Warum man das Ergebnis der Ständeratswahlen 2023 noch nicht kennen kann

Wie die Ständeratswahlen ausgehen könnten, beschäftigt die mediale Oeffentlichkeit gegenwärtig stark. Bereits sind vier Sitzprognosen erschienen. Meines Erachtens kann man heute jedoch nur die Ausgangslagen für die erste Runde bestimmen. Was in der zweiten Runde geschieht, muss noch offen bleiben.

Mediale Sitzprognosen als Basis
Drei vollständige Sitzprognosen und eine weitere zu bestimmten Kantonen erhellen das etwas unsichere Feld der Ständeratswahlen. Der Tagesanzeiger und SRF-News haben die Ausgangslage in allen Kantonen journalistisch analysiert. Verschiedene Lokalmedien oder Regionalredaktionen haben Opinionplus mit spezifischen Umfragen beauftragt. Schliesslich hat Watson eine Wahlbörse zu allen Ständeratswahlen präsentiert. Was kann man daraus lernen?


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Wo es Rücktritte gibt
Handfestestes Kriterium für einen offenen Wahlausgang ist ein Rücktritt. Sieben Kantone erfüllen dieses Kriterium. In der Waadt treten die beiden KantonsvertreterInnen gleichzeitig zurück. In Zürich, Bern, Aargau, Solothurn, Tessin und Schwyz gibt es je eine Vakanz.
Die SP hat drei Rücktritte (BE, SO, TI) zu verkraften. Je zwei sind es bei FDP (VD, ZH) und SVP (AG, SZ). Einen Abgang gibt es zudem bei den Grünen (VD).

Wer welche Aussichten hat
Sofern sie sich äussern, zeigen die vier Tools eine Reihe gemeinsamer Erwartungen. In der Waadt wird einheitlich damit gerechnet, dass FDP (Broulis) und SP (Maillard) zu Lasten der Grünen die Sitze halten oder übernehmen. Die FDP behält ihren.
In den allen anderen Wahlkreisen mit Rücktritten gibt es keine so klare FavoritInnen.
. In Zürich kommen gemäss Tools Bewerbungen von FDP (Sauter) und SVP (Rutz), allenfalls Mitte (Kutter) in Frage.
. In Bern konzentriert sich die Aufmerksamkeit vorerst auf SP (Wasserfallen) und Grüne (Pulver).
. Im Aargau sind es SVP (Giezendanner) und Mitte (Binder), allenfalls auch SP (Suter).
. In Solothurn richtet sich das Augenmerk auf FDP (Ankli) und SP (Roth).
. Im Tessin erscheinen FDP (Farinelli) und Mitte (Regazzi) möglich.
. Und in Schwyz gibt es eine offene Konkurrenzsituation. zwischen SVP (Schwander) und FDP (Gössi).
Damit kommt es im Tessin zu einem sehr wahrscheinlichen Parteiwechsel. Der Rest ist offen.

Was die Wahlforschung weiss
Die Wahlforschung zeigt, wer bei Ständeratswahlen erhöhte Chancen hat. Vorteile hat die Partei oder Allianz der/s AmtsinhaberIn. Es kommt aber auch die Geschlossenheit in den Lagern und ihre Mobilisierungsfähigkeit hinzu. RegierungsrätInnen (Bekanntheit) und herausragende NationalrätInnen (politisches Profil) haben ebenfalls höhere Chancen. Bisweilen wirkt sich zudem der regionale Ausgleich (Stadt/Land) aus. Neuerdings kommt auch das Geschlecht (Frauensolidarität) als Kriterium hinzu.
Ein dominantes Kriterium, das alles entscheiden würde, gibt es im Wettbewerb aber nicht.
Wahrscheinlich wird da überall ein zweiter Wahlgang nötig werden, bei dem neu aufgemischt wird.


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Abwahl Bisheriger?
Speziell ist die Ausgangslage in den Kantonen Jura und Neuenburg, die ihre StänderätInnen nach dem Proporzverfahren bestimmen.
In Jura ist die jetzige SP-Vertreterin (Crevoisier Crelier) erst letztes Jahr für Baume-Schneider, die in den Bundesrat gewählt wurde, nachgerückt. Sowohl SP (Barthoulot) wie auch FDP (Gerber) fordern sie mit heraus. Massgeblich sind zuerst die Parteistärken, dann die Personenstimmen. Das macht die SP-Regierungsrätin zur Favoritin.
In Neuenburg konkurrenziert die SP (Hurni) die grüne Ständerätin (Vara), was angesichts der ausgeglichenen Parteistärken zu einem unsicheren Ausgang führen könnte.
Spekuliert wird darüber hinaus, im Wallis (Maret, Mitte), in Genf (Sommaruga, SP) in Freiburg (Gapany, FDP) und Glarus (Zopfi, Grüne) auch ein(e) AmtsinhaberIn gefährdet sein. Allfällige Nutzniesser kämen aus der FDP (Nantermond, VS), vom MCG (Poggia), von den Grünen (Andrey, FR) resp. von der SVP (Rothlin, GL).
Die Wahrscheinlichkeit erscheint aber gering: Bisherige haben ohne Skandale im Majorzverfahren einen klaren Bonus. Alle anderen Spekulationen, die hie und da geäussert werden, halte ich aus heutiger Sicht für ganz unwahrscheinlicher.


