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Der Bundesrat. Reformbedürftig.

Seit gestern im Buchhandel, seit heute auf „zoonpoliticon“ besprochen: „Der Bundesrat“ -, das neue Standardwerk von Adrian Vatter.

Adrian Vatter, Co-Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Bern, hat in der letzten Dekade einen ausgezeichneten Ruf als Denker zum politischen System der Schweiz erworben. Mit seinem Engagement als SRF-Kommentator der Bundesratswahlen seit 2015 ist er zudem aus dem akademischen Umfeld herausgetreten und in der Oeffentlichkeit deutlich bekannter und geschätzter geworden.

Vom Lexikon der BundesrätInnen zum Analyse der Institution Bundesrat
Gestern hat Vatter sein Buch «Der Bundesrat. Die Schweizer Regierung» nach 10jähriger Arbeit veröffentlicht. Der Herausgeber NZZ Libro präsentiert das Werk als die erste politikwissenschaftliche Spezialpublikation zur Schweizer Erfindung unter den Regierungssystemen der Welt. Erweitert wird damit die primär historische Betrachtung des Bundesrats, die der Freiburger Historiker Urs Altermatt mit seinem «Bundesratslexikon» aus dem gleichen Verlag eingeleitet hat.
Im neuen Bundesratsbuch wird die Landesregierung in ihrer Stellung im Regierungssystem, hinsichtlich ihrer politischen Zusammensetzung, ihrer Wahlen und Rücktritte, ihrer Organisation und Arbeitsweise sowie ihrer Aufgaben und Funktionen gründlich analysiert. Hinzu kommt ein äusserst aufschlussreiches Kapitel zu Modellen der Regierungsreform, die in jüngster Zeit öffentlich gemacht wurden.

Die drei Dilemmata des Bundesrats
Gut lesbar verdichtet wird das 400seitige Werk in einer Schlussbetrachtung, die auf 20 Seiten die Essenz der gemachten Ergebnisse zusammenfasst. Zentral sind dabei Vatters Ausführungen, warum sich der Bundesrat lieber «durchwurstelt» (O-Ton Vatter) denn als führungsstark zeigt. Konkret spitzt der Autor die drei Dilemmata so zu:
Erstens, der Konflikt zwischen den Parteiinteressen und dem Kollegial(itäts)prinzip;
zweitens, das Spannungsverhältnis zwischen der Verantwortung für das Departement und der Zusammenarbeit über im Bundesratsgremium und
drittens, die problematisch geworden Legitimation angesichts steigender Erwartung durch verbreitete Mitsprache und einer strategischen Staatsführung, die damit nicht mithält.
Vatter sieht dies bereits in der Staatsgründung angelegt, im 21. Jahrhundert durch Polarisierung, Medialisierung, Personalisierung, aber auch durch die Internationalisierung der Schweizer Politik verschärft.

Ansätze einer systemischen Reform
Der Politik-Professor stellt drei Ansätze der Entschärfung zur Diskussion:
. die gleichzeitige Listenwahl des Bundesrats zur Stärkung des Kollegial(itäts)systems
. ein Präsidialdepartement zur Erhöhung der Planungs-, Leitungs- und Koordinationskapazitäten und
. einen Konkordanz-Vertrag zur Förderung der von Prioritäten im Regierungshandeln und der Kohärenz der Staatsführung.
Neu ist, dass Vatter sie aus einer breiten Palette von Reformvorschlägen aufgrund einer umfassenden Evaluierung ausgewählt und zu einem System an Veränderungen zusammengeführt hat.

Listenwahl mit einem Mix aus Volks- und Parlamentswahl
Namentlich die Listenwahl würde die bisherigen Wahlen ändern. Anstelle der sequenziellen Einzelwahl wären inskünftig Auswahlen aus verschiedene Listen mit partei- und sprachübergreifenden Mischungen denkbar.
Bei der Bestimmung des Mixes schwebt Vatter ein zweistufiges Verfahren vor. Mit der Parlamentswahl würde die parteipolitische Zusammensetzung proportional zur Wählenden-Stärke bestimmt, während das Parlament selber die personelle Bestimmung der Regierungsmitglieder bestimmen würde.
Aktuell gäbe das wohl sechs Parteien im Bundesrat, zu den bisherigen SVP, SP, FDP und CVP neu auch die GPS und die GLP.
Vatter ist Realist genug, um zu wissen, dass seine Vorschläge bei der nächsten Gesamterneuerungswahl 2023 nicht umgesetzt sein werden. Er ist aber auch ein hinreichend konsequenter Analytiker, um zu merken, dass die identifizierten Trends anhalten werden.

Die erste Diskussion im Politzentrum der Stadt Bern
Vorgestellt wurde das neue Buch gestern Abend im Berner Politforum «Käfigturm». Das war einmal ein Gefängnis, das sich nun zu einer anregenden Dialogplattform entwickelt. Geübt wurde dabei der Ausbruch aus dem bisherigen Denken, um die Spuren des neuen zu entdecken.
Sparring-Partner für den Forscher waren die alt-BundesrätInnen Ruth Dreifuss und Adolph Ogi. Dieser warb vehement für einen Bundesrat mit nicht nur sieben Mitgliedern, denn das sei heute unmenschlich. Er forderte dreizehn Bundesräte, um bei einem Gremium mit 9 oder 11 zu landen. Geführt werden müsse dieses von einem Regierungspräsidenten, der auf drei Jahre gewählt wäre.
Konträr zum ehemaligen SVP-Magistraten äusserte sich die SP-Politikerin Ruth Dreifuss. Sie plädierte für die Verkleinerung des Hauptgremiums auf 5 Mitglieder, die alle relevanten politischen Strömungen des Landes repräsentieren und an kollegial abgestützten Lösungen für die Zukunftsfragen arbeiten müssten. Zur Entlastungen im Alltagsgeschäft sollten sie durch rund ein Dutzend SpezialistInnen umgeben sein, die als Delegierte die Verwaltung politisch führen würden.
Die Diskussion ist neu lanciert, auch dank dem neuen Buch von Vatter zum Bundesrat!

Nein zur Kriegsgeschäfte-Initiative wahrscheinlich – Ausgang bei der Konzernverantwortungsinitiative weiter offen

Zwischenzeitlich sind fast alle wichtigen Tools zur Bestimmung der Meinungsbildung bei den Volksabstimmungen vom 29. November 2020 publiziert. Namentlich sind dies Inhaltsanalysen, Wettbörsen und Umfragen. Sie lassen den Schluss zu, dass die Kriegsgeschäfte-Initiative wohl abgelehnt wird, während der Ausgang der Volksentscheidung zur Konzernverantwortungsinitiative noch offen ist.



