oder durch die Politikwissenschaft vermittelt in die Wahlforschung einflossen. Doch damit nicht genug: Neben die multi- und interdisziplinären Grundlagenforschung, die weltweit betrieben wird, treten heute global gesehen immer mehr praxisorientierte Forschungsinstitute auf, die angwandte Bevölkerungsuntersuchungen oder Medienanalysen betreiben, und bestrebt sind, Lehre zu, Forschung über und Beratung von Politik miteinander zu betreiben.

Kann man da den Ueberblick bewahren? – Individuell wohl kaum; kollektiv jedoch schon!

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Wer auf Deutsch eine Uebersicht über die Wahlforschung in Theorie und Praxis aus berufener Hand haben will, der greift heute unweigerlich zum “Handbuch Wahlforschung”, das Jürgen Falter und Harald Schoen von der Universität Mainz 2005 herausgegeben haben. Unverändert reflektiert es den Stand der Wahlforschung, mindestens auf Deutschland bezogen.

Die 830 Seiten liesst man kaum in einem Zug. Aber man wird sie auszugsweise verarbeiten. Hierzu offeriert einem das Handbuch fünf unterschiedliche Zugänge:

. die Grundlagen der Wahlforschung (Wahlen und Demokratie, Geschichte der Wahlforschung, Methoden und Daten)

. die Theorien der Wahlforschung (Wahlgeografie, Soziologie, Sozialpsychologie, Oekonomie, Theorievergleiche)

. spezielle Fragestellungen der Wahlforschung (Nichtwahl,Wechselwahl, Wähler extremistischer Parteien, Wertwandel resp. Persönlichkeit und Massenmedien und Wahlverhalten)

. ausgewählte Gebiete der Wahlforschung (Wahlkampfforschung, Historische Wahlforschung, Wahlsystemforschung) und

. eine Kritik der empirischen Wahlforschung in Deutschland

Das Werk ist stark textorientiert, hat aber auch Tabellen und Grafiken zu Verdeutlichung. Abgerundet werden die Beiträge durch ein ausführliches Glossar resp. Literaturverzeichnis.

Interessant sind die Feststellungen der Autoren zum Fortschritt in der Wahlforschung. Die wesentliche Verbesserung sehen sie in der Verlagerung von Erklärung aus dem Umfeld auf das Individuum. In der Einstellungsforschung konkurrieren heute Oekonomie und Sozialpsychologie. Einen weitere Fortschritt vermuten die Herausgeber denn auch in der Erweiterung der ökonomischen Wahltheorie durch sozialpsychologische Erkenntnisse. Das ist wohl eine der treffenden Antworten. Die anderen, im Buch leider unterbewertete, ist die Erweiterung des sozialpsychologischen Theorie durch neue Erkenntnisse aus der Kommunikationswissenschaft.

Vom Anspruch her ist das Buch nicht geeignet, wer sich nicht für Wahlforschung interessiert. Es richtet sich aber auch nicht nur an die Top-Vertreter der Disziplin. Es ist so gemacht, das beispielsweise Studierende, die sich mit Wahlen und ihrer Erforschung auseinandersetzen müssen, mit Bedacht, gründlich und verständlich eingeführt werden.

Vielleicht, könnte man kritisieren, wäre eine Erweiterung des Handbuches auf Oesterreich und die Schweiz angezeigt gewesen, um das Referenzwerk auf Deutsch und für den deutschsprachigen Raum vor sich zu haben.

Claude Longchamp

Jürgen Falter, Harald Schoen (Hg.): Handbuch Wahlforschung, Wiesbaden 2005
Umfassende Buchbesprechung

Hypothesentest – am aktuellst möglichen Beispiel

(zoon politicon) Begriff, Aussage, Hypothese, Test. Das sind die vier Grundtermini der empirischen Forschung, auch der entsprechenden Politikforschung. Wissenschaftstheoretisch kann das zu zwei Bewertungen der Annahmen führen: die Verifizierung oder die Falsifizierung der Hypothese. Im ersten Fall gilt als empirisch bestätigt, und man kann unverändert mit ihr weiterarbeiten. Im zweiten Beispiel wurde sie wiederlegt, und man sollte sie modifizieren.

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Was damit gemeint ist, sei a heute aktuellst möglichen Beispiel aufgezeigt: Ich nehme die Entwicklung der Meinungsbildung vom Zeitpunkt der letzten Umfrage bis zum Abstimmungstag. Die Beispiele stammen aus der jüngsten Umfrage für die SRG SSR idée suisse Medien, die gfs.bern realisiert hatte, und den Abstimmungsergebnissen zu den Volksentscheidung vom 24. Februar 2008.

Dabei geht es um zwei verschiedene Formen der Meinungsbildung: den Meinungsaufbau bei unschlüssigen BürgerInnen mit Teilnahmeabsichten, und den Meinungswandel bei Menschen, die sich äussern wollen, eine anfängliche Entscheidungsabsicht haben, diese aber im Verlaufe des Prozesses der Meinungsbildung ändern.

