Das Nein zur SVP Initiative ist nicht in Stein gemeisselt

Vordergründig scheint alles klar: 37 Prozent der Teilnahmewilligen befürworteten zu Jahresbeginn die Volksinitiative der SVP ‘Gegen Masseneinwanderung’; 55 Prozent lehnten sie ab. 8 Prozent waren unschlüssig. Die SRG-Umfrage kommt damit zu einem ähnlichen Schluss wie die 2 Wochen zuvor publizierte Ergebung von Sonntagszeitung/LeTemps.

Wir haben über diese Kernbotschaft hinaus versucht, die Stimmabsichten in das Umfeld einzuordnen. Aus der mehrheitlichen Erfahrung mit Prozessen der Meinungsbildung bei Volksinitiativen würde man sagen, das diese Initiative am Abstimmungstag scheitert. Denn die lehrt, dass das Nein eher zu- und das ja eher abnimmt. Hauptgrund: Die Kritik am Lösungsvorschlag einer Initiative übertüncht meist den Problemdruck. Die Abstimmung über die ‘SVP-Familieninitiative’ steht mustergültig hierfür.

Nun gibt es auch eine minderheitliche Erfahrung, wonach genau das Gegenteil geschieht. Das ist namentlich dann der Fall, wenn die Beteiligungsabsichten mit dem Abstimmungskampf aus der Opposition heraus ansteigen und überdurchschnittlich werden respektive wenn, trotz aufwendiger Nein-Kampagnen, das Problem, auf das die Initiative abstellen kann, alles dominiert. Die ‘Abzockerinitiative’ war das letzte Beispiel hierfür.

Was nun ist die Volksinitiative ‘Gegen Masseneinwanderung’? – Erhellend ist der Argumententest in der SRG-Umfrage:

  • Bei der Problemdefinition gibt es Vorteile für die InitiantInnen – was neu ist. Denn für 61 Prozent der Teilnahmewilligen sind mit der Aussage einverstanden, die unkontrollierte Zuwanderung habe zu Lohndruck, Wohnungs- und Verkehrsproblemen geführt; nur 57 Prozent folgen der Auffassung, die Personenfreizügigkeit ein wichtiger Pfeiler für den aktuellen Wirtschaftserfolg.
  • Beim Lösungsansatz gibt es ein Patt: 64 Prozent möchten, dass wir die Einwanderung wieder selber steuern können; für 66 Prozent führt das Kontingentsystem zu Bürokratie und Kosten.
  • Schliesslich, die Erwartungen von Konsequenzen bei einem allfälligen Ja: 57 Prozent sehen die Personenfreizügigkeit als Teil der Bilateralen gefährdet, nur 46 Prozent sind bereit, die bilaterale Beziehung aufs Spiel zu setzen.

So eindeutig zugunsten eines Volksbegehrens, wie das bei der ‘Minderinitiative’ 2003 der Fall war, ist das alles nicht. Doch ist es auch nicht mehr so klar, wie bei früheren Volksentscheidungen zu den Bilateralen. Mit anderen Worten: Die Personenfreizügigkeit ist umstrittener. Den unbestrittenen ökonomischen Hauptwirkungen stehen ebenso unbestrittene gesellschaftliche Nebenwirkungen gegenüber.

Die beteiligungsbereiten WählerInnen links der Mitte gewichten den Nutzen insgesamt höher, die Basis der SVP macht das pure Gegenteil. Mehrheitsbildend sind in solchen Situationen die WählerInnen der bürgerlichen Parteien und die Parteiungebundenen.

Es kommt hinzu, dass es an der Basis fast aller Parteien Minderheiten gibt, die gegen die offizielle Parteiposition sind, vorerst aber schweigen.

Nun war auch die ‘Ausschaffungsinitiative’ eine Parteiinitiative der SVP und mit dem jetzigen Begehren vergleichbar. Anders als etwa die Volkswahl des Bundesrats behandelte es kein staatspolitisches Thema, sondern nahm es ein gesellschaftliches Problem auf. Und wurde (trotz offiziellem) Gegenvorschlag angenommen.

In der ersten SRG-Befragung startete dieses SVP-Anliegen allerdings deutlich besser als das jetzige. 58 Prozent waren damals bestimmt oder eher dafür; am Abstimmungstag waren es 52 Prozent. Davon sind wir gegenwärtig einiges entfernt. Damit es zu einem vergleichbaren Ergebnis käme, müssten die Mehrheiten der Parteiungebundenen und der FDP.Die Liberalen-AnhängerInnen bei der jetzigen SVP-Initiative kippen und auch bei der CVP müsste einiges ins Rutschen kommen. Darauf wird man im anstehenden Teil des Abstimmungskampfes besonders achten müssen!

Denn der Meinungswandel zugunsten der Volksinitiative ‘Gegen Masseneinwanderung’ ist nicht das Hauptszenario, kann aber auch nicht ausgeschlossen werden, denn die Ablehnung der SVP-Initiative ist angesichts der Problemdrucks diesmal nicht in Stein gemeisselt.

Claude Longchamp

Im gegenwärtigen Abstimmungskampf legen die Gegner aller Vorlagen zu

Harte Zeiten für InitiantInnen und Behörden. Denn im laufenden Abstimmungskampf legen die Gegner aller drei Vorlage teils kräftig zu.