KVI = Konzernverantwortungsinitiaitive
KGI = Kriegsgeschäfteinitiative

Tools im Ueberblick
Die eidg. Räte lehnten beide Volksbegehren ab. Die Schlussabstimmungen im Nationalrat sind jeweils ein erster Gradmesser für den Abstimmungsausgang. Bei der KVI waren 57% der Volksvertreter dagegen, bei der KGI 67%. Nein sagten in beiden Fällen die Fraktionen der SVP, FDP und CVP, für ein doppeltes Ja setzten sich SP, GPS und EVP ein. Die GLP und BDP waren mehrheitlich für die KVI, aber gegen die KGI.
Das wiederholte sich beim Parolenspiegel. Gemischte Parolen gab es zudem bei der EDU.
Die Mehrheiten im Nationalrat verweisen auf eine Ablehnung beider Initiativen mit 55 resp. 64 Prozent. Die nationalen Parteien dagegen machen 57 resp. 67 Prozent aus. (www.swissvotes.ch)
Beide Indikatoren müssen das Abstimmungsergebnis nicht vorweg nehmen. Denn sie bilden die Charakteristik eines Abstimmungskampfes bisweilen nur unvollständig ab. Das ist aktuell mit dem Ja-Engagement der Zivilgesellschaft, aber auch der Nein-Kampagne der Wirtschaft der Fall. Deshalb sind zunächst Inhaltsanalysen von Medien hilfreicher.
Eine systematische Auswertung des Bundesbüchleins nach neuralgischen Begriffen wiederholt die Aussicht auf eine doppelte Anlehnung. Die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung ist aber bei der KGI eindeutig grösser als bei der KVI. (www.stellus.ch)
Die Zwischenauswertung der Massenmedien durch das Institut Fög zeigt ähnliches. Bei der KVI fällt die mediale Bewertung mit 44:56 – verstärkt noch in der Deutschschweiz – schon recht deutlich aus, bei der KGI herrscht mit 49:51 noch ein faktisches Patt. (www.foegUZH.ch)
Nahe bei der medial veröffentlichten Meinung sind in aller Regel Wettbörsen. Die führende unter ihnen in der Schweiz geht von einem Ja bei der KVI aus, aber von einem Nein bei der KGI. Erwartet werden Ergebnisse recht nahe bei 50 Prozent. Auch hier gilt, dass die Sicherheit der Aussage bei der KGI höher ist als bei der KVI. (www.50plus1.ch)
Die beiden Umfragereihen, die heute letztmals ihre Werte publiziert haben, sehen zunächst gleich fast aus. Beide haben ein 50+ beim Ja zur KVI. Bei der KGI sind die letzten Zustimmungswerte tiefer. Beide Umfrageserien haben darüber hinaus einen negativen Trend. Der besagt, dass die Zustimmung in den letzten 2 resp. 4 Wochen gesunken ist. (www.gfsbern.ch resp. www.tamedia.ch).
Das entspricht genau den Annahmen zur Entwicklung der Meinungsbildung bei Volksinitiativen, wie sie im Dispositionsansatz formuliert wurden. Sie gehen davon aus, dass frühe Stimmabsichten eher Sympathiekundgebung denn Vorentscheidungen sind und sich solche erst im Verlaufe de Abstimmungskampfes bilden.
Da zählt, dass die Rückgänge der anfänglichen Zustimmungsabsichten namentlich bei den bürgerlichen Wählerschaften mit dem Abstimmungskampf geschmolzen sind.
Extrapoliert man diesen vom mittleren Befragungstag bis zum Abstimmungstag, ist ein Nein bei der KGI sicher, bei der KVI möglich, wenn auch aktuell nicht gegeben. Da kann das Ständemehr entscheiden.
Bisher unbekannt sind Analysen der bezahlten Werbung und der Bewertung der Vorlagen auf Twitter.

Bilanz
Streng genommen sind die Tools Momentaufnahmen, keine Prognosen. Nur die Inhaltsanalyse des Bundesbüchleins ändert sich, einmal erstellt nicht mehr.
Fasst man alle Instrumente zusammen, kann man von einer Ablehnung der KGI ausgehen, derweil der Ausgang der KGI weiter offen ist.
Mit den bisher vorhandenen Tools nicht klären lässt sich das Ständemehr. Da gilt aus Erfahrung, dass gegensätzliche Mehrheiten bei einem Volksmehr von 55 bis 50 Prozent nicht ausgeschlossen werden können. Wahrscheinliche Kippkantone sind BL, SO, LU, SG, VS und GR. Sie entscheiden wohl über das Ständemehr.
Würde die KVI angenommen, wäre das ein Sieg Mitte/Links, diesmal bestehend aus SP, GPS, GLP, EVP, BDP und EDU. National-, Stände- und Bundesrat würden eine Niederlage erleiden.
Wird die KVI dagegen abgelehnt, setzt sich das bürgerlichen Trio mit SVP, FDP und CVP durch. Zudem blieben Regierung und Parlament in der Mehrheit.
Bei der KGI zeichnet sich wohl ab, dass sich SVP, FDP, CVP, GLP, BDP und EDU am 27. November 2020 durchsetzen werden. Hier ist wahrscheinlich, dass Regierung und Parlament in der Volksabstimmung bestätigt werden.
Egal, was bei der Konzernverantwortungsinitiative herauskommt: Die GLP bleibt die Partei mit der grössten Kongruenz zwischen Parolen und Ergebnissen. Doch wäre bei einem Ja die BDP alleine an zweiter Stelle, bei einem Nein die CVP.

Was die Tools zum Ausgang der Abstimmungen vom 29. November 2020 nun aussagen

Heute ist die zweite von drei Umfragen der Tamedia erschienen, die sich mit den Volksentscheidungen vom 29. November 2020 beschäftigen. Was weiss man nun mehr?

Uebersicht über die Tools zu den Ausgängen der Volksabstimmungen vom 29. November 2020

Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Gemeinsamkeiten der Vorlagen
Vordergründig bestätigt die neue Befragung von LeeWas die Ergebnisse ihrer ersten Erhebung. Beide Volksinitiativen kennen vorerst eine Zustimmungsmehrheit. Die ist bei der Konzernverantwortungsinitiative grösser als bei der Kriegsgeschäfte-Initiative. Die zentrale Polarisierung besteht in den Gegensätzen zwischen linken und rechten Wählenden. Hinzu kommt namentlich das Geschlecht mit verschiedenen Mehrheiten.
Die neue Erhebung zeigt auch, was anders ist. Namentlich geht es um die politische Mitte. Die GLP-Basis ist zweimal mehrheitlich im Ja, die CVP-Basis zweimal mehrheitlich im Nein. Bei der CVP ist das neu, denn da baut sich, analog zur nationalen Parole, die Anlehnung zwischenzeitlich auf. Bei der GLP findet sich das nicht, trotz der ablehnenden Empfehlung der nationalen Partei.
Die zweite Befragung bedeutlicht, welche Argumente bis jetzt zählen. Bei der KVI geht es seitens der Zustimmenden um die Eingrenzung von Profiten, die nicht über Umwelt und Menschenrechten stehen dürfen. Die Widersacher finden in erster Linie, die Initiative sei so, wie formuliert, nicht umsetzbar.