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Erste Bilanzen
Trotz zahlreicher Unsicherheiten wagen der Tagesanzeiger, Watson und SRF bereits eine finale Sitzprognose, wenn auch mit Unsicherheitsbereichen. Der Tagesanzeiger und SRV sehen die FDP als Wahlgewinnerin. Watson ist da zurückhaltender. Mittelt man die Erwartungen kommen Mitte und FDP neu auf 14 Sitze. Die SVP bleibt auf 7 Sitzen. SP und Grüne verlieren je einen. Das würde eine moderate Verschiebung nach rechts bedeuten.
Mitte und FDP dürften im neuen Ständerat zusammen eine klare Mehrheit, und keine andere Zwei-Partei-Allianz wird das für sich beanspruchen. SVP und SP bleiben damit in der primären Konsensbildung aussen vor.
Ich werde diese Uebersicht in der Woche nach der ersten Runde sicher aufdatieren.

Claude Longchamp

#Fritschgebloggt: Wahlbörsen zu den Nationalratswahlen 2023

Weitgehend bestätigte Trends aus den Wahlumfragen durch Wahlbörsen. Das ist das erste Fazit zu den beiden Wahlbörsen vor den Nationalratswahlen 2023.


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Wahlbörsen haben sich als Erweiterung von Wahlumfragen etabliert. Sie basieren nicht auf Befragungen der Wahlberechtigten, sondern auf Einschätzungen von ExpertInnen, die auf Parteistärken wetten. Gemittelte Erwartungen sind ähnlich gut wie aggregierte Wahlabsichten.
Wahlbörsen haben Vorteile: Sie liefern virtuell permanent Werte für Parteistärken. Zudem können sie auf alle Parteien angewendet werden. Beides ist bei Befragungen aus Aufwandgründen meistens nicht der Fall.
Ihre Nachteile: Vieles hängt von der Qualifikation der Wettenden ab. Wählbörsen, die langfristige am Prognosemarkt sind, versuchen das durch Kontrollen der Teilnehmenden hoch zu halten. Das macht eingeführte Marken zuverlässiger.
Unabhängig von Wahlumfragen sind Wahlbörsen aber nicht. Meist folgen sie deren Trends, zeigen aber an, ob Fachleute diese für zuverlässig halten oder nicht.

Aussagen zu den Nationalratswahlen 2023
Mit Blick auf die Schweizer Wahlen 2023 gibt es zwei qualifizierte Wahlbörsen; je eine von @50plus1ch resp. von @Wahlfieber. Diese wird seit den Wahlen 2007 erstellt, jene seit 2015. @Wahlfieber ist offen und kann via Internet verfolgt werden. @50plus1ch wird exklusiv für @watson_news gemacht und muss so gefiltert beobachtet werden.
Im Detail sind die Ergebnisse leicht unterschiedlich: @Wahlfieber zeigt eine etwas stärker polarisierte Parteienlandschaft zwischen SVP und SP, @50plus1ch bewertet Mitte und Grüne etwas besser.
Kombiniert man beide Tools, wird ein weitgehend bekanntes Bild ersichtlich: SVP und SP könnten zulegen, GPS und FDP dürften verlieren. Stabilität wäre für Mitte und GLP das wichtigste Stichwort.
@Wahlfieber hat den Vorteil, auch die kleinen Parteien explizit auszuweisen. Für die neuen Bewegungsparteien @mass_voll und @Aufrecht kommt das Tool auf 1.5% schweizerweit. Damit liegen sie vor der EDU, aber hinter der EVP.
Dieses Instrument deklariert zudem alle vorläufigen Werte als Zwischenstände, nicht als Prognosen. Die folgen erst gegen den Schluss des Serie. @50plus1ch lässt diese Frage offen.

Claude Longchamp

“Viele Probleme, kaum einfache Lösungen.”

Interview mit Anna Kappeler für watson. 23.9.23

Herr Longchamp, in einem Monat wird gewählt. Täuscht der Eindruck oder kommen diese Wahlen nicht richtig in Schwung?
Claude Longchamp: Mein Eindruck ist es nicht. Die Parteien sind werberisch stark unterwegs, die Ständeratskandidierenden bestreiten viele Podien und die Medien berichten fleissig.

Doch kommt der Wahlkampf bis zu den Wählern?
Der grosse Unterschied zu 2019: Es gibt kein überragendes Thema, das die politische Grosswetterlage prägt und breit diskutiert wird. Sondern Baustellen, für die wir teilweise keine Lösungen finden.

Müssten Sie diesen Wahlkampf labeln, womit?
Ich sehe eine politische Sättigung durch die Pandemie, in deren Gefolge aber zahlreiche Baustellen deutlich geworden sind. Doch dominiert keine. Hektik nach der Pandemie trifft das Momentane am meisten. Man könnte von einer Korrekturwahl sprechen, welche die für die Schweiz unüblichen Veränderungen von 2019 etwas korrigiert.

Krankenkassen und Klimawandel treiben die Menschen laut SRG-Wahlbarometer am meisten um. Warum hebt keines dieser Themen richtig ab?
Beides sind keine Überraschungsthemen mehr, wie es 2019 die Klimafrage noch war. Deshalb gelingt es keiner Partei, das Thema zur treibenden Kraft im Wahlkampf zu machen. Bei den Krankenkassen haben wir viele Ideen von rechts bis links, ohne dass eine obenaus schwingt. Bei der Klimafrage hatten wir im Juni eine wichtige Volksabstimmung mit einer Allianz aus siegreichen Parteien. Auch da gibt es keinen Profiteur. Neu ist, dass wir Triggerthemen haben: Wokeismus, Gender-Stern und Wolfsabschuss.