Bei Volksinitiativen überrascht der negative Trend nicht wirklich. Es ist eine bekannte Regel, dass sie gut starten und schlechter enden. Stets nimmt der Nein-Anteil in Umfragen zu und der Ja-Anteil meist insbesondere bei jenen ab, die eher dafür waren. Hauptgrund ist der Szenenwechsel: Am Anfang eines Meinungsbildungsprozesses beurteilt man vor allem das mit der Initiative angesprochene Problem, am Schluss die mit dem Begehren vorgeschlagene Lösung.
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Bei der 1:12 Initiative heisst das: Zuerst dominierte die Problematik der aufgegangenen Lohnschere, quantitativ, aber auch ethisch. Entsprechend führten die InitiantInnen einen Diskurs zur Lohngerechtigkeit. Je länger die Kampagne dauert, umso mehr spricht man über die Schwächen der Initiative: die Regelung der Löhne durch den Staat und die Folgen für Steuern und Sozialversicherung. Die Befragung zeigt, dass sich die Meinungsbildung genau in diesem Dreieck von ersterem zu letzteren verlagerte und so auch die Stimmabsichten von rechts bis über die Mitte hinaus veränderte.
Bei der Familieninitiative kann das allgemeine Gesetz wie folgt ausgedeutscht werden: Begünstigungen bestimmter Familienmodell durch den Staat sind den Stimmberechtigten ein Dorn im Auge. Mit genau diesem Anker ist die Initiative gestartet, und sie hatte breite Sympathien. Seither holt die Gegnerschaft auf: Mit den Steuerausfällen für Bund und Kantone, aber auch mit der Nebenwirkung der Initiative auf die gewollte Förderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das begründet den Meinungswandel namentlich bei (links)liberalen Wählerschichten vom anfänglichen Ja ins heutige Nein.
Bei der Autobahnvignette überraschen die Befragungsergebnisse jedoch. Denn der Normalfall bei einer Behördenvorlage besteht darin, dass sich die Unschlüssigen (in einem offenen Verhältnis) auf beide Seiten verteilen. Wäre das geschehen, hätte der Ja-Anteil mindestens leicht ansteigen müssen und die Vignetten-Vorlage wäre wohl angenommen worden. Angesichts der jetzigen Umfragewerte muss genau das offen bleiben. Denn auch hier nahm die Ablehnungsbereitschaft zu, und es verringerte sich die Zustimmungstendenz.
Erster Grund dafür sind Elite/Basis-Konflikte. Für die Zunahme der Opposition ist der Trend in der FDP relevant: Als Partei befürwortet sie die Vorlage; ihre Wählerschaft konnte sie aber mehrheitlich nicht überzeugen. Zweitens: Von der Nein-Botschaften mitgenommen werden auch die parteipolitsche Ungebundenen. Hier vergrösserte sich nicht nur der Nein-Anteil überdurchschnittlich, es nimmt auch die Teilnahmebereitschaft gerade dieser Bevölkerungsgruppe zu. Drittens, die Betroffenheit als AutofahrerInnen wirkt sich in der Meinungsbildung zugunsten der Opponenten aus. Je mehr Autos man hat, desto eher ist man dagegen.
Damit ist die SVP, welche das Referendum lancierte, nicht mehr allein; vielmehr tragen weite Teile der rechtsbürgerlich gesinnten StimmbürgerInnen und AutofahrerInnen die generelle Kritik an Gebühren und Abgaben. Etabliert hat sich so ein Diskurs, der von jenem im Parlament und der federführenden Bundesrätin abweicht. Die Behördenposition prägte somit auch den Medientenor und thematisierte primär die Sicherheit auf den Strassen. Dieser Diskurs rechtfertigte die einmalige Erhöhung des Vignettenpreises nach fast 20 Jahren Stillstand.
Claude Longchamp

1:12-Initiative ist keine zweite Minder-Initiative

Die Analyse am Tag der Minder-Abstimmung war bisweilen rasch gemacht: Wirtschaftspolitische Initiativen seien nun mehrheitsfähig; die Lohnthematik habe den Umschwung gebracht. Flugs wurde die 1:12-Initiative zur zweiten Abzocker – Initiative emporstilisiert. Sprich: Auch sie würde in der Volksabstimmung angenommen werden.
Die erste SRG-Umfrage zu den Volksabstimmungen vom 24. November 2013 zeigt nun, dass man, wie so oft, differenzieren muss. Denn die 1:12-Initiative startet mit 44 Prozent Zustimmungsbereitschaft und 44 Prozent Ablehnungspotenzial. 12 Prozent der Teilnahmewilligen wissen nicht, wie sie stimmen wollen. Bei der Minder-Initiative lautete der Startwert 65 zu 25; 10 Prozent waren damit unschlüssig.
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Wie kann man sich den Unterschied zwischen beiden Initiativen erklären?
Zuerst durch den Inhalt: Die Minder-Initiative verlangte mehr Aktionärsdemokratie. Das war letztlich eine liberale Forderung, wenn auch mit einer Kritik an Auswüchsen des liberalen Systems verbunden. Die 1:12-Initiative setzt ganz anders an: Sie will staatliche Regelungen des Lohnsystems in den Unternehmungen.
Dann durch den Absender: Thomas Minder war und ist Gewerbetreibender. Er geht als Patron eines mittelständischen Betriebes durch, der wegen seinen Forderungen Applaus von Rechts-Konservativen und Linken bekam. Getragen wird die 1:12-Initiative von der JUSO. Unterstützung gibt es bei den Gewerkschaften und von den linken Parteien. Der Support aus dem konservativen Lager ist gering; auch das Gewerbe lässt sich kaum dafür mobilisieren.
Man tut gut daran, nebst den Gemeinsamkeiten der Initiativen auch die Unterschiede zu analysieren. Auch mit Blick auf die Mindestlohn – Initiative, getragen von den Gewerkschaften, fokussiert auf die tiefsten, nicht die höchsten Löhne.