Unterschiede zwischen den Umfrageserien
Gemäss LeeWas-Erhebung ist die Meinungsbildung weit fortgeschritten. Es gibt nur wenige Unentschiedene. Acht bis neun von zehn Teilnahmewillige haben eine bestimmt Stimmabsicht. Was mir vor allem aufgefallen ist, neu will die Mehrheit bestimmt für die KVI votieren.
Genau da ist die Differenz mit der ersten Befragung von gfs.bern. Da gibt es zwar erst ein, und sie liegt schon etwas zurück. Doch hatten vor drei Wochen nur sechs bis sieben von zehn eine feste Meinungsbildung.
Meines Erachtens hat das mit dem Unterschied im Verfahren zu tun. LeeWas macht eine reine online-Erhebung, die auf freiwillige Teilnahme setzt. Schlüssige machen da vermehrt mit. Die Befragung von gfs.bern basiert auf einem mixed-mode-Verfahren. Primär liegt ihr eine repräsentative Stochprobe per CATI zugrunde, sekundär eine online-Befragung. Ersteres garantiert, dass auch unschlüssige Personen mitmachen.

Vergleiche mit anderen Tools
Weitgehend vergleichbar mit den Befragungsergebnissen sind die Befunde der Wettbörse. Demnach geht die Mehrheit der Börsianer von einer Annahme der KVI im Bereich von 50 bis 60% Ja-Stimmen aus. Eine ebenso deutliche Mehrheit rechnet mit einem finalen Nein bei der KGI, auch zwischen 50 und 60% Nein-Stimmen. Ueberraschend ist das nicht, denn die Börsianer orientieren sich nachweislich an Umfrage-Ergebnissen.
Skeptischer fallen die frühen Prognose, beispielsweise die Extrapolation der Schlussabstimmungen in den beiden Parlamentskammern. Sie rechnen durchwegs mit einem finalen Nein zu beiden Volksinitiative. Das gilt auch für die Inhaltsanalyse des Bundesbüchleins mit zwei Nein am Schluss.
Schliesslich die spekulativste Prognose: 2020 hat die GLP die höchste Kongruenz zwischen Parolen und Ergebnissen. Setzt sich das am 29. November 2020 fort, könnte es ein Ja zur KVI und ein Nein zur KGI geben.

Ausblick: Ambivalenzen des Ausgangs oder noch zu früh für eine Einschätzung?
Was erklärt die momentane Ambivalenz in den Einschätzungen? Zwei Antworten sind möglich:
. Entweder kommt der Rückgang in der Zustimmung zu den Volksbegehren noch, was der Normalfall wäre.
. Oder das Parlament hat, zumindest bei der Konzernverantwortungsinitiative, die Vehemenz des Anliegens mehrheitlich unterschätzt, was ein Spezialfall wäre.

Für ersteres spricht, dass die Ablehnung bei der CVP während des Abstimmungskampfes wächst. Das dürfte in erster Linie mit der eingesetzten Kommunikation zum Gegenvorschlag zu tun haben, der in CVP-Kreise Sympathien hat, kaum aber bei der GLP. Zudem wächst die Kritik sowohl am Initiativtext wie auch an der Kommunikation hierzu. Das deckt potenziell eine Schwachstelle auf.
Dagegen kann man einwenden, dass das Gesetz des Handelns im Abstimmungskampf eher bei den Befürworter- als bei der Gegnerschaft liegt. Sie haben mehrfach überrascht, etwa mit dem Engagement von Operation Libero auf ihrer Seite, aber auch jenem der Entwicklungsökonomen für ihre Sache.
Basis dafür ist, dass die Uebereinstimmung in den Zielen deutlich höher ist als in den Mitteln. Bei Ersterem haben die Initiantinnen letztlich gewonnen. Bei Zweiterem klafft jedoch eine beachtliche Lücke. Das spricht dafür, dass beide Seiten den gewachsenen Problemdruck sehen, nicht aber den vorgelegten Lösungsvorschlag teilen.
Entschieden ist noch nichts, doch sind die Chancen der Annahme der KVI heute etwas gestiegen.
Wenn die Zustimmungswerte in einem oder beiden Fällen knapp über der Hälfte bleiben sollten, stellt sich die Frage nach dem Ständemehr. Dieses muss, wie wir wissen nicht gesichert mit dem Volksmehr übereinstimmen. Es wird Sinn machen, nun beide relevanten Mehrheiten zu analysieren.

Populismus in der Schweiz – erstmals nach internationalen Kriterien systematisch vermessen

Offensichtlich wurde die globale Macht populistischer Kräfte 2016. In Grossbritannen kam es zum Brexit, in den USA wurde Donald Trump Präsident. Das hat weltweite eine Welle populistischen Bewegungen und Parteien ausgelöst, die es bis in die Zentren der politischen Macht bringen. Was ist Sache in der Schweiz?

Rechtzeitig zur möglichen Wiederwahl des Republikaners in der USA hat das globale Forschungsprojekt zur Demokratie-Qualität „Varieties of Democracy“ neue Daten veröffentlicht, diesmal zu rund 3500 Parteien aus 170 Ländern. Darunter befindet sich auch die Schweiz. Meines Wissens gibt es keine so umfassende Datenquelle zur Populismus-Messung wie hier. Zudem zeigt sie Entwicklungen in der zeitgeschichtlichen Perspektive

Befunde zur Schweiz

Bezogen auf die Schweiz sind drei Sachen von Bedeutung.
Erstens, populistische Rhetorik kommt im Schweizer Parteiensystem sehr wohl vor. Am ausgeprägtesten ist sie beider SVP, am wenigsten bei der CVP, FDP und der GLP. Eine mittlere Position nehmen die SP, Grünen und BDP ein. Sie befinden sich dabei aber deutlich näher bei den Populismus-freien Parteien als bei der SVP wieder.

Zweitens, am klarsten zeigt sich der Populismus in der Schweiz bei der bedingungslosen Referenz auf das „Volk“. Damit verbunden ist das Misstrauen in Eliten. Hinzu kommen hierzulande verbale Angriffe auf politische Gegner.

Drittens, der Wendepunkt Richtung populistische Elemente im Parteiensystem ist zweifelsfrei 1992. Die EWR-Entscheidung war der Dammbruch, der weg vom konkordanten Polit-Stil hin zum wenigstens teilweise populistischen führte. Höhepunkt war in den Jahre vor 2015, als die SVP in der (Teil)Opposition war.