Warum ziehen Triggerthemen so – geht es uns einfach zu gut?
Der Genderstern war ein Vorwahlkampf-Aufhänger der SVP, um emotional Stimmung zu machen. Solche Themen werden aus einer Vorwurfshaltung heraus bewirtschaftet. Sie emotionalisieren stark, haben aber nicht das Potenzial eines Sachthemas zur parteipolitischen Profilierung.

Sachpolitische Probleme gibt es genug: Sicherung der Sozialwerke, veränderte Sicherheitslage in Europa, steigende Mieten … Welche Partei hat den bisher besten Wahlkampf hingelegt?
Glaubt man den Umfragen, konnten fast alle ihre Positionen, die sie sich bis 2020 erarbeitet hatten, behalten. Drei weichen davon ab. Die SVP, die zulegt. Die Grünen, die verlieren. Und die Mitte, die vielleicht Gewinne dank der Fusion von CVP und BDP machen kann. Verglichen mit dem Ausland sind aber alle Veränderungen gering. Interessant: Zählt man die Gewinne oder Verluste, wie sie aktuell gehandelt werden, zusammen, sind diese kleiner als die Gewinne allein der Grünen 2019. Das spricht dafür, dass niemand stark mobilisieren kann. Ebenso wie auch niemand stark verliert.

Also keine Gewinnerin?
Keine grosse Gewinnerin. Wenn ich eine kleine herausheben soll, ist es die SVP. Mit der Migrationsfrage hat sie am ehesten das Potenzial, ein Grundklima zu definieren.

Auf Lampedusa landen gerade so viele Menschen wie selten. In der Schweiz leben erstmals über 9 Millionen Leute. Wird die Zuwanderung doch noch zum Thema?
Kann sein. Die SVP will es. Aber genau das macht die Schwierigkeit aus. 2019 wurden die Medien zumindest teilweise gerügt, das Thema Klima und damit Grüne begünstigt zu haben. 2023 will man das nicht wiederholen, egal, wem es nützen könnte. Darum favorisieren alle Medien einen thematisch gefächerten Wahlkampf.

Welche Partei legt den schlechtesten Wahlkampf hin?
Die Grünen finden sich überraschend in der Defensive. Sie machten in den Kantonen Sitze gut, spekulierten damit, drittstärkste Kraft zu werden und statt des zweiten FDP-Sitzes in den Bundesrat einzuziehen. Doch seit einem Jahr sind sie etwas ausser Tritt geraten. Sie verloren exemplarisch das Frontex-Referendum, wo es um die Mitfinanzierung der EU-Grenz- und Küstenwache Frontex ging. Und sie wurden durch den Rücktritt von SP-Bundesrätin Sommaruga überrascht. Im Kanton Zürich und auch in Genf verloren sie dann bei den Wahlen. Vor 10 Tagen verstand man ihr Nein zum beschleunigten Solarausbau im Wallis nicht. Aktuell versuchen sie sich zurück ins Geschehen zu katapultieren, aber es hat bisher keinen Befreiungsschlag gegeben. Es drohen Verluste in beiden Kammern.

Die Mitte dürfte die FDP überholen. Welche Folgen hätte das?
Der Siegeszug der Mitte ist die vielleicht spannendste Verschiebung dieses Wahlkampfes. Bei der Fusion der CVP und der serbelnden BDP war ich sehr skeptisch. Doch es hat sich für die Mitte gelohnt. Gerade die Junge Mitte und die Mitte-Frauen haben viel zur Erneuerung der Partei beigetragen. Trotzdem: Ein zweiter Bundesratssitz ist unrealistisch. Die Mitte wird einen solchen kaum anstreben. Die Differenz ist zu gering, um den Sitz dauerhaft halten zu können.

Die Parteien bleiben wie bisher im Bundesrat vertreten?
Das ist das Hauptszenario. Doch es gibt ein Nebenszenario: Sollte die SP wider Erwarten verlieren und die Grünen wider Erwarten halten oder gewinnen, könnten die Grünen zulasten der SP einen Bundesratssitz bekommen. Falls die Mitte dieses Spiel mitmacht und sich entsprechend als Königsmacherin positioniert. Die Mitte war es, die der SP 1959 zu zwei Sitzen verhalf. Sie könnte es auch sein, die das aufhebt.

Was hätte die Mitte davon?
Sie könnte die Polarisierung von links durchbrechen. Und so einen ersten Schritt einleiten gegen die Mehrheit von rechts. Lanciert werden könnte damit die GLP gegen die FDP im Bundesrat.

Nächste Woche gibt es zwei ausserordentliche Sessionen. Die SP will über «Wohnen und Mieten» sprechen, die SVP über «Zuwanderung und Asyl». Sind diese Debatten mehr als nur für die Galerie?
Das dürfte der Höhepunkt der Polarisierung zwischen links und rechts werden. Beide Parteien versuchen, Session und Wahlkampf so zu kombinieren und maximale Aufmerksamkeit im jeweiligen strategisch wichtigsten Thema zu erzielen. Und so den Schwung in die Schlussmobilisierung zu nehmen. Ob sie damit inhaltlich neue Impulse geben, wage ich zu bezweifeln.