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Die aktuelle Erhebung legt Unterschiede in den Zustimmungswerten zu Kampagnenbeginn offen. Wer damals gegen die Minder-Initiative war, ist es in sehr hohem Masse auch jetzt. Anders sieht es bei den damaligen BefürworterInnen aus: 4 von 10 der damaligen Ja-SagerInnen wollen gegen die 1:12-Initiative stimmen oder sind unschlüssig.
Hauptgrund: Die Zustimmungswerte zu 1:12 sind im bürgerlichen Lager durchwegs geringer, was die Kennzeichnung des aktuellen Konfliktmusters durch die Links-/Rechts-Achse zulässt. Ihre Position geändert haben die RentnerInnen; bei Minder auf der Ja-Seite; bei 1:12 kaum. Geblieben ist die Zustimmung aus der Unterschicht. Sowohl bei der Minder-Initiative wie auch bei der 1:12-Vorlage will, in der Ausgangslage, eine Mehrheit zustimmen.
Das alles hat auch mit einer veränderten Kampagnensituation zu tun: Die Nein-Kampagne zur Minder-Initiative startete mit viel Kritik, wegen der Überheblichkeit der Akteure und der Unprofessionalität der Militanten. Auch das hat sich geändert. Im Vordergrund steht diesmal kaum die Metadiskussion über die Kampagne. Vielmehr sind zwei Botschaften platziert worden: die Ordnungsfrage einerseits, die Folgen für die Finanzen des Staates und der Sozialwerke anderseits. Beides zeigt Wirkung, mehr als die Nein-Kampagnen gegen das Minder-Vorhaben.
Entschieden ist die Sache dennoch nicht schon jetzt: Die 1:12-Initiative hat gegenwärtig gleich viele BürgerInnen hinter wie gegen sich. Die aufgeworfene Frage nach der Gerechtigkeit im Lohnsystem ist das zentrale Element. Auseinanderdriftende Pole oben und unten sind der zentrale Ansatzpunkt der Ja-Kampagne.
Doch liess sich die Gegnerschaft, wenigstens bis jetzt, nicht in der Ecke der Stellvertretenden des Grosskapitals festnageln. Deshalb haben wir heute keine mehrheitlich ausgerichtete Situation gegen die Abzocker, sondern eine Kontroverse über das Lohnsystem vor allem in den internationalen Organisationen bei denen das Pro und das Kontra abgewogen werden.
Claude Longchamp

The closed window of opportunity

Die heute erscheinende VOX-Analyse zu den Volksabstimmungen vom 9. Juni 2013 legt nahe, dass bei der Entscheidung über die „Volkswahl des Bundesrates“ die Grundhaltung gegenüber der Regierung den Abstimmungsentscheid systematisch beeinflusst hat. In einem Artikel für die Festschrift von Fritz Plasser, Dekan der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Innsbruck, bin ich diesem mutmasslichen Wirkungszusammenhang vertieft nachgegangen.

Die VOX-Analysen eidgenössischer Volksabstimmungen haben eindeutige Stärken: Sie zeigen auf, wer wie gestimmt hat, und sie machen deutlich, welche Einstellungen für den Stimmentscheid von Belang waren. Zu den diesbezüglichen Erklärungsgrössen gehört unter anderem das Behördenvertrauen. Was naheliegend schien, bestätigt die jüngste VOX-Analyse: das Regierungsvertrauen beeinflusste die Entscheidung zur Volkswahl des Bundesrats. Wer dem Bundesrat vertraute, war vermehrt gegen die Direktwahl. Wer Misstrauen in die Landesregierung bekundigte, sprach sich eher für die Initiative aus. Der statistische Zusammenhang kann nicht nur bivariat nachgewiesen werden; er besteht auch multivariat.  Das heisst, das Regierungsvertrauen ist auch dann noch mitentscheidend für den Stimmentscheid, wenn weitere Erklärungsgrössen im Modell berücksichtigt wurden.

Bei den VOX-Analysen handelt es sich um Fallstudien. Woran es ihnen häufig mangelt ist einerseits eine vergleichende Perspektive und andererseits die Einbettung in langfristige Trends. Letzterem habe ich mich – parallel zur Ausarbeitung der VOX-Studie durch ein Team von Politologen der Uni Genf – im besagten Artikel angenommen. Die Hauptergebnisse sind:

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Erstens: Das Regierungsvertrauen ist bei weitem nicht konstant. Seit 1989 haben wir zwei grosse Zyklen der Erosion und des Wiederaufbaus des Regierungsvertrauens erlebt. Die erste Erosion begann mit dem Ende des Kalten Krieges und der Entscheidung über den EWR. Nach zwischenzeitlicher Erholung gegen Ende des 20. Jahrhunderts beobachtete man einen neuerlichen Rückgang des Regierungsvertrauens, der durch die Volksabstimmung zum UNO-Beitritt 2002 ausgelöst wurde. Nachdem man 2004 den absoluten Tiefpunkt beobachten konnte, normalisierte sich die Lage bis ins Jahr 2008 jedoch erneut.