Die Hypothesen wurde aus dem Dispositionsansatz abgeleitet. Sie sind für Volksinitiativen und Behördenvorlagen unterschiedlich:

Hypothesen zur Meinungsbildung bei Volksinitiativen kurz vor der Abstimmung
Bei Volksinitiative gehen wir davon aus, dass die Entscheidungen positiv prädisponiert sind, wenn Initiativen ein Bevölkerungsproblem aufnehmen, dass sich die Meinungsbildung aber negativ entwickelt, wenn sie die Kampagne vom Problem hin zur seiner Lösung und ihren Konsequenzen verlagert. Konkret erwarten wir, dass sich das Nein während des Abstimmungskampfes aufbaut, und sich das Ja maximal hält, meist sogar zurückgeht. Aus Unentschiedenen werden bei Volksinitiativen während der Schlussphase GegnerInnen.

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Die Grafik hierzu zeigt, dass sich die Erwartungen vollständig erfüllten. Der Nein-Anteil stieg von 55 auf 68 Prozent, der Ja-Anteil verringerte sich von 34 auf 32 Prozent. Der Anteil Unschlüssiger in der letzten Umfrage kann vollständig dem Nein-Lager zugerechnet werden.

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Die Hypothese wird also voll bestätigt, und zwar nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch nach Sprachregionen.

Hypothesen zur Meinungsbildung bei Behördenvorlagen kurz vor der Abstimmung
Der erwartete Mechanismus bei Behördenvorlagen ist anders. Wir gehen hier nicht zwingend von einer positiven Prädisponierung bei Volksinitiativen aus. Behördenvorlagen kommen zur Abstimmung, auch wenn sie kein gravierende Probleme aus Bevölkerungssicht behandeln.
Vielmehr bildet sich die Meinungsbildung während des Abstimmungskampfes aufgrund der Kampagnen beider Seiten. In der Schlussphase gehen wir davon aus, dass die Nein-Seite mehr Unschlüssige anzieht, als die Ja-Seite; das Mass indem dies geschieht ist aber offen.

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Im konkreten Fall, der Unternehmenssteuerreform erhöhte sich der Ja-Aneil um knapp 5 Prozentpunkte, jener der Gegner um gut 18 Prozentpunkte. Die Erwartung, dass sich die Unschlüssigen in beide Richtungen verteilen wird auch hier erfüllt.

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Die Verifikation der Hypothese gelingt generell gut, nach Sprachregionen in zwei von drei Fällen. Einzig in der italienischsprachigen Schweiz beobachten wir ein anderes Phänomen. Der Ja-Anteil nimmt hier leicht ab. Das kann man als partielle Widerlegung interpretieren.

Die Falsifizierung führt hier aber nicht zu einer allgemeinen Modifikation der Hypothese, weil die Widerlegung nur eine Untergruppe betrifft. Sie wirft aber neue Fragen auf, die zu testen sind: Kann der Spezialfall in der italienischsprachigen Schweiz regelmässig nachgewiesen werden? – Dann müsste man annehmen, dass die Eigenheiten der Meinungsbildung im Tessin anderes als in der Schweiz verlaufen. Ist dies nicht der Fall? – Unter dieser Bedingung wird man folgern, dass es sich um eine Ungenauigkeit der Befragung handelt, die sich zum Beispiel aus der geringeren Befragtenzahl in der italienischsprachigen Schweiz ergibt.

Testbilanz
Alles in allem sind aber die Hypothesen zur Meinungsbildung bei Volksabstimmung in den letzten Wochen, die aus dem Dispositionsansatz abgeleitet werden können, ausgesprochen robust. Sie wurden hier etwas vereinfacht diskutiert, weil wir die Effekte durch die Mobilisierung nicht berücksichtigt haben. Das ist angesichts der geringen Verschiebungen vertretbar.

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Mehr noch: Die Hypothesen sind unterschiedlich, je nachdem ob es sich um einen Behördenvorlage oder eine Volksinitiative handelt. Das kann man nur aus dem Dispositionsansatz ableiten, weil er von unterschiedlichen Vorbestimmtheiten von Initiativen und Behördenvorlagen aufgrund der Problemdefinition ausgeht.

Und dann noch ganz zum Schluss: Sie entsprechen nicht unbedingt dem common sense, sondern der wissenschaftlich erschlossenen Realität. Diese ist, weil sie den Grad an Rationalität in der politisch-medialen Praxis erhöht, klar besser als die Meinungen über sie!

Claude Longchamp

Hochrechnungen von Volksabstimmungen und Wissenschaftstheorie

(zoon politicon) Gestern hat das Team von gfs.bern zum 48. Mal eine Hochrechnung zu eidgenössischen Volksabstimmungen durchgeführt. Der Erfolg lässt sich sehen:

. Um 1330 wurde das Ergebnis zur Kampfjetlärm-Initiative auf 8 Promille genau vorausgesagt, und
. um 1400 hielten wir das Resultat zur Unternehmenssteuerreform auf 5 Promille genau fest.