Was müsste jetzt noch passieren, damit es die Leute an die Urnen treibt?
Einen neuen Schub könnten die Wahlen erhalten, wenn die Bundesratswahlen vom Dezember zum eigentlichen Renner im Wahlkampf würden. Die SP ist aber zufrieden so, wie es läuft, und ihre Widersacher wissen, dass ein Angriff der SP eher helfen könnte. Wahlen haben sich bei einer Beteiligung von 45 bis 50 Prozent eingependelt. Neuwählende sind kaum dabei. Zum Vergleich: Die Covid-Krise dagegen hat 2021 stark mobilisiert. Bei der zweiten Covid-Abstimmung gingen 65,7 Prozent abstimmen.

Warum sind so viele Menschen wahlverdrossen?
Das Wort ist mir zu hart. Ich nehme es nüchterner. Solange wir die Regierung nicht direkt wählen, wird es keine höhere Wahlbeteiligung geben. Wir steuern unser System – im Gegensatz zum Ausland – über Sachfragen. Das ist weniger sensationell. Aber richtig. Und wichtig.

Zur Person
Claude Longchamp ist Historiker und Politikwissenschaftler. Bis April 2017 war er Geschäftsführer des Forschungsinstituts gfs.bern. Der Mann mit der Fliege interpretiert Abstimmungen und Wahlen, früher lange Jahre als Experte bei SRF.

NR-Sitzprognosen den Medien sehen nur moderate Verschiebungen kommen

Nun kommen die journalistischen Sitzprognosen. Sie sehen die bürgerliche Mehrheit im Nationalrat leicht gestärkt, die grünen Kärfte leicht geschwächt.

Innert weniger Tage sind zwei journalistisch gemachte Sitzprognosen zum neuen Nationalrat erschienen. Zurerst war CHMedia, dann kam Tamedia.


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Beide Vorschauen haben Gemeinsamkeiten. Sie gehen von einer leichten Verschiebung in der grossen Kammer nach rechts aus. Im Detail zeigen sich auch Unterschiede.

Aussagen
Verliererinnen sind beide Male die GPS und die GLP. Sie waren 2019 die grossen Gewinnerinnen. Nun kommt es zu einer moderaten Gegenbewegung. Beide Parteien dürften aber stärker als 2015 bleiben.
Gewinne gibt es in beiden Hochrechnungen für die bürgerlichen Parteien SVP, FDP und Mitte. Sie waren das letzte Mal die Verliererinnen. Auch das ist eine beschränkte Korrektur in die Gegenrichtung.
Etwas ungleich sind die Tools bei der SP. Tamedia nennt hier leichte Gewinne, CHMedia sieht ein Halten.
Die Hochrechnung von CHMedia ist insofern interessanter, dass die kleinen Parteien explizit ausgewiesen werden. Demnach legen EDU/Massvoll und die Lega je einen Sitz zu, derweil die EVP und die PdA/Sol. je einen einbüssen. Solidarité würde aus dem Parlament ausscheiden, Massvoll einziehen.
CHMedia bezeichnet die Mitte als Wahlsiegerin, Tamedia nennt da die SVP. In beiden Fällen gibt es vier Sitzgewinne. Eine grosser Sieger ist das nicht. Es es sind mehr Sitze als das letzte mal.

Machart
Sitzprognosen dieser Art reflektieren die konsolidierten Erwartungen der entsprechenden Medienredaktionen. In der Regel bilden die jüngsten Umfragen die wichtigste Referenz. Kantonale Wahlergebnisse kommen hinzu. Zudem werden die Auswirkungen von Listenverbindungen geprüft.
Gerechnet wird in der Regel von unten nach oben. Vor allem KorrespondentInnen in den Kantonen plausibilisieren und konkretisieren die Erwartungen, beispielsweise auch der ParteistrategInnen.
Beide Hochrechnungen sind meines Erachtens konservativ. Sie gehen von insgesamt geringen Verschiebungen aus. Bei CHMedia wandern 12 Sitze, bei Tamedia 7. Diese Prognose bezieht sich allerdings nur auf die 6 grösseren Parteien.

Bewertung
Entweder unterschätzen beide Vorschauen einen Monat vor der Wahl die Veränderungen, oder die Parteienlandschaft hat sich 2023 weitgehend stabilisiert.
Trifft letzteres ein, kann man die voraussichtlichen Sitzstärken der Tabelle entnehmen. Die SVP bleibt stärkste Partei, vor der SP, der Mitte und der FDP gleichauf, aber vor den Grünen. Die bürgerlichen Parteien kommen auf 117 Sitze und bauen damit ihre Mehrheit um 7 Sitze aus. An sich können sie auch ohne SP regieren oder GLP den Nationalrat bestimmen.
Mitte/Links bleibt in der Minderheit, die SP ist darin aber klarer die stärkste Partei.
Der Druck auf die Bundesratszusammensetzung dürfte geringer sein als 2019, denn die beiden grünen Parteien ausserhalb dürften geschwächt aus der Wahl hervorgehen. Zusammen dürften sie auf 36-37 statt 44 Sitze wie bisher kommen.

Claude Longchamp

#Frischgebloggt: Combining der drei Umfrageserien zu den Nationalratswahlen 2023

Konsolidierte Entwicklungen mit Plus bei der SVP, Minus bei der GPS und einem möglichen Rangwechsel von Mitte und FDP. Das ist die Quintessenz des aktuellen Combinings der Umfrageserien zu den Nationalratswahlen.