Zweitens: Die zentrale Ursache für die jeweilige Erosion des Vertrauens war die Öffnung der Schweiz gegenüber Europa resp. der Welt, welche zweimal markant vom Bundesrat (mit)betrieben wurde. Die Folgen für das Parteiensystem sind bekannt: Der erste Zyklus polarisierte vor allem zwischen der  SVP und der SP; der zweite brachte eine konservative Wende mit sich, die insbesondere der SVP nützte.

Drittens: Die Veränderungen im Parteiensystem haben die Zauberformel für die Wahl des Bundesrates ausser Kraft gesetzt. 2003 verflog mit der Abwahl von Ruth Metzler (CVP) zugunsten von Christoph Blocher (SVP) der Zauber und spätestens 2007/8 war das Ende der Formel dann definitiv besiegelt. Die SVP ging vorübergehend in die Opposition, einen ihrer beiden Sitze hat sie 2009 zurückerhalten. Was mit dem anderen Teil geschieht, bleibt indes offen.

Viertens: Die Rochade von 2003 hat das Vertrauen der SVP-Anhänger in die Regierung nicht wirklich erstarken lassen, allerdings dasjenige der anderen Parteianhängerschaften wesentlich geschmälert. Anders als in parlamentarischen Systemen üblich hat die Regierungsumbildung in der Schweiz nicht das Vertrauen in die Behörden gestärkt, sondern eher das Misstrauen ansteigen lassen.

Fünftens: Wenn sich die Lage seit 2008 dennoch veränderte, so hatte das weniger mit den politischen Ereignissen zu tun, als mit der wirtschaftlichen Lage. Spätestens seit 2010 zeigen die Wirtschaftsindikatoren nach oben und die vorteilhafte Lage der Schweiz wurde namentlich im Vergleich zum Ausland augenfällig. Das hat das Behördenvertrauen wieder ansteigen lassen.

 

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Die SVP-Volksinitiative für eine Volkswahl des Bundesrates entstand als Folge der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat. Entsprechend aufgezogen war die Kampagne: Den Machenschaften in der Vereinigten Bundesversammlung kurz vor Bundesratswahlen sollte durch den Systemwechsel ein Riegel vorgeschoben werden. Hätte sich das politökonomische Umfeld in den letzten Jahren nicht derart verändert, wäre die Argumentation im Abstimmungskampf wohl besser zum Tragen gekommen. Die guten Wirtschaftszahlen der vergangenen Jahre haben das Klima gegenüber Bundesbern in der Schweiz allerdings grundlegend verändert, sodass weder die Problemdiagnose der SVP, noch die mitgelieferten Verbesserungsvorschläge folgerichtig erschienen.

Man kann sich darüber hinaus auch die grundsätzliche Frage stellen, ob das window of opportunity für politische Kampagnen,  die auf institutionellem Versagen des schweizerischen Politsystems aufbauen, nicht schon wieder geschlossen ist. Geöffnet wurde es offensichtlich in den 90er Jahren, parallel zur Kritik an der Migrationspolitik. Die Wirkungen auf die Schweizer Politik waren erheblich. Seit 2008 befinden wir uns aber in einer anderen Lage: Die Schweiz wird durch die Veränderungen im Ausland herausgefordert. Erwartet wird, dass man dabei im Innern der Schweiz verstärkt über Parteigrenzen hinaus zusammenarbeitet. Das Ende der Polarisierung bei den Nationalratswahlen 2011 kann als klares Zeichen dafür gewertet werden, dass sich die Schweizerinnen und Schweizer gegenwärtig eher wieder mehr Systemstabilität wünschen. Institutionenkritik, wie sie mit der Volksinitiative zur Volkswahl des Bundesrats vorgetragen wurde, ist dabei nicht mehr besonders zugkräftig. Das Wettern über das Ausland dagegen schon.

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Genau das wurde der SVP-Initiative zum Verhängnis. Schon die erste SRG-Vorbefragung legte nahe, dass gerade noch ein Viertel der Stimmwilligen für die verlangte Änderung ansprechbar war. Am Abstimmungstag war aus diesem Potenzial fast punktgenau das Ja-Lager zur Volkswahl des Bundesrats geworden.

Claude Longchamp

Symptomatischer Zeitenwandel

Anders als gewohnt, ist der Verlauf der Meinungsbildung zur Volkswahl des Bundesrats. Denn bei Volksinitiativen ist es üblich, dass sich mit dem Abstimmungskampf das Nein aufbaut, während das Ja abnimmt. Nun zeigt der Vergleich der beiden Trendbefragungen hierzu, welche das Forschungsinstitut gfs.bern realisiert hat, faktisch eine Konstanz. Was sind die Gründe?

