Was die Schweiz aus der Affäre Merz/Qadhafi lernen muss

Die Schweiz muss lernen, sich auf andere als gewünschte Umwelten einzustellen und ihre Angriffsflächen zu beiseitigen, ohne sich selber aufzugeben, analysiert Luciano Ferrari die gegenwärtige Krise.

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Eine intelligente Diagnose der fortschreitenden Affäre liefert Luciano Ferrari, Auslandchef des Tages-Anzeigers.

Das Vorgehen von Merz sei falsch gewesen, schreibt der Auslandschef des Tages-Anzeigers im heutigen Newsnetz. Denn die Lösung, die der Bundespräsident hinnahm, hätte man auch ohne Aufwand haben können. Dennoch macht er nicht mit im allgemeinen Merz-bashing. Ihm geht es darum, wie ein solches Fehlverhalten inskünftig verhindert werden kann.

Auch Moammar al-Qadhafi beschäftigt sich Ferrari nur kurz. Die Schweiz, so der gelernte Historiker und Politologe Ferrari, erfahre heute gar keine spezielle Behandlung. Grossbritannien und Italien würde viel schlimmer drangsaliert. Doch werde das in der innenpolitischen Debatte nicht erkannt.

Der erste Grund hierfür, sei die Bedeutung der Bürgerrechte für die Existenz der Schweiz, des Volkerrechts für den Schutz des Kleinen gegen die Grossenm, un die Rechtsstaatlichkeit für das friedliche Zusammenleben der Willensnation.

Angriffe auf ihre Rechtsordnung verunsicherten deshalb die Schweiz nachhaltig. Es herrsche der Eindruck vor, man müsse sich dem Ausland beugen. Mit dem Kniefall des Bundespräsidenten gegenüber einem Schurkenstaat sei das für alle SchweizerInnen deutlich geworden.

Zur inneren Verunsicherung komme die äussere als zweiter Grund hinzu. Die Globalisierung sei an ihre Grenzen gestossen. Es wachse wieder die Rolle der Nationalstaaten. Die sich so formierende Weltordnung habe keine eindeutige Führung mehr; deshalb müsse man sich auf ein anhaltend fluides Umfeld einstellen.

Nötig sind nach Ferrari zwei andere Lektionen:

Erstens müssten die intern geltenden Gesetze auf die Gepflogenheiten abstimmt werden, die weltweit anerkannt seien. Die Schweiz müsse rechtsstaatlich mit der Welt ins Reine kommen, dann aber auf ihrem Recht beharren.

Zweitens müssten die Aussenbeziehungen auf eine neue Grundlage gestellt werden. Der Bundespräsident, der jedes Jahr wechselt, sei dafür gänzlich ungeeignet, denn Aussenpolitik bedürfe langfristige Kohärenz, garantiert durch hoch vernetzte Profis.

Aus alledem folgert der Tages-Anzeiger von heute, es brauche ein ständiges Vize-Bundespräsidium in Form des Verstehers oder der Vorsteherin des EDAs.

Damit die Schweiz im Ausland wieder ein Gesicht bekommt, und der Bundespräsident nicht ohne ein solches herumlaufen muss, füge ich bei.

Claude Longchamp

Was jetzt, Herr Bundespräsident?

“Wenn ich hier nicht reüssiere, dann habe ich das Gesicht verloren”, dass sagte der Schweizer Bundespräsident Hans-Rudolf Merz, als er vor 10 Tagen aus Tripolis kommend den Vertrag verteidigte, den er mit dem libyschen Ministerpräsidenten geschlossen hatte. Im Medienkommunique dazu hatte er verlauten lassen, dass die beiden Schweizer Geschäftsleute, die in der Schweizer Botschaft aufgehalten werden, bis Ende August in ihre Heimat zurückkehren könnten. “Ich übernehme die volle Verantwortung, mit allen Konsequenzen”, fügte er bei und setzte sich damit selber unter enormen Druck.
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Da die Frist zwischenzeitlich abgelaufen ist, stellt sich für uns alle die Frage: Was jetzt, Herr Bundespräsident?