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Mittlerweile liegen die Ergebnisse von drei Umfrageserien zu den Nationalratswahlen 2023 vor. Konkret handelt es sich um die der SRG, der Tamedia und von Bluewin. Erstellt werden sie von sotomo, LeeWas resp. 50plus1.
Stellt man auf die Mittelwerte der jeweils aktuellsten Befragungen ab, gewinnt die SVP hinzu. Knapp der Fall ist das auch bei der SP, der Mitte und der GLP. Verluste gibt es für die Grünen und die FDP (siehe Tabelle).
Markant sind nur die Veränderungen bei der SVP und bei den Grünen. Alles andere ist auch gemittelt im Veränderungsbereich von 1 Prozentpunkt oder darunter.
Die beiden grössten Ausschläge sind komplementär zu den Veränderungen von 2019. Damals gewannen die Grünen viel, und es verlor die SVP viel. Jetzt ist ist umgekehrt.
Beide Korrekturen fallen aber weniger deutlich aus.
Verändert hat sich die Grosswetterlage. 2019 dominierte das Klimafrage. Sie polarisierte die Parteienlandschaft.
2023 gibt es kein absolut vorherrschendes Thema, doch ist namentlich die Migrationsfrage vor allem mit dem umstrittenen Asylwesen wichtig.
Die Klimafrage half 2019 den Grünen, die Migrationsfrage ist nun für die SVP von Vorteil.
Die wichtigste Veränderung ist allerdings qualitativer Natur. Denn in zwei der drei Serien liegt die neue Mitte-Partei vor der FDP. Es sind auch die beiden jüngsten Erhebungen. Demnach war die Fusion von CVP und BDP das zentrale Ereignis, das die Parteienlandschaft der Schweiz nach 2019 beeinflusste.
Bestätigen sich die Messwerte am 22. Oktober, verliert die FDP zum zweiten Mal in Folge eine Nationalratswahl, und die GLP könnte erneut zulegen. Da könnte man von Trends sprechen. Alles andere sind Schwankungen.
Unsere kleine Analyse stellt auf ein Combining ab. Es berücksichtigt alle Umfrageserien gleichwertig und mittelt ihre Ergebnisse, um Unsicherheiten einzelner Messungen zu verringern.
Trotzdem verzichtet unsere Darstellung (wie auch die drei Umfrageserien) auf eine Umrechnung auf Sitze. Die Wahlkreisgrössen sind zu ungleich; nationale Trends müssen sich kantonal nicht durchsetzen. Zudem werden die Mandatszahlen durch Listenverbindungen beeinflusst.

Claude Longchamp

Ständeratswahlen 2023: Ausgangslage und Aussichten

Der Ständerat ist die stabiler der beiden Parlamentskammern. 2023 dürfte er aber nach rechts rücken. Gegenwärtig am aussichtsreichsten tritt die FDP an. Verluste dürfte es für Polparteien geben.

Die Bewerbungen für den Ständerat 2023 sind nun weitgehend bekannt. Es wird mit gut 150 Kandidaturen für die 46 Sitze gerechnet. Nicht alle sind aussichtsreich, denn in vielen Kantonen versuchen auch Aussenseiter ihre Wahlchancen für den Nationalrat auf diese Weise zu sichern.

Interessante Ständeratswahlen gemäss Tagesanzeiger (31.8.23), von mir leicht vereinfacht

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Ausgangslage
Eine Wahl hat bereits stattgefunden. Der Kanton Appenzell Innerrhoden wählte seinen Vertreter im Frühling an der Landsgemeinde. 9 StandesvertreterInnen haben ihnen Rücktritt angekündigt, 36 stellen sich a, 22. Oktober 2023 einer Wiederwahl.

Prognosen
Prognosen zum Ausgang von Ständeratswahlen sind schwierig. Das hat zunächst mit dem Wahlsystem zu tun. Gewählt wird meist in zwei Runden nach dem Mehrheitswahlrecht. In der ersten Runde braucht es das absolute mehr, in der zweiten Runde das relative. Da sind auch neue KandidatInnen und Allianzen möglich. Nur der Kanton Jura und Neuenburg wählt nach dem Proporzwahlrecht. Das wird alles im ersten Wahlgang entschieden.
Erschwert sind Prognosen auch, weil auch Ständeratswahlen volatiler geworden sind. Medialisierung und Kommerzialisierung haben auch da zugenommen. Wichtiger geworden sind zudem Allianzen, denn die Bürgerlichen wie auch Rotgrün treten zum Teil in Konkurrenz zueinander an.

Brauchbare Regeln
Geblieben ist vor allem eine Regel: Bisherige Kantonsvertretungen, die sich vier Jahre lang bewährt haben und unbescholten sind, werden allermeistens bestätigt.
Weniger sicher, aber immer noch brauchbar, ist Wahl früherer Mitglieder einer Kantonsregierung. Das gilt auch für NationalrätInnen, die sich über überparteilich profiliert haben. Dabei sind die Wahlchancen vor allem von PolitikerInnen erhöht, die nahe dem Zentrum politisieren.
Geringer einzustufen sind Wahlchancen von kantonalen ParlamentarierInnen, aber auch auch Aussenseitern mit einem geringen politischen Profil.

Kantonale Eigenheiten
Selbstredend gibt es auch Unterschiede zwischen Kantonen. In Zürich, Bern, Genf und der Waadt hat es häufig mehrere valable Bewerbungen, sodass die Wahl konkurrenziv ist. In anderen Kantonen herrscht parteipolitische Konstanz, nicht selten durch Absprachen unter den Parteien gesichert.