Erstens gilt es zu betonen, dass die Zustimmung zur Volksinitiative schon mit der ersten Befragung tief war. Man könnte argumentieren, der bekannte Meinungsumschwung, der sonst im Abstimmungskampf geschieht, habe schon vorher stattgefunden. In der Tat war die Meinungsbildung schon zu einem frühen Zeitpunkt in weiten Kreisen der interessierten Bürgerschaft fortgeschritten.
Zweitens, reduziert auf die Kernwählerschaft, zeigt die Kampagne der SVP durchaus Wirkungen: Die Geschlossenheit ihrer WählerInnen ist in der zweiten Erhebung höher als in der ersten. Gestiegen ist die Zustimmung auch bei Parteiungebundenen. Zugenommen hat die Ja-Absicht weiter bei regierungsmisstrauischen BürgerInnen, genau so wie bei den untersten Einkommensklassen. Doch sind die Veränderungen geringer als sonst.
Drittens, die Polarisierung hat nicht zwischen der Rechten und der Linken stattgefunden. Faktisch stehen sich die Wählenden des SVP und die Basen aller anderen Parteien gegenüber. Es fehlt das Interesse namentlich der WählerInnen von FDP und CVP, sich der SVP in dieser Sache anzuschliessen. Die Nein-Parolen sitzen, und sie werden auch grossräumig befolgt.

Regierungsvertrauen
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Institutionelle Neuerungen haben es deutlich schwieriger als Politikwechsel. Das zeigt nur schon der Vergleich mit der anderen Abstimmungsvorlage, über die am 9. Juni entschieden wird. Denn eine Verschärfung der Asylpolitik geht weitgehend problemlos durch das Parlament. Die bürgerlichen Allianzen funktionieren hier gut, und die Wählerschaften von rechts bis in die Mitte ziehen nach.
Zahlreiche Volksabstimmungen der letzten 15 Jahren legen nahe, wie schwer es in der Schweiz ist, via Volksabstimmungen einen Wandel der Institutionen durchzusetzen. Drei grosse Projekte, die von rechts lanciert wurden, scheiterten deutlich: Die Beschleunigungsinitiative, welche kürzere Fristen verlangt, während denen über eine Volksinitiativen entschieden werden müssen, wurde im Jahre 2000 mit 70 zu 30 abgelehnt. Gar drei Viertel der Stimmenden votierten gegen die sog. Maulkorb-Initiative, mit der die Opponenten versuchten, den Aktionsspielraum des Bundesrates in Abstimmungskämpfen einzuengen. Genau gleich viele stimmten vor Jahresfrist gegen die Erweiterung des geltenden Staatsvertragsreferendum auf alle Staatsverträge.

Zwar hat die SVP mit dem Extrablatt versucht, nach bekannter, populistischer Manier ihre Kampagne in Gang zu bringen: Der Untergang der Schweiz wurde prognostiziert, und die Volkswahl des Bundesrats wurde als das Mittel zur Lösung zahlreicher Sachfragen propagiert. Nur blieb die erwartete Reaktion weitgehend aus. Man kann sich durchaus die Frage stellen, ob die Zeit für (Rechts-)Populismus vorbei ist?
Das gegenwärtige Klima wird durch das Missfallen an den Managerboni in international tätigen Firmen definitiert. Die angenommenen Minder-Initiative leistete ihre Beitrag dazu; die anhaltende Aufmerksamkeit für die 1:12 Initiative zeigt, wie nachhaltig die so eingeleitete Veränderung wirkt.
Das verblasst selber die Kritik an der classe politique, ausgelöst durch den UNO-Beitritt im Jahre 2002. Vorbei sind auch die Ängste, die Schweiz werde unter den den Folgen der globalen Finanzmarktkrise leiden. Die Wirtschaftszahlen sprechen eine Sprache für sich, und die Politik hat sich als flexibel genug erwiesen, um auf die Probleme wie den hohen Frankenkurs rechtzeitig zu reagieren. Sie hat damit einen Teil des Vertrauens zurückerobert, das durch verdrängte Themen resp. blockierte Entscheidungen durch Schwarz-Weiss-MalerInnen entstanden ist.
Die neuen Herausforderungen finden sich beim internationalem Druck auf die Schweiz, die vernünftige Positionen der Interessenvertretung in einem gewandelten Umfeld einnehmen sollte. Wiederholte Abstimmungen zu gleichen oder verwandten Fragen lösen da keine grossen Diskussionen mehr aus. Ihnen fehlt das Momentum, das sie noch vor kurzer Zeit zum allgemeinen Reisser werden liess. Denn die Polarisierung aus parteitaktischen Gründen ist heute weniger denn je angesagt.

Claude Longchamp

Was von einem kombinierten Medientenor mit Trendbefragungen vor Volksabstimmungen zu erwarten wäre

Es gilt unverändert: Die Abzocker-Initiative findet von den drei Vorlagen der eidg. Volksabstimmungen vom 3. März 2013 die grösste Aufmerksamkeit. Der Nein-Trend in der Medienberichterstattung scheint seit neuestem aber gebrochen zu sein. Was das für die kommenden Stimmabsichten heisst, sei hier als Instant-Hypothese formuliert.