Der Vergleich mit andern Ländern

Der Vergleich der Befunde zur Schweiz mit denen der USA profiliert die Ergebnisse. Die SVP kennt ganz generell eine mindestens so starke populistische Rhetorik wie etwa die Republikaner. Eindeutig stärker ist hierzulande der Volkszentrismus der SVP, während Positionen gegen die Eliten bei den Republikanern etwas stärker sind. Gleich ausgeprägt sind die Respektlosigkeit gegenüber politischen Widersachern. Demgegenüber sind illiberale oder antidemokratischen Einstellungen bei der SVP weniger verbreitet als bei den Republikanern.

Das belegt auch eine Grafik aus dem Economist. Demnach gleicht die SVP auf den beiden hier ausgewählten Dimensionen am ehesten der FPOe. Sie ist wohl etwas radikaler als die Tories, aber weniger als UKIP in Grossbritannien.

Kritik
Die Ausprägung des Volkszentrismus in der Schweiz kommt nicht überraschend. In einer direkten Demokratie gibt es diesen selbstredend. Einzelne Forschungen sehen darin an sich ein Problem, denn für sie reichen repräsentative Demokratie. Das ist beim VDem-Projekt vorteilhafterweise nicht der Fall. Das heisst jedoch nicht, dass die „Verabsolutierung des Volks“ nicht vorkommt.
Die Schweiz als Ganzes hat sich dazu mehrfach kritisch geäussert, beispielsweise bei der Volkswahl des Bundesrat oder bei Selbstbestimmungsinitiative, welche Volksentscheidung generell über völkerrechtliche Verpflichtungen stellen wollte. Stets gab es dazu negative Volksentscheidungen, trotz klaren Ja-Parolen der SVP.
Mehr dazu in meiner heutigen Kolumne für #Swissinfo.

Datenanalyse Schweiz: Mila Bühler

Wird Trump wiedergewählt? Nein, sagt der beste Prognostiker

Wenn ein Algorithus den Gewinner der US-Präsidentschaftswahlen sucht, muss man unweigerlich an den Historiker Allan Lichtman denken. Denn er hat ihn bereits in den 1980er Jahren konzipiert und damit seither erfolgreich Prognosen gemacht, die er auch inhaltlich begründen kann.

Wir sind es uns gewohnt, eine Wahl in der Campaigning-Logik zu analysieren. Wir lassen die wichtigsten Kampagnen-Momente nochmals Revue passieren, erinnern uns an die medialen Bewertungen, und es spielt eine Rolle, wie das Ganze bei uns ankam.
Allan Lichtman, Historiker an der Washington Universität, hat ein ganz anderes Vorgehen entwickelt, und damit eine ausserordentliche Treffsicherheit erreicht.
Er folgt der Governing-Logik, die auf die Ergebnisse des Regierungshandelns abzielt. Hierfür hat aus der amerikanischen Geschichte dreizehn Schlüsselfragen eruiert, die ihm helfen, das Ergebnis der Wahl vorherzusehen.
Und, welch Wunder: Er hat bei den US-Präsidentschaftswahlen seit 1984 so stets die richtige Prognose abgegeben!

Uebersicht zu den Bewertungen der US-Präsidentschaftskandidaten seit 1984 von Allan Lichtman

Quelle: Wikipedia

Lichtmans These ist, dass die Wahlen in den USA eine Art Referendum für die Partei des Amtsinhabers sind.
Ueberwiegt das Positive, bleibt die Partei an der Macht, im umgekehrten Fall kommt es zum parteipolitischen Machtwechsel.
Damit hatte er namentlich 2016 grossen Erfolg, denn er gehörte zu den ganz wenigen Prognostikern, der die Abwahl der Demokraten und damit die Niederlage Hillary Clintons voraus sah.
Die beigefügte Tabelle zeigt, wie die neuerliche Beurteilung Trumps ausfällt. Um sie richtig zu lesen, muss man den Rollenwechsel verstehen, dem er vom Herausforderer zum Herausgeforderten unterliegt.
Einfach gesagt: Nicht er führt das Referendum wie 2016. Vielmehr führen die Demokraten nun das Referendum gegen Trumps Republikaner.

Lichtman sieht sechs relevante Stärken des Präsidenten:
Trump ist der Amtsinhaber (incumbency), hatte keine nennenswerten Herausforderer bei den Vorwahlen (contest), und es gibt aktuell keine nennenswerte Drittpartei, die um die Macht kämpfen würde (thrid party). Der Historiker attestiert dem Präsidenten, einen politischen Wandel im Sinne seines Wahlprogramms und seiner Wählenden erreicht (policy change) und militärisch keine grosse Niederlage erlitten zu haben (military failure). Schliesslich spricht für ihn, dass sein Herausforderer Biden kein Charisma hat, das per se die Wählenden für sich gewinnt.
Doch gibt es für Lichtman auch sieben Schwächen, die er in zwei Katergorien einteilt:
Bereits vor Jahresfrist zählte er die Niederlage der Republikaner bei den Midterms dazu (party mandate), den fehlenden aussenpolitischen Erfolg (foreign success) und die zahllosen Skandale um seine Amtsführung dazu (scandal). Hinzu kam seine eigene Schwäche, denn er spaltete die Nation zusehends, statt der Präsident aller zu werden.
Das alleine hätte nach Lichtman jedoch nicht für eine Abwahl der Republikaner genügt, denn es wären erst vier Schwächen gewesen. Massgeblich war für ihn die beschleunigte Entwicklung im Corona-Jahr selber. Klar wurde die Verschlechterung der kurzfristigen wirtschaftlichen Lage, die schliesslich die Bilanz der ganzen Amtszeit entscheidend verdüsterte. Zudem brachen mit der BLM-Bewegung auch ernsthafte soziale Unruhen aus.
Zusammen sind das für den gewieften Diagnostiker und Prognostiker zwei Schwächen zu viel.

Lichtman hat einen äußerst beachtlichen Leistungsausweis als Prognostiker. Immerhin, sein Vorgehen hat auch gewisse Schwächen. Denn es wurde letztlich für den normalen Wahlausgang entwickelt. An Grenzen kommt es, wenn der popular vote und das electoral college verschiedene Mehrheiten kennen.
Fox News, dem Trump-nahen TV-Sender, erklärte Lichtman gestern Abend in aller Ruhe, der Republikaner werde abgewählt. Erstmals seit 1992 scheitere ein Amtsinhaber wieder.