Letzteres war allerdings genau 50:50 für das Ja und das Nein, was einem Patt entsprach. Die Auflösung, ob wir eine Zustimmung oder Ablehnung erwarten, gelang 1520, als wir mit ungerundeten Zahlen von 50,4 Prozent ausgingen, was dann 1 Promille falsch war.

Hochrechnungen wie die gestrige basieren auf einer praktischen Umsetzung des des einfachen logischen Vorgehens, das seit 1948 als Hempel-Oppenheim-Schema in der Wissenschaftstheorie bekannt ist. Es unterscheidet

. die zu erklärende Variable (exemplandum),
. die erklärende Variable (exemplans) und
. einer Tatsache (Antezendens).

Die abhängige Variable ist jene, die wir prognostizieren wollen, also das Ergebnis der kommenden Volksabstimmung auf nationaler (Volksmehr) und kantonaler Ebene (Ständemehr). Die erklärende Variablen ist das Stimmverhalten (wiederum Volks- und Ständemehr) bei Vergleichsabstimmungen. Und die Tatsache sind die eintreffenden Gemeindeergebnisse.

Wir verwenden jedoch nicht alle Gemeinden, weil das zu wenig schnell wäre. Vielmehr setzen wir auf Gemeinden, die sich bei früheren Abstimmungen als repräsentativ für ihren Kanton erwiesen hatten.

Massgeblich ist es deshalb, die Referenzabstimmungen zu finden, die eine sinnvolle Gemeindeauswahl im Voraus erlaubt. Das ist gar nicht so einfach; es sind die folgenden Schritte nötig:

. Welche Annahmen zum ungefähren Abstimmungsausgang national lassen sich machen?
. Welches räumliche Konfliktmuster kann angenommen werden?
. Welche Abstimmungen in jüngerer Zeit erfüllen beide Erwartungen einigermassen gut?

Geleistet wird das mit statistischen Vergleichen. Im Idealfall gibt es eine Referenz, meist braucht es aber einen Mix aus mehreren. Die Entscheidung wird zirka 4 Wochen vor der Abstimmung getroffen, wenn der Abstimmungskampf begonnen hat, und wenn erste Umfragen zu den Entscheidungsabsichten und dem Konfliktmuster vorliegen. Die Gemeindeauswahl erfolgt danach.

Am Abstimmungstag selber treffen dann die Gemeindeergebnisse als unsere neue Tatsachen ein. Sie werden auf den Kanton hochgerechnet, das gibt das Ständemehr, wenn es nötig ist. Die Kantonshochrechnungen werden dann auf die nationale Ebene hochgerechnet. So sind alle Informationen zusammen, die es für die zu erklärende Variable im Hempel-Oppenheim-Schema braucht. Das ist dann das Ergebnis, das veröffentlicht wird.

Claude Longchamp

Lehrbuch der empirischen Politikforschung

(zoon politicon) Volker Dreier ist Privatdozent an der Universität Köln. Er arbeitet am dortigen Forschungsinstitut für Soziologie, und er ist Redaktor der renomierten Zeitschrift “Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie”. Vor allem aber hat Volker Dreier 1997 eine der wenigen, auf Deutsch erschienen, umfassenden Uebersichten über die Forschung in der empirisch ausgerichteten Politikwissenschaft verfasst.

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Volker Dreier, Soziologe mit Forschungsschwerpunkten, die mir durchaus zusagen, hat die massgebliche Einführung in die “Empirische Politikforschung” auf Deutsch verfasst, die soeben in der 2. Auflage erschienen ist.

Dreier versteht sich als unorthodoxer Vertreter der empirisch-analytischen Politikforschung. Diese leitet er aus der allgemeinen wissenschaftlichen Forschung ab, die sich dem wissenschaftlichen Realismus verpflichtet fühlt. Sinnliche Erfahrungen, logische Theoriebildung und empirische Ueberprüfungen sind für ein die massgeblichen wissenschaftstheoretischen Positionen.
Das Lehrbuch, strikte aufgebaut, sorgfältig geschrieben, mit Grafiken aufgearbeitet, sonst aber eher trocken, hat drei Teile:

. erstens, die Orientierungen der empirischen Politikforschung (mit der Begriffsbestimmung, den Grundfragen und den Grundelementen)
. zweitens, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen (mit den formalen Grundlagen, den Begriffen und Aussagen, der logische Struktur einer empirischen Theorie, der Theoriekonstruktion, dem Erklären und/oder dem Verstehen)
. drittens, die Methoden und Modelle (mit dem Messen und der Sklaierung, den Modelle sowei den Abläufen in der Forschung)

In vielen Teilen des Buches gibt es, für sich gesehen, gleichwertige oder bessere Einzelabhandlungen. Was das Werk aber auszeichnet, ist der systematisch durchgehaltene überischtliche Stil über eigentlich alle Fragen, die sich dem/der empirischen PolitikforscherIn bei ihrer Arbeit und deren Kommunikation stellen.

Vielleicht, könnte man als einige Kritik anfügen, hätte man sich nach 586 Seiten noch ein Würdigung des Stand und der Entwicklung des Fachgebieten gewünscht.

Claude Longchamp