Die erste Kampagnenphase gehörte den BefürworterInnen der Abzocker-Initiative. Die Medienaufmerksamkeit war hoch, der Medientenor positiv. Höhepunkt in diesem Spannungsbogens war die Parolenfassung der SVP, dramatisiert durch den Zweikampf zwischen Christoph Blocher und Initiant Thomas Minder.

Die Nein-Parole der SVP wirkte wie ein doppelter Wendepunkt in der Medienberichterstattung zur Abzocker-Initiative. Die Aufmerksamkeit liess nach, und der Tenor wurde zunehmend kritischer. Die Nein-Kampagne zeigte Wirkung. Das galt bis vor rund zwei Wochen.

Das zweite Grossereignis, das massenmedial vermittelt wurde, war die Bilanz-Medienkonferenz der UBS, mit der die Boni-Frage angesichts eines defizitären Abschlusses neu aufs Tapet gebracht wurde. Unfreiwillig vorbereitet wurde dieses Medien-Event durch den Abgang mit Daniel Vasella bei Novartis, verbunden mit der umstrittenen Abgangsentschädigung. Das mediale Interesse hatte damit wieder zugenommen, und der negative Trend in der Berichterstattung zur Initiative wich einer insgesamt neutralen Beurteilung.

Der Abstimmungsmonitor der Forschungsstelle für Oeffentlichkeit und Gesellschaft (fög), ein der Uni Zürich angegliederter Forschungsbereich, zeichnet diese Trends aufgrund der Berichte in Massenmedien wie Blick, Le Matin, Le Temps, Neue Zürcher Zeitung, Tages-Anzeiger und 20 Minuten im Wochenrhythmus nach. Erstmals erfolgt dies als Begleitprojekt zum Abstimmungskampf, denn früheren Analysen dieser Art wurden erst im Nachhinein erstellt. Damit erhöht sich der Wert des Abstimmungsmonitors als Instrument der Analyse von kampagnenbezogenen Medieneinflüssen.

Medientenor und Stimmabsichten müssen nicht direkt übereinstimmen. Denn die Meinungsbildung zu Sachvorlagen beginnt bei Beginn des Abstimmungskampfes nicht bei Null. Gut belegt ist, dass in einem variablen Mass Prädispositionen bestehen, die sich aus der Alltagserfahrung mit dem Thema nähren; hinzu kommt die vorbereitende Behandlung des Problems in den Medien. Beides bildet zusammen die Basis der Meinungsbildung unter Kampagneneinflüssen.

Die erste der beiden Befragungen, welche das Forschungsinstitut gfs.bern zu Stimmabsichten und Meinungsbildung leistet, legte nahe, dass die Meinungsbildung bei der Abzocker-Initiative am weitesten gediehen war. Mitte Januar 2012 bekundeten 52 Prozent der beteiligungsbereiten Befragten, eine feste Stimmabsicht zu haben. Beim Familienartikel waren es 44 Prozent, beim Raumplanungsgesetz gar nur 37 Prozent.

Verglichen mit dem Stand der Meinungsbildung bei Wahlen ist das insgesamt viel weniger. Stellt man es zu anderen Abstimmungsvorlagen in der Schweiz in Bezug, kann man bei der Abzocker-Initiative von einer mittleren bis hohe Prädisponierung ausgehen, beim Familienartikel von einer mittleren und beim Raumplanungsgesetz von einer mittleren bis tiefen. Das legt erste Vermutungen nahe zu den Kampagneneinflüssen, denn je geringer die frühe Prädisponierung von Stimmabsichten ist, umso mehr muss es der Abstimmungskampf richten.

Alles in allem wird erwartet, dass die Sicherheit der Entscheidung mit Dauer des Abstimmungskampfes zunimmt. Bei der zweiten SRG-Befragung dürften die zitierten Anteile durchwegs höher ausfallen. Erwartet werden kann auch, dass sich der Medientenor, seinerseits bestimmt durch die Ereignisse, sich auf die Veränderungen der Stimmabsichten zwischen beiden Befragungen auswirkt. Mit anderen Worten: Die Kombination das Abstimmungsmonitors von fög und der Trend-Befragungen für die SRG ist vor allem hinsichtlich der Veränderungen von Entscheidungen von Belang. Beim Familienartikel kann, angesichts der eher positiven Presse, mit einer Zunahmen der (mehrheitlich) positiven Stimmabsichten gerechnet werden, beim Raumplanungsgesetz ist das angesichts der eher kritischen Berichte und der geringen Prädisponierung nicht sicher, während die neutrale Position der Medien insgesamt zur Abzocker-Initiative der Nein-Seite nicht helfen dürfte, ihren Rückstand wett zu machen.

Klar muss sein, dass damit nicht alle Einflussfaktoren genannt sind. Mit Sicherheit müsste man auch die Werbeintensität mitberücksichtigen, aber auch die Meinungsbildung in den Parteien. Mehr dazu später.

Claude Longchamp

1. Vorabstimmungsanalyse zur eidgenössischen Abstimmung vom 3. März 2013

Die erste von zwei Befragungen zu den Volksabstimmungen vom 3. März 2013, durchgeführt vom Forschungsinstitut gfs.bern für die Medien der SRG, gibt für alle drei Vorlagen eine Ja-Mehrheit. Das alles ist jedoch keine Prognose, sondern eine Bestandesaufnahme zu Beginn des Abstimmungskampfes. Worauf es ankommt, sei hier in geraffter Form zusammengefasst.