Aussichten
Zwei Umfragen sind bis jetzt veröffentlich worden. Je eine betrifft den Kanton Zürich resp. den Kanton Aargau. In beiden Fällen gibt es einen Rücktritt und einen bisherigen Favoriten. Der Rest ist noch wenig profiliert.
Weitere Umfragen sollen im Rahmen des SRG-Wahlbarometer nächste Woche erscheinen.
Bereits heute hat der Tagesanzeiger eine vollständige Uebersicht mit allen Kantonen publiziert. Er stützt sich dabei auch brauchbare Regeln wie oben erläutert.
Das Hauptergebnisse des Tagesanzegiers fasse ich hier kurz zusammen.

Erste Zwischenbilanz
Bilanziert man das vorläufig, sind vier Sitzverschiebung zwischen Parteien wahrscheinlich. Das betrifft die Kanton Schwyz, Tessin und Solothurn und die Waadt. Meist ist die FDP in der Favoritenrolle. Einen Sitz verlieren würde die SVP. Sie SP 2 könnte zweimal negativ betroffen sind, aber auch einmal positiv. Dann hätte wohl auch die GPS einen Sitzverlust zu beklagen.
Ich teile diese Einschätzung bis hierher.
Alles andere ist spekulativer. Denn einiges könnte auch erst im zweiten Wahlgang entscheiden werden.
zieht man auch die Eventualitäten in der Tagesanzeiger-Uebersicht bei, könnte die Mitte 3 Sitz (ZH, AG, TI) zu Lasten von FDP, SVP und SP gewinnen. In Zürich könnte auch die SVP einen Sitz von der FDP holen. Allenfalls wäre das auch in Genf bei der FDP oder dem MCG möglich.
Die GPS könnte darüber hinaus einem Sitz (BE) gewinnen, aber auch eine weiteren verlieren (NE). Mehr verlieren könnten die SP (zusätzlich BE, GE), allenfalls in Neuenburg und Solothurn das aber auch kompensieren.
Mehr folgt nächste Woche, wenn weitere Umfragen vorliegen.

Claude Longchamp

Sommerleseliste 2023

Ich bin im Umbruch. Jahrelang habe ich viele Bücher gekauft, zahlreiche davon gelesen und die meisten auch fein säuberlich abgelegt. Doch jetzt ist die Wohnung einfach voll. Selbst der Wintergarten überquillt!
Ich habe meinen Bücherkonsum dieses Jahr eingeschränkt! Selbst eine meiner Buchhändlerinnen hat es klagend bemerkt …
Vor den langen Sommerferien verspürte ich jedoch wieder den ungebändigten Drang, neue und aufschlussreiche Bücher finden. Und so ist meine Leseliste für den Sommer 2023 zustande gekommen.

Geschichte
Werner Meyer, Angelo Garovi: Die Wahrheit hinter dem Mythos. Die Entstehung der Schweiz. Orell Füssli 2023 Link
Daniel Brühlmeier: Die Schweiz in der Staatstheorie. NZZ Libro 2023 Link
Marco Jorio: Neutralität. Eine 400-jährige Geschichte. Hier und Jetzt Verlag 2023 Link
Yves Demuth: Schweizer Zwangsarbeiterinnen. Eine unerzählte Geschichte der Nachkriegszeit. Beobachter Verlag 2023 Link
Landesmuseum Zürich: Zum Geburtstag viel Recht. 175 Jahre Bundesverfassung. Verlag Sandstein 2023 Link

Politik, Recht und Gesellschaft
Michael Strebel: Das schweizerische Parlamentslexikon. Helbling Lichthahn Verlag 2023 Link
Martina Flick Witzig, Adrian Vatter: Direkte Demokratie in den Gemeinden. NZZ Libro 2023 Link Meine Rezension
Schweizer Kompetenzzentrum für Menschenrechte: Menschenrechte in der Schweiz stärken. Neue Ideen für Politik und Praxis. 2022 Link
Beat Kappeler: Wenn alles reisst, hält die Schweiz? Stämpfli Verlag 2023 Link
Islam Alijaj: Wir müssen reden. Ein biografisches Manifest. Limmat Verlag 2023 Link

Einiges davon gibt es auch als eBook oder Online Dokumentation …
Schönen Lesesommer!
Claude Longchamp

Holzhausen ruft!

Die Sommerferien 2023 kommen näher. Ich bin noch kurze Zeit in der Schweiz, dann reise ich per Zug und Schiff in den hohen Norden.

Holzhausen, wie ich unser Zuhause im Norden,nenne, wartet schon auf mich. Es gibt hoffentlich einen angenehm warmen, aber nicht heissen Sommer. Arbeit auf unserem Einod gibt es genug.
Zurück bin ich erst am 27. August, rechtzeitig für den 12. September (Gründungsfeier des Bundesstaat), den 22. Oktober (eidg. Wahlen) und den 13. Dezember (Bundesratswahlen).
Und selbstverständlich komme ich auch als @stadtwanderer_ zurück!
Ich freue mich auf die Auszeit und den last swing im Berufsleben.

C.

Foto: Junger Morgen in Holzhausen

#Frisch gebloggt: Wie stark sind die Schweizer Parteien heute?

Das zweite von vier Wahlbarometern im Wahljahr weist die aktuell bekundeten Parteistärken aus. Demnach liegt die SVP unangefochten an der Spitze, gefolgt von SP, FDP, Mitte, Grüne und Grünliberale. Neu ist der Abstand zwischen FDP und Mitte am kleinstem. Dafür ist der Vorsprung der Mitte auf die Grünen angewachsen.