Aussang bei Konzernverantwortung offen, eher Nein bei Kriegsgeschäfte

Das Bild zum Ausgang der Volksabstimmungen vom 29. November 2020 verdichtet sich: Zwischenzeitlich liegen die frühen Umfragen, die Wettbörse, die Inhaltsanalyse des Bundesbüchleins und die Extrapolation der Schlussabstimmungen im Parlament auf den Abstimmungstag vor. Bei der Kriegsgeschäfteinitiative zeichnet sich eher ein Nein ab, während der Ausgang bei der Konzernverantwortungsinitiative offen ist.


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Bei der Konzernverantwortungsinitiative sind die SP und die Grünen dafür. Hinzu kommen noch die GLP, BDP, EVP und EDU. Dagegen sprechen sich national die SVP, FDP und CVP aus. Das entspricht einer modifizierten Links/Rechts-Polarisierung. Vergleicht man den Parolenspiegel mit dem zur Kriegsgeschäfteinitiative vergleicht, wird dies noch deutlicher. Da sind, wie bei einer Rechts/Linksspaltung gewohnt, SP und GPS dafür, – und einzig die EVP macht mit ihrem Ja eine Ausnahme.
Damit angesprochen wird die Konfliktlinie. Sie ist eine Determinante der politischen Entscheidung, sprich des Abstimmungsresultats. Andere wie die Vorlage selber, der Abstimmungskampf in Medien und Werbung, die Meinungsbildung der BürgerInnen, ihre Mobilisierung und das politische Klima der Entscheidung kommen hinzu.
Die Abstimmungsforschung hat eine Reihe von Tools entwickelt, um den Ausgang von Volksentscheidung im Voraus zu analysieren. Da sind einmal Bevölkerungsumfragen und Wahlbörsen, welche die Dynamik der Meinungsbildung spiegeln. Und es gibt Inhaltsanalysen der amtlichen Unterlagen sowie Umrechnungen der Schlussabstimmungen, welche einmalige Vorhersagen erlauben.
Jedes Tool hat Stärken und Schwächen. In ihrer Gesamtheit erlauben sie es allerdings, den Ausgang von Volksabstimmungen qualitativ hinreichend einzugrenzen.

Was heisst das mit Blick auf den 29. November 2020?

Erstens, bei der Kriegsgeschäfte-Initiative ist das einfacher. Die Schlussabstimmungen in beiden Parlamentskammern, die Extrapolation dieser auf das Volksmehr, die Inhaltsanalyse des Bundesbüchleins und die Wettbörsen sehen das genauso. Nur die Umfragen sind gegenwärtig knapp im Ja. Doch sind das Momentaufnahmen, keine Prognosen. Vor allem bei Volksinitiativen mit einem klaren Links/Rechts-Profil rechnet man am besten mit einem Rückgang der Zustimmungsbereitschaft. Denn die Nein-Kampagnen vor rechts zeigen unter diesen Bedingungen Wirkungen in der bürgerlichen Wählerschaft.

Zweitens, genau das ein auffälliger Unterschied zur Konzernverantwortungs-Initiative. Sie kann sich gemäss Tamedia-Umfrage auf 57 Prozent, bezogen auf die Erhebung für die SRG gar auf 63 Prozent stützen. Zwar dürften auch diese Werte mit dem Abstimmungskampf zurückgehen. Doch bleibt es hier offen, ob es auch zu einer Wende kommt.
Für ein knappes Ergebnis bei der KVI sprechen zuerst die Schlussabstimmung im Nationalrat. Hochgerechnet auf das Abstimmungsergebnis kann man von einem Ja/Nein-Verhältnis von 49 zu 51 ausgehen. Das ist zudem nicht zwingend, denn es unterstellt eine Normalkampagnen. Diese ist aber, wenn man den bisherigen Verlauf verfolgt, nicht eindeutig. So sind das Engagement von JuristInnen und der Kirche zugunsten der Vorlage hoch – und überwiegend wohlwollend. In beiden Umfragen zeigt sich die entscheidende Bedeutung der CVP-Wählerschaft. Die kennt ein Nein der Mutterpartei und ein Ja der Jungpartei; hinzu kommen verschieden Kantonalparteien von Genf bis Thurgau. Gleich wichtig sind die Parteiungebundenen, also jene Wählende, die sich keine Partei nahe fühlen und deshalb verstärkt auf Argumente von allen Seiten reagieren.
Abstrahiert von diesen Aktivitäten kommt die Inhaltsanalyse des Bundesbüchleins zu einem Nein, wenn auch nur mit 55prozentiger Wahrscheinlichkeit. Für ein Ja sprechen der ersten Angaben aus der Wahlbörse. Gemäss diesem Tool wir mehrheitlich mit einer Zustimmung gerechnet, am ehesten mit einem Endwert zwischen 50 und 60 Prozent. Das deckt sich letztlich mit den Umfragewerten.
Keine direkten Schlüsse lassen sich daraus für das Ständemehr ziehen. Diese müsste separat analysiert werden.

Noch ist offen, was bei der Konzernverantwortungsinitiative weiter geschieht. Der Normalfall ist der Rückgang der Zustimmung. Bei Spezialfall ist das nicht so, weil der Problemdruck, wie ihn die Stimmenden sehen, überparteilich als hoch angesehen wird.
Was hier Sache ist, kann noch nicht abschliessend beurteilt werden. Bei der Atomausstiegsinitiative der Grünen reichte es nicht für eine Stabilisierung der Zustimmung, die anfänglich gleich hoch war wie bei der Konzernverantwortungsinitiative. Sie scheiterte nach dem Abstimmungskampf. Hingegen war der öffentliche Druck seitens der Bevölkerung stark genug, dass es bei der Abzocker-Initiativen nicht dazu kam.
Weitere Umfragen, verbunden mit Medien- und Werbeanalysen um Abstimmungskampf, werden helfen, das zu klären.

Frühe Umfragen zu Volksinitiativen sind keine Prognosen, helfen aber, zu solchen zu gelangen.

57 Prozent Zustimmungsbereitschaft zur Konzernverantwortungs-Initiative, 52 Prozent zur Kriegsgeschäfte-Initiative. Das sind die Hauptbotschaften der heute veröffentlichten ersten von drei Tamedia-Umfragen.

Wichtige Kennzahlen
Was heissen die ersten Umfragewerte für den Abstimmungsausgang?
Ich schlage vor, nur auf vier Zahlen zu achten: Die eben zitierten Zustimmungsbereitschaften insgesamt, die bestimmten Absichten, Ja zu sagen sowie die parteipolitischen Konflikte – und da die Zustimmungsbereitschaften der Mitte-Parteien, sprich von CVP resp. GLP. Die nachstehende Tabelle gibt die nötige Uebersicht.