Am einfachsten ist die Lage beim Bundesbeschluss über die Familienpolitik, bei dem es sich um ein obligatorisches Referendum handelt. Der Konflikt unter den Parteien und Interessenorganisationen ist beschränkt. Das merken auch die BürgerInnen. Der Stand der Meinungsbildung ist vergleichsweise mittelstark oder mittelschwach. 44 Prozent unserer repräsentativ ausgewählten Befragten haben eine feste Stimmabsicht dafür oder dagegen; nur 11 Prozent sind noch gar nicht vorentschieden. Theoretisch sind die entscheidend, die eher dafür sind. Da sie mit 31 Prozent zahlreich sind, ist dieses Segment praktisch nicht zu unterschätzen. Indes, der Vorsprung ist der BefürworterInnen ist gross. Unsere Erfahrung mit solchen Ausgangslagen spricht dafür, dass hier wenig geschieht, denn die zu erwartenden Polarisierung von rechts gegen die Vorlage dürfte vor allem Unschlüssige ansprechen, womit sich der Nein-Anteil erhöht, nicht aber der Ja-Anteil verringert.
Grafik Familienpolitik
Etwas anspruchsvoller ist die Interpretation der Befragungsergebnisse zum teilrevidierte Raumplanungsgesetz, gegen das der Schweizerische Gewerbeverband erfolgreich das Referendum ergriffen hat, weshalb wir darüber abstimmen. Zwar blieb auch hier der Konflikt vergleichsweise gering, doch stösst die Debatte bevölkerungsseitig auf einen anderen Hintergrund als bei der Familienpolitik. Denn die Raumplanung ist für viele alltagsferner, und so bestehen weniger ausgeprägte Prädispositionen. In unserer Befragung manifestiert sich dies, dass nur 37 Prozent eine bestimmte Stimmabsicht haben, sei dies dafür oder dagegen. Dafür machen die, die gar keine Stimmabsicht haben, sich aber beteiligen wollen, 28 Prozent aus. Anders als beim Familienartikel sind sie nicht nur theoretisch die massgeblichen StimmbürgerInnen. Namentlich dann, wenn unter dem Eindruck des Referendums die parlamentarische Allianz im Abstimmungskampf zerfällt, ist eine Meinungswandel in der stimmberechtigten Bevölkerung nicht auszuschliessen. Die Augen sind dabei nicht nur auf die opponierende SVP gerichtet, vielmehr auf die CVP. Mit ihrer Ja-Parole hat die Partei einiges der denkbaren Brisanz gekappt; immerhin ist es nicht auszuschliessen, dass sich ausgehend vom Wallis eine Opposition gegen die Raumplanung in konservativen Mitte-Kreise ausdehnt, was die heutige Zustimmungsbereitschaft verringern könnte.
Grafik Raumplanung
Vordergründung am überraschendsten ist meine Analyse der Ausgangslage zur Abzocker-Initiative. Doch ist sie empirisch gut begründet. Denn es ist fast schon eine Binsenwahrheit, dass die anfängliche Zustimmungsbereitschaft zu Initiativen mit der Dauer des Abstimmungskampfes sinkt. Das hat mein der Logik der Meinungsbildung zu tun. Anders als bei Referenden, nehmen Initiativen fast immer mehr oder weniger breit getragene Themen aus der Bevölkerung, die von der Politik vernachlässigt werden. Das ist denn auch ihre Stärke. Ihre Schwäche ist, dass sie meist radikale Lösungen vorschlagen, denen in der Volksabstimmung Opposition erwächst. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn eine Initiative klar der linken oder rechten Seite zugeordnet werden kann. Praktisch sicher ist, dass der jetzige Nein-Wert zur Initiative noch steigt; wahrscheinlich ist auch, dass sich der aktuelle Ja-Wert verringert. So gut das aus der Erfahrung heraus belegt ist, so wenig Gesichertes wissen wir aus der Vergangenheit über das Ausmass der Veränderung. Denn die folgt nicht einer fixen Mechanik, sondern ergibt sich aus der Interaktion der Kampagnen Pro und Kontra, die im Voraus schwer abschätzbar ist. Bekannt sind Bespiele, wo der Meinungswandel gerade mal 5 Prozentpunkte umfasste und damit nur eine Minderheit der BefürworterInnen, die anfänglich eher dafür waren. Es lassen sich aber auch Fälle zitieren, wo der Meinungswandel 25 Prozentpunkte ausmacht, und damit weitgehend alle, die zu Beginn der Meinungsbildung eher für die Initiative stimmen wollten. Bei der Abzocker-Initiative ergibt unsere Umfrage 26 Prozent, die zur fraglichen Kategorie zählen. Mit anderen Worten: Das Potenzial für einen erheblichen Meinungsumschwung ist gegeben. Jetzt kommt es auf die Wirkungen der beiden Kampagnen an!
Grafik Abzocker
Die grösste Unsicherheit in diesen Überlegungen betrifft übrigens die Beteiligung. Aktuell wollen sich 39 Prozent äussern – ein mittlerer Wert. Er steigt erfahrungsgemäss mit dem Abstimmungskampf an; 5 Prozentpunkte sind die Regel. Das alleine ändert die politische Zusammensetzung des Elektorates nicht entscheidend. Bei populistischen Themen und Kampagnen ist indessen nicht auszuschliessen, dass der Wert einiges höher ausfallen kann. Von den 3 Vorlagen, über die wir am 3. März entscheiden, eröffnet die Abstimmung über die Abzocker-Initiative die grössten Chancen, dass es dazu kommen könnte: mit dem Effekt, dass das Protestpotenzial unter den Stimmenden steigt, was wohl die Nein-Anteile rundum ansteigen lassen würde.