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Korrekturwahl oder Jojo-Effekte
Gegenüber 2019 postuliert das Wahlbarometer eine «Korrekturwahl». Denn SVP, SP und Mitte könnten nach Verlusten bei der letzten Wahl wieder erstarken. Die GLP könnte nochmals zulegen und die FDP erneut verlieren.
Ich setze “Korrekturwahl” schon länger mit “Jojo-Effekten” gleich. Demnach verliert eine Partei eine Wahl, wenn man die vorherige klar gewonnen hat – und umgekehrt.

Etwas zittrige Messwerte
Bei den konkreten Zahlen habe ich etwas mehr Differenz. Denn die Messwerte in allen Umfragen sind etwas zittrig.
Zweimal die gleiche Tendenz in zwei aufeinanderfolgenden Umfragen des gleichen Instituts gab es jüngst nur bei der SVP in positiver und der FDP resp. den Grünen in negativer Hinsicht. Da kann man von Trends ausgehen. Bei SP, Mitte und GLP wechseln sich Veränderungen und Stabilität aber schneller ab.

Combining als Alternative
Seit 8 Jahren betreibe ich eine Alternative zur mittelfristigen Bestimmung der Parteistärken. Gelernt habe ich sie beim Projekt «Pollyvote», das namentlich amerikanische Präsidentschaftswahlen so analysiert hat, um allfällige Verzerrungen in Umfragen erkennen eingrenzen zu können. In der Fachsprache spricht man von «Combining».
Das Verfahren ist einfach: Es braucht mehrere Indikatoren zu Parteistärken, die voneinander unabhängig sind. Bei identischen Indikatoren wird zudem ein Mittelwert bestimmt.

Parteistärken im Parlament und in Umfragen
Noch bleibt viel Aufbauarbeit, um bei Schweizer Wahlen mittels Combining zuverlässige Aussagen zu machen. Immerhin gibt es eine Zwischenbilanz. Eine vereinfachte Form findet sich obenstehend.
Aufgrund der Fraktionsstärken (samt Nachwahlen seit 2019) ist wiederum die SVP ist die Nummer 1, SP und Mitte teilen sich den zweiten Platz, die FDP folgte als vierte, noch vor den Grünen und der GLP.
Nimmt man das Mittel der der Erhebungen für die SRG und die Tamedia Gruppe, führt die SVP, gefolgt von der SP, der FDP, der Mitte, den Grünen und der GLP.
Vergleicht man die beiden Teilergebnisse gibt es Uebereinstimmungen und Unterschiede. Bei den Fraktionen ist die Mitte vor der FDP, in den Umfragen liegt sie dahinter. Allerdings wird der demoskopische Unterschied geringer.
Wer im Herbst 2023 von FDP und Mitte die Nase vorne hat, kann momentan noch nicht entschieden werden.

Was sich mittelfristig geändert hat
Gegenüber 2019 hat sich vor allem die Position der Grünen verändert. Damals waren sie die vierte Partei, mindestens bei den Parteistärken. Vordergründig ist die Veränderung eine Folge des Rückgangs in der Wählendenstärke in Umfragen. Hintergründig wichtiger ist, dass CVP und BDP eine Fusion zur Mitte-Partei eingegangen sind und bezogen auf ihre Anteile von 2019 die Grünen überholt haben.

Was daraus folgt
Erstens ist die Reihenfolge der Partei (seit der Fusion zur Mitte) konstant. So schnell ändert das in der Schweiz nicht.
Zweitens, Parteistärken in Umfragen sind Momentaufnahmen, entweder durch die Messung oder durch das Politklima während der Messung bestimmt.
Drittens, der nationale Haupttrend besteht in der Polarisierung, von der SVP und SP profitieren.
Viertens, minimal gibt es neue auch eine Stärkung des Zentrums.
Fünftens, die Hausse der grünen Parteien ist ans Ende gekommen. Sie sind zusammen schwächer als 2019, vor allem wegen dem Einbruch der Grünen. Beide Parteien bleiben aber stärker als 2015, zusammen und einzeln.

Claude Longchamp

Neues zu Volksabstimmungen in Schweizer Gemeinden

«Direkte Demokratie in den Gemeinden»: welch gross(artig)es Thema für politikwissenschaftliche Forschungen! Es geht um das Land des Weltmeisters in Sachen Volksabstimmungen einerseits, und um ein Thema mit einer augenscheinlichen Forschungslücke in der Schweiz anderseits.

Martina Flick-Witzig und Adrian Vatter hat das so stark fasziniert, dass sie trotz äusserst schwieriger Datenbeschaffung über Jahre hinweg dranblieben. Was dabei herausgekommen ist, berichten die Autor:innen gut belegt und reich illustriert nun zwischen zwei Buchdeckeln, die der NZZ Libro Verlag vertreibt.
Vielleicht wäre es trotz des offensichtlichen Enthusiasmus treffender gewesen, das Werk «Die Volksabstimmungen in den Schweizer Gemeinden» zu nennen. Da füllt das Buch die angesprochene Lücke. Doch bleibt sie bestehen, wo es um eine breite Uebersicht über Gemeindeversammlungen geht, die vielerorts als eigentlicher Kern der direkten Demokratie auf kommunaler Ebene gilt.