Tabelle 1: Wichtige Kennzahlen aus der aktuellen Tamedia-Umfrage

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Beide Vorlagen starten mit einer positiven Zustimmungsmehrheit, aber die festen Absichten, Ja zustimmen, sind nur minderheitlich. Das ist der erste wichtige Sachverhalt, der heute kommuniziert wurde. Bei beiden Vorlagen will die GLP-Wählerschaft momentan zustimmen, die der CVP indessen nicht. Bei der Kriegsgeschäftevorlage ist sie mehrheitlich im Nein, bei der Konzernverantwortung genau halb-halb gespalten. Das ist der zweiten entscheidende Sachverhalt von heute.

Momentaufnahmen und Prognosen
Nun sind das bekanntlich nicht die Endergebnisse. Es sind die Verhältnisse zu einem frühen Zeitpunkt der Meinungsbildung. Frühe Umfragen zu Volksinitiativen sind keine Prognosen, aber sie helfen, zu solchen zu gelangen.
Ganz genau weiss niemand, wie es weiter geht. Denn das hängt von den Kampagnen und unerwarteten Ereignissen ab. Allerdings gibt es Erfahrungsregeln: Bei linken Volksinitiativen geht man in Umfragereihen am besten von einer Zunahme der Ablehnung aus resp. Abnahme der Zustimmung aus. Unbekannt ist nur das Ausmass dieser Veränderungen.
Das spricht bei der Kriegsmaterial-Vorlage für eine finale Ablehnung, während bei der Konzernverantwortungsvorlage ein knapper Ausgang beidseits der 50 Prozent-Grenze möglich erscheint.

Tabelle 2: Schlussabstimmungen, Prognosetools und Umfragewerte

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Geeigneter als solche Schätzungen sind eigentliche Prognosetools, wie sie im obenstehenden Cockpit zusammengefasst wurden. Sie interessieren sich nicht für Momentaufnahmen, sondern nur für das mögliche Abstimmungsresultat.
Relevante Vorhersagen lassen sich einmal aus Schlussabstimmungen in beiden Räten, sodann aus dem Inhalt der Vorlage resp. des Bundesbüchleins entwickeln. Diese liegen vor, bevor es die ersten veröffentlichten Umfragen gibt. Die Extrapolation aus den Schlussabstimmungen habe ich selber gemacht, die Inhaltsanalyse basiert auf künstlicher Intelligenz, entwickelt von www.stellus1.ch. Stellus1 macht reine Prognosen mit Wahrscheinlichkeiten. Die Extrapolationen setzen Normalkampagnen voraus, weder besonders schwache noch besonders starke.
Nun legen die verfügbaren Prognoseinstrumente ein Nein zu beiden Vorlagen nahe! Bei der Kriegsgeschäfte-Initiative ist diese Vorhersage sehr wahrscheinlich, bei der Konzernverantwortungs-Initiative jedoch wiederum nicht gesichert. Die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung aufgrund des Gesamttextes im Bundesbüchlein liegt hier nur knapp über 50 Prozent. Die Werte aufgrund der Schlussabstimmungen ihrerseits sprechen für ein Abstimmungsresultat von bis 48 Prozent Ja. Sie sind also noch recht nahe bei der 50 Prozent-Marke für das Volksmehr.
Mit anderen Worten: Die Thematik und die politische Konstellation verweisen bei der Kriegsgeschäfte-Initiative auf ein Nein. Die Umfrage liegt ganz knapp im Ja, aber mit einem erwarteten Rückgang der Zustimmung während des Abstimmungskampfes. Offen ist dagegen der Ausgang der Konzernverantwortungs-Initiative.

Was bei Links-/rechts-Polarisierung entscheidet
Bei Vorlagen, die im Links/Rechts-Spektrum polarisieren, gibt die Position der Mitte-Wählerschaft weitere Hinweise zur Meinungsbildung der kommenden Wochen abzuschätzen. Da sind die Werte für die CVP resp. GLP relevant. (Die EVP und BDP sind zu klein, um sie in Umfragen separat auszuweisen). Denn sie lassen erahnen, wo die Grenzen der Ja- resp. Nein-Mehrheiten durchgehen. Demnach ist mit einem Ja der GLP-Basis vor allem zur KVI zu rechnen, während das Nein bei der CVP wahrscheinlicher ist. Sicher ist es letzteres aber nicht, denn bei der CVP ist die Lage an der Spitze noch nicht ganz geklärt. Die Mutterpartei ist hier dagegen, doch die Jungpartei hat aber die Ja-Parole beschlossen. Bei der Mutterpartei gibt es zudem abweichende Kantonalparteien wie die in Genf oder Bern.
Zwei Entwicklungen sind hier denkbar: Die wahrscheinlichere besteht darin, dass sich die Mutterpartei mit ihrer Position durchsetzt und es einen Meinungstrend zum Nein gibt. Das hätte Folgen für Zustimmung insgesamt. Möglich ist aber auch, dass es beim Patt oder annährend bei einer solchen Konstellation bleibt. Letztlich entscheidet das die Kommunikation an der Basis der Partei.

Fazit
Beide Volksinitiativen, über die am 29. November 2020 entschieden wird, polarisieren im Links/rechts-Spektrum.
Bei der Kriegsgeschäfte-Vorlagen kann man von einem Nein bei einer Mehrheit der politischen Mitte ausgehen. Das spricht auch für eine Ablehnung insgesamt in der Volksabstimmung.
Bei der Konzernverantwortungs-Initiative ist die Lage offener. Für ein Ja spricht der satte Sockel an bestimmten Zustimmungsabsichten, aber auch die klare Positionierung der GLP-Wählerschaft auf der befürwortenden Seite.
Ob das bis am Schluss bei der Konzernverantwortungsinitiative für eine Ja-Mehrheit reicht, kann man in Frage stellen. Die SP/GPS/GLP-Allianz ist heute zwar referendumsfähig im Sinne, dass sie Referendumsabstimmungen gewinnen kann, aber nicht zwingend initiativfähig. Diese Hürde ist höher. Allerdings ist die Unsicherheit diesmal grösser, weil die BDP, EVP und EDU auf der Ja-Seite mitziehen, und man ein ungewöhnlich starkes zivilgesellschaftliches Engagement beobachten kann. Genaueres wird man wissen, wenn die ersten Trends vorliegen.

Der mainsteam ist bei der GLP angekommen

Parolen werden von den Parteien einzeln in erster Linie gefällt, um die Organe und Mitglieder zu sammeln. Diese sollten wissen, wo die Partei steht, und sich entsprechend dieser Position anschliessen. Das System aller Parteiparolen kann jedoch auch dazu verwendet werden, um die Struktur der politischen Landschaft zu beschreiben. Das zeigt, wer wie das Parlament tickt und wer links und rechts davon wie stark abweicht.