Trendbefragungen: zwischen Momentaufnahmen und Prognosen

Ich habe mehrfach kritisch Stellung bezogen, Vorbefragungen zu Abstimmung seien per se Prognosen. Zu recht, ist immer noch meine Überzeugung. Allerdings gibt es zwischen Prognosen und Momentaufnahmen einen Graubereich, indem wir uns meiner Meinung nach mit Trendbefragungen befinden. Eine Klärung, was Sache ist.

Das ist die alte Vorstellung: Man macht zu irgendeinem Zeitpunkt eine Umfrage zu einer Abstimmung, und man weiss, wie sie ausgeht. Das stimmt so mit Sicherheit nicht. Denn es setzt voraus, alle BürgerInnen hätten zu jedem Zeitpunkt in jeder Sachfrage eine ganz genaue Meinung, nach der sie stimmen. An dieser Annahme stimmt in dieser Absolutheit so ziemlich nichts.

Die bisherige Gegenposition lautet: Eine Umfrage zu einer Abstimmung ist eine reine Momentaufnahme – mehr nicht. Die erste Hälfte der Aussage stimmt, während wir die zweite immer mehr relativieren können.

Ausgangslage
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Vorbefragungen im Zeitfenster rund 50 Tage vor einer Abstimmung legen die Ausgangslage für die Pro und Kontra-Seite offen. Das ist schon mal was. Die Vielzahl an Umfragen, die wir seit mehr als 10 Jahren für die SRG realisiert haben, erlaubt es uns, darüber hinaus wahrscheinliche resp. mögliche Verläufe der Meinungsbildung zu formulieren.

Punktgenaue Prognose sind das, ohne vorhergehende Kenntnisse über Kampagnen, Interaktionen der Komitees und Mobilisierungsanstrengungen definitiv nicht. Es lassen sich aber Einschätzungen machen, in welchen Bereichen Ergebnissen höchst wahrscheinlich zu liegen kommen.

Am einfachsten zu formulieren ist die Erwartung zur Teilnahmeabsicht. Auf Dauer nicht sie in den letzten 7 Wochen vor einem Abstimmungstag im Schnitt um 5 Prozentpunkte und erreicht sie eine mittleren Teilnahmewert von 44 Prozent. Allerdings gibt es eine Varianz. Die Zusatzmobilisierung kann bisweilen auch ausbleiben; sie kann auch bis zu 10 Prozentpunkte ausmachen.

Bei Initiativen kennen wir den Verlauf der Stimmabsichten während dieser Frist ebenfalls recht gut. Die Ablehnung nimmt fast immer zu, die Zustimmung fast immer ab. Im Mittel steigt Ersteres um 24 Prozentpunkte, während sich zweiteres um 10 Punkte verringert. Auch hier gibt es eine Varianz, die vom Mass der Unschlüssigkeit resp. der tendenziellen Befürwortung abhängt. So kann der Nein-Anteil im Extremfall auch mal 35 Prozentpunkte zunehmen, und der Ja-Wert kann sich bis zu 20 Prozentpunkten verringert. Über die Gründe hierfür muss im Moment spekuliert werden.

Am schwierigsten bleibt es, Trenderwartungen bei Behördenvorlagen zu formulieren. Im Normalfall lautet das wahrscheinlichste Szenario: Unschlüssige verteilen sich auf Ja- und Nein-Seite, wobei es keine im Voraus festlegbare Regel gibt, im welchem Verhältnis das geschieht. Im Ausnahmefall kann Ein Szenario eintreffen, wie wir es üblicherweise von Initiativen kennen; nämlich dass die Zustimmungsbereitschaft sinkt. Der Grund ist hier gut bekannt. Diesen Trend erwarten wir immer dann, wenn die parlamentarische Allianz im Abstimmungskampf durch Umpositionierungen von Parteien zerfällt. Über das Ausmass aber kann man nur spekulieren.

Das alles hat eine Konsequenz. Der Ja-Anteil in (frühen) Vorbefragungen ist der geeignetere Wert, um richtige Trenderwartungen zu formulieren.

Die Tabelle in diesem Beitrag ist entsprechend aufgebaut. Sie unterscheidet zwischen Initiativen und Behördenvorlagen, und sie zeigt, in welchem Masse Meinungswandel zwischen der ersten Vorbefragung und dem Abstimmungstag stattgefunden hat. Sie beschränkt sich auf unsere SRG-Befragungen aus dem laufenden Jahr – und ist dennoch etwas vom besten, wie man mittels Trendbefragungen falsche Erwartungen einschränken und richtige für die Zukunft vermehren kann!

> Dispositionsansatz zur Analyse von Vorbefragungen zu Volksabstimmungen

Claude Longchamp