Zentrale Befunde
Datenbasis des Projektes und Buches bildet die erstmalige Vollerhebung zu Verfahren und Gebrauch von Volksabstimmungen in allen Schweizer Grossstädten (mit über 50000 Einwohner:nnen) und ausgewählter Gemeinden aus allen 26 Kantonen. Eingebettet wird dies in die Ergebnisse der wissenschaftlichen Literatur auf internationaler und subnationaler Ebene.
Einige der zentralen Erkenntnisse lauten:
Erstens: Kommunale Volksrechte sind in allen Landesteilen verbreitet. Doch werden sie sehr unterschiedlich genutzt. Am häufigsten zur Anwendung kommen sie in den grösseren Städten der deutschsprachigen Schweiz.
Zweitens: Die Hürden zur Einreichung von Referenden und Initiativen sind vergleichsweise hoch. Die Quoren auf kommunaler Ebene reichen im Extremfall bis zu 20 Prozent der Stimmberechtigten. Das ist einiges mehr als in den Kantonen und vor allem im Bund.
Drittens: Eigentlich nur in den grösseren Städten der deutschsprachigen Schweiz finden regelmässig Volksabstimmungen statt. Das gibt es auch am meisten Volksinitiativen, während namentlich die Referenden in den Gemeinden durch hohe Eintrittsschwellen bei Unterschriftenzahlen und Fristen gering gehalten werden.
Schliesslich viertens: Die Höhe der kommunalen Stimmbeteiligung hängt heute von der Kombination mit eidg. Vorlagen ab. Diese mobilisieren stärker und ziehen mehr Bürger:innen bei lokalen Abstimmungen mit. Ohne diese Lokomotive sacken die kommunalen Beteiligungsquoten meist deutlich ab.

Erhellende Vertiefung zu kommunalen Volksinitiativen
Innovativ ist das neue politologische Werk meines Erachtens namentlich entlang den Ausführungen zu Volksinitiativen auf kommunaler Ebene. Denn da werden bis zu 40 Prozent der Vorlagen angenommen. Der Vergleichswert in den Kantonen liegt bei einem Viertel, auf Bundesebene gar nur etwas über 10 Prozent.
Dazu bieten die Autor:innen verschiedene Erklärungsansätze an:
Zunächst ist da der urbane Kontext: Eigenheiten der grossen Städte wirken sich begünstigend auf den Ausgang von Volksinitiativen aus: moderne Räume mit entsprechenden Probleme, häufig rotgrünen Regierungsmehrheiten und entsprechender politische Grundstimmungen befördern die Annahmewahrscheinlichkeit von Volksinitiativen.
Dann sind es Besonderheiten der städtischen Volksinitiativen: Häufige Themen sind da die interkommunale Zusammenarbeit, das Gesundheitswesen und die öffentliche Sicherheit. Sie kennen überdurchschnittliche Ja-Stimmenanteile. Und nicht selten dominiert da auch die amtliche Information.
Ferner kommt die Intensität städtischer Abstimmungen hinzu: Erwogen wird, dass sich die höhere Vorlagenzahl auf die Erfolgsquote auswirkt. Dann ist vermehrt mit Heuristiken zu rechnen, die jenseits der Auseinandersetzung mit einer einzelnen Vorlage seitens der Stimmenden angewandt werden. Wo das politische Vertrauen generell vorhanden ist, begünstigte das Ja-Ja-Ja Antworten und damit auch die Zustimmungsquoten.
Schliesslich wirken die hohen Hürden: Sie trennen frühzeitig die Spreu vom Weizen. Was zur Abstimmung kommt, ist durch den Vorprozess besser qualifiziert worden. Damit scheiden aussichtslose Projekt schon im Sammelstadium eher aus – oder werden gar nicht lanciert.

Eine alternative Erklärung
Natürlich beginnen genau bei diesem Fazit die interessanten Nachfragen. Denn die Abstimmungskämpfe in auf Bundes- und Gemeindeebene unterscheiden sich markant.
Dort die professionalisierte politische Kommunikation mit langen Abstimmungskämpfen, häufig stark kommerzialisiert und darauf angerichtet, Zweifel an der Vorlage zu säen. Da die meist kurzen Abstimmungskämpfe, nahe bei den Initianten und ihren unmittelbaren Widersachern, sodass sich alles um konkrete erkennbare Projekte mit geringerer Komplexität dreht, von denen man auch ohne Kampagnen eine Ahnung haben kann.
Denkbar wäre meines Erachtens die nicht diskutierte Erklärung, wonach die etablierten Kräfte auf Bundesebene insgesamt gelernt haben, mit den Herausforderungen seitens von Volksinitiativen zu leben, sodass sich die Abstimmungserfolge auf wenige Vorlagen konzentrieren mit hohem Problemdruck (Pflegeinitiative) oder hoher symbolischer Bedeutung (Burka-Verbot).
Demgegenüber wären Volksinitiativen auf der kommunalen Ebene ein normaler Bestandteil des urbanen politischen Prozesses, der deshalb auch weniger polarisiert und auch weniger mobilisiert, was die Erfolgswahrscheinlichkeiten von Bürger:innen-Anliegen erhöht.

Fazit
Das Buch ist gelungen! Nach dessen Lektüre weiss man mehr über Volksabstimmungen in den Schweizer Kommunen. Man kennt die Verbreitung und Nutzung der Instrumente in allen Landesteilen besser, und man kann die Chancen von Volksentscheidungen treffender einschätzen.
Wünschenswert wäre gerade auch deshalb ein zweiter, ebenso aufwendig gemachter Band zu Gemeindeversammlungen mit Schwerpunkt bei den kleinen und mittleren Gemeinden als der «anderen Form» der angesprochenen direkten Demokratie auf kommunaler Ebene.

Claude Longchamp

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