Zwischenbilanz nach 7 Volksabstimmungen
2020 liegen nun zwei Abstimmungswochenende hinter uns; wir haben bereits über 7 Vorlagen entschieden. Zwei Initiativen, die beide scheiterten, und fünf Behördenvorlagen, von den drei angenommen und zwei abgelehnt wurden. Dass bereits zweimal ein Gesetzesreferendum gegen die Behördenposition erfolgreich war, stellt hierbei eher eine Ausnahme dar.
Es gibt zwei offensichtliche Hintergründe für diese Entwicklung: Die Corona-Krise hat den gewohnten Gang der direkten Demokratie ausser Tritt gebracht. Zudem entscheidet man zu Beginn einer Legislaturperiode oft über Vorlagen, die noch das alte Parlament erarbeitet hatte. Das ist umso erheblicher, als die Parlamentswahlen 2019 namentlich im Nationalrat eine grüne Welle von historischem Ausmass gebracht hatten.
Die erste Botschaft lautet: Die Grünliberalen sind der beste Prädiktor für das, was die Stimmenden mehrheitlich akzeptieren. In allen sieben Abstimmungen beschlossen sie die Parole, die mit den Mehrheiten vor dem Volk übereinstimmte. Allerdings, das nicht nur wegen ihnen, vielmehr wegen der Allianz, in die sie sich einfügen. An zweiter Stelle steht die EVP. Die Partei ist frischer geworden, gewinnt bei kantonalen Wahlen und fasst mutige Parolen. Häufiger als gewohnt befindet sich auch sie an Abstimmungssonntagen in der Mehrheit.
Beides ist neu, denn in der letzten Legislaturperiode lag die FDP in diesen Belangen vor der CVP und der BDP; die FDP erzielte dabei eine Übereinstimmung mit dem Volk von 94%. Neu ist auch, dass die SVP die geringste Überstimmung aufweist, gefolgt von der FDP. Die Positionen hatten bisher die Grünen und die SP inne.
Allerdings gibt es aus der aufdatierten Zusammenstellung auch eine zweite interessante Botschaft. Meines Wissens haben die SP, die Grünen und die Grünliberale bei den Kinderabzügen erstmals eine Mehrheit in einer Referendumsabstimmung gegen alle anderen Parteien erhalten. Vergleichbar ist das nur mit der Positionierung von SP, Grünen und EVP bei der Unternehmenssteuerreform 2017. Damals war die glp noch erfolglose dafür . Die EVP wiederum empfahl eben erfolglos ein Nein zu den Kinderabzügen.
Fasst man das zusammen, besteht Grund zur Annahme, dass die Stimmenden 2020 politisch nach links gerutscht sind. Der Mainstream ist heute nicht mehr bei der FDP, wo er zwischen den Wahlen 2015 und 2019 bei Volksabstimmungen zu finden war. Er wird neu durch die glp repräsentiert.

Grünliberal gewordene Schweiz
Man kann auch von einer grünliberal gewordenen Schweiz sprechen. Ganz überraschend ist das nicht, denn bei den Parlamentswahlen 2019 war die glp die zweite Siegerin. Mehr noch als die damals erstplatzierte Partei, die Grünen, ist sie bemüht, in polarisierten Situationen zwischen den Blöcken zu vermitteln. Das macht sie bei Volksabstimmungen zumindest bisher mit grossem Erfolg!
Das Ganze wäre aber nicht möglich, wenn sich nicht auch die Beteiligungsstruktur im Wahljahr 2019 und danach geändert hätte. Die SVP befindet sich unverändert in einer Depression. Die FDP ringt mit ihrem Kurs und beschäftigt sich vermehrt mit sich selber. Grün und Rot spüren namentlich im städtischen Umfeld Aufwind, sind in die Offensive gegangen und setzen auf ihre Mobilisierungskräfte.
Trendsetter ist gegenwärtig die glp. Sie ist die progressive Kraft, die versucht, die Schweiz aus ihrer Blockierung zu reissen. Sie ist gesellschaftspolitisch liberal und ökologisch sensibilisiert. Dabei will sie nicht polarisieren, sondern erneuern. Alleine schafft sie das nicht, dafür braucht die 8%-Partei wie eigentlich alle anderen Partner. Das macht sie rechts wie links attraktiv.
Für den 29. November 2020 haben sich die glp-NationalrätInnen mehrheitlich für die Konzernverantwortungsinitiative ausgesprochen, nehmen aber eindeutig gegen die Volksinitiative zur Verhinderung von Kriegsgeschäften Stellung. Damit schliesst sie sich einmal links an, ein anderes Mal rechts.

Man kann gespannt sein!

PS: Der Gedankengang, den ich hier vor 10 Tagen entwickelt habe, ist massenmedial mehrfach aufgenommen worden. Das freut mich! In einem Punkt bin ich aber anderer Meinung: Nie habe ich bei der Partei, welche die höchste Parolenkongruenz mit Volksentscheidungen aufweist, von der „Volkspartei“ gesprochen. Das ist ein Helvetismus. Politikwissenschaftlich sind Volksparteien solche Parteien, die sich gesellschaftlich für Mitglieder in alle Richtungen öffnen, um Wahlen mit möglichst hohem Wähleranteil zu gewinnen. Das ist bei der GLP nicht der Fall.

Die mehrheitsfähige Mitte der Schweiz wird gerade neu definiert

Die Schweiz ist das Land der Mitte. Nur, wer repräsentiert diese heute? Meine Spekulation eine Woche vor dem Super-Abstimmungswochenende vom 27. September 2020.


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Die bisherige mehrheitsfähige Mitte
Die Parolen der FDP Schweiz zu den eidg. Volksabstimmungen waren in der letzte Legislaturperiode in 30 von 33 Fällen identisch mit dem Abstimmungsergebnis. Das brachte der Partei die Goldmedaille für die mehrheitsfähige Mitte in der Parteienlandschaft.
Am 27. September präsentiert sich die Ausgangslage für die FDP ungleich schwieriger. Allgemein rechnet man mit einem Ja zum Vaterschaftsurlaub. Den lehnt die FDP allerdings ab. Treffsicherer dürfte sich ihr Nein zur Begrenzungsinitiative und wohl auch ihre Ja zum Beschaffung neuer Kampfflugzeug erweisen. Offen ist jedoch, ob das Jagdgesetz und die Kinderabzüge angenommen werden, wie das die Partei empfiehlt.
Wenn die Annahmen der Auguren stimmen, wird das bereits jetzt zwischen einer und drei Abweichungen für die FDP geben. Der Platz 1 als mehrheitsfähige Mitte wäre damit fast sicher verspielt.

Wer kann erben?
Allerdings stellt sich die Frage, wer Nachfolger als mehrheitsfähige Mitte wird?
. Die CVP und BDP, die zur bürgerlichen «Mitte»-Partei fusionieren wollen?
. Die EVP, die ebenso beansprucht, gesellschaftlich traditionell, aber ökologisch offen und damit im Zentrum zu politisieren?
. Oder gar die GLP, welche die linksliberal ausgerichtete Mitte mit neue Umwelt- und Gesellschaftspolitik repräsentiert?
Selbstredend hängt alles von den Abstimmungsergebnissen ab. Sind tatsächlich nur Kinderabzüge und Jagdgesetz offen, gibt es die folgenden Szenarien:
Szenario 1: Beide strittigen Vorlagen werden angenommen. CVP und BDP gehen als Gewinnerinnen des Tages vom Platz. Die sich neu formierende Mitte startet mit einem Vollerfolg.
Szenario 2: Die Kinderabzüge gehen durch, das Jagdgesetz aber fällt durch. Dann hat die EVP fünf Richtige.
Szenario 3: Kinderabzüge und Jagdgesetz werden beide abgelehnt. Das wäre dann mit dem Parolenspiegel der GLP identisch.
Theoretisch gibt es auch die Variante, dass das Jagdgesetz angenommen wird, die Kinderabzüge aber abgelehnt werden. Das würde dann mit einer Parteipositionierung übereinstimmen.

Das Profil der neuen Mitte

So oder so dürfte die heute mehrheitsfähige Mitte am kommenden Abstimmungswochenende neu definiert werden. Gegenüber der vorliegenden Legislatur dürfte sie insgesamt gegen links wandern.
Was sind die Gründe?
Man kann es Zufall nennen, denn es liegen trotz Super-Abstimmungssonntag nur fünf Abstimmungen vor, um die Mehrheitsfähigkeit der Parteien zu bestimmen.
Man kann auch das weniger eingemitteten Verhalten des Parlament als Ursache sehen. Denn dieses hat sowohl bei den Kinderabzügen wie auch beim Jagdgesetz die ursprüngliche Revisionsabsicht über Bord geworfen und geht mit den vorgelegten Revisionsvorschlägen viel weiter. Anders verhielt es sich ja beim Vaterschaftsurlaub, wo es weniger weit ging, als es die abgelehnte und zurückgezogene Volksinitiative verlangte.
Der dritte Grund könnte in den Veränderungen seit den Parlamentswahlen 2019 liegen. Da hat sich Mitte hat sich verschoben. Gerade ökologische Politik wird heute anders definiert als noch vor den jüngsten Parlamentswahlen Auch für modernisierte Gesellschaftspolitik ist man offener geworden. Grüne und Grünliberale wurden 2019 gestärkt. Deutlich mehr Frauen sind heute in der Politik. Und der neue Wind kommt von Generationen, die bisher nicht im Zentrum standen.

Vorläufige Bilanz
Sicher ist eigentlich nur, dass das zuverlässige Trio des bürgerlichen Zentrums mit der FDP an der Spitze und der CVP resp. BDP in der Gefolgschaft nicht mehr gleich stark ist wie zwischen 2016 und 2019. All diese Parteien haben 2019 verloren und sind seither auf der Suche nach einer Neuausrichtung. Bei der FDP soll das liberale Element gestärkt werden. CVP und BDP wollen durch Fusion wieder zu mehr Macht kommen.
Am Abstimmungsabend der ersten grossen Standortbestimmung in der jetzigen Legislaturperiode wird man eine Vorstellung bekommen, wohin die bei Volksabstimmungen mehrheitsfähige Mitte wandert. Stillstehen wird sie nicht, denn die Mitte wird gerade neu definiert. Wie weit sie sich verschiebt, ist aber noch offen.

Internationaler Tag der Demokratie (15. September 2020): Mein Forschungsseminar „Empirische Demokratieforschung“ an der Universität Bern

Im Herbstsemester 2020 biete ich an der Universität Bern eine Lehrveranstaltung zu empirischen Demokratieforschung an. Um was geht es?


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Ausgangspunkt ist das breit angelegte, international vergleichende Forschungsprojekt «Varieties of Democracy» der Universität Göteborg. Das innovative, politikwissenschaftliche Forschungsprojekt zur Demokratie-Qualität rangiert die Schweiz 2020 auf dem ausgezeichneten 4. Platz. Bessere schneiden nur Dänemark, Estland und Schweden ab.
Weltweit top ist die Schweiz bei der Partizipation. Sehr gut schneidet unser Land auch bei den Freiheitsrechten und der öffentlichen Deliberation ab, gut bei der Gleichheit. Der schwächste Punkt liegt bei der Wahldemokratie. Hauptgrund ist hier die fehlende Transparenz bei der Finanzierung von Parteien und Kampagnen-
Wenn die Schweiz in Sachen Partizipation weltweit führend ist, hat das aus Sicht der Forscher nicht nur mit den zahlreichen Volksabstimmungen zu. Sehr positiv bewertet werden insbesondere die Demokratie auf kantonaler und städtischer Ebene. Gute Noten gibt es auch für die Offenheit der Meinungsbildung gegenüber NGOs.
Die Datenbank, welche zwischenzeitlich bis 1900 zurückgeht, ist in der Schweiz noch wenig ausgewertet worden. Genau da setzt mein Forschungsseminar für Master-Studierende der «Schweizer und vergleichenden Politik» an:
Sie erarbeiten in einem ersten Schritt den relevanten Forschungsstand.
Sie formulieren in einem zweiten ein eigenes Projekt, das den Erkenntnisstand erweitern soll.
Sie arbeiten während dem Semester in einer dritten Phase ihr Vorhaben aus und präsentieren Zwischenschritte im Plenum.
Sie legen bis 2 Monaten nach dem Semester in einem letzten Schritt einen schriftlichen Bericht vor und präsentieren die Quintessenz daraus in einem Workshop
Am Workshop werden auch ausseruniversitäre ExpertInnen teilnehmen und bei der Bewertung der Arbeiten mithelfen.
Grossen Wert wird auf die Entwicklung forschungspraktischer Fähigkeiten gelegt.
Denkbare Forschungssthemen sind:
. Erstellen eines gut verständlichen, ausführlichen Länderberichts zur Schweiz, der inskünftig jährlich aufdatiert veröffentlicht werden könnte
. Entwicklung von Massnahmen, wie die Wahldemokratie der Schweiz perfektioniert werden könnte
. Entwicklung der Demokratiequalität in der Schweiz seit 1920. Reaktions- und Handlungsweisen gut resp. schwach etablierter Demokratien auf die COVID19-Krise
Ich freue mich, das auch für mich neuartige Lehrvorhaben in diesem Semester in Angriff nehmen zu können und es heute, am Internationalen Tag der Demokratie, anzeigen zu können.
Claude Longchamp