Sollen wir ihre Aeusserungen vor laufender Kamera einfach vergessen? Sollen wir Sie weiter stützen und weiter hoffen, ein baldiges Happy End stehe bevor?
Sie machen es uns nicht leicht! Denn man lässt sich nicht leichtfertig von einem ausländischen Staatschef ein Regierungskrise verpassen. In diese Falle stürzt niemand mutwillig.
Doch fragt sich auch, ob Sie mit ihrem mutigen Alleingan nicht zu weit gegangen sind, die Würde des höchsten Regierungsamtes aufs Spiel gesetzt und dabei auch ihre Glaubwürdigkeit riskiert haben.
Sie wollten den gordischen Knoten durchschlagen, der mit der Arrestierung zweier Schweizer Geschäftsleute in Libyen entstanden ist. Jetzt stehen wir vor der Frage, was wir mit dem gordischen Knoten machen, der mit der jetzigen Situation geflochten wurde.

Meinungen aus dem Kreise der BürgerInnen sind gefragter denn je!

Claude Longchamp

Neue Staatsleitungsreform zur richtigen Zeit jedoch mit falschem Vorbild

Die Schweizer Oeffentlichkeit schaut gebannt auf die präsidial angekündigte, aber ausstehende Rückkehr der Geiseln aus Libyen. Derweil fand im Bundesrat eine Grundsatzdebatte über eine Neuauflage der Staatsleitungsreform statt.

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Vorwärts in die Vergangenheit: Der Bundesrat lässt prüfen, die Führung des EDA an das Bundespräsidium zu knüpfen, wie das 1848 schon einmal der Fall war.

Die Vorgeschichte ist bekannt. Als zur Jahrtausendwende die neue Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Kraft gesetzt wurde, beerdigte man die parallel dazu angestrebte Staatleitungsreform.

Auf Initiative von Evelyne Widmer Schlumpf diskutierte der Bundesrat an diesem Mittwoch eine kleine Neuauflage eben dieser Reform. Ihr Departement, das EJPD, wurde beauftragt, bis in einem halben Jahr Vorschläge zu folgenden Punkten zu konkretisieren: häufigere Grundsatzdebatten und Aussprachen zu wichtigen Themen, eine flexiblere Gestaltung der Bundesratssitzungen, vermehrte schriftliche Beschlüsse bei Geschäften ohne Diskussionsbedarf und die Vertretung der Bundesräte im parlamentarischen Geschäftsverkehr.

Das alles kann auf der bestehenden Verfassungs- und Gesetzesgrundlage erreicht werden. Ausdrücklich anders ist die Ausgangslage bei der ebenfalls angestrebten Stärkung des Gremiums durch einen Bundespräsidenten oder eine Bundespräsidentin mit längerer Amtsdauer. Denn diese wird durch die geltende Verfassung auf jeweils ein Jahr beschränkt.

Ohne Zweifel handelt es sich dabei um die wichtigste institutionelle Aenderung, welche der Bundesrat in eigener Sache vorschlägt. Namentlich nimmt sie den weit verbreiteten Ruf auf, die Führung des Bundesrates als Gremium zu verbessern. Das alleine verdient angesichts des aktuellen Zustandes Unterstützung.

Weniger gut in der Landschaft platziert sich allerdings der Zusatz, auf den ältestens Ladenhüter unter den Bundesinstitutionen zurückgreifen zu wollen. Die Koppelung des Bundespräsidiums an die Führung der Geschäfte im Aussendepartement galt schon 1848, wurde aber als erste Massnahme zu Verbesserung der Exekutivarbeit schon im 19. Jahrhundert abgeschafft.

Ausgerechnet das will der jetzige Bundesrat wieder ausarbeiten lassen. Und das in einem Moment, wo wir alle mit bassem Erstauen erleben, wie unsere Regierung (nicht) funktioniert, wenn der Bundespräsident Aussenpolitik mit der eigenen Faust betreibt.

Claude Longchamp

Der Wunschkandidat der parteiübergreifenden Linken

Die Wochenzeitung hatte ihn von Anfang an ganz oben auf der Liste der Bundesratsanwärter. Jetzt wird der Tessiner Ständerat Dick Marty von den Linken bei den Grünen und in der SP als eigentlicher Favorit für die Nachfolge von Pascal Couchepin präsentiert, ohne dass er gleich schon “no” sagen würde.

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Dick Marty, Tessiner Ständerat aus den Reihen der FDP, wird von den parteiübergreifenden Linken als Bundesratskandidaten gehandelt.

Der Tessiner FDP-Politiker Dick Marty ist ohne Zweifel eine der orginellsten Persönlichkeiten unter der Berner Bundeskuppel. Als Jurist vertrat der die Schweiz im Ausland. Als Staatsanwalt des Tessins kämpfte er gegen das organisierte Verbrechen. Als Regierungsrat in seinem Wohnkanton war er für die Finanzen zuständig. Und als Ständerat war der Südländer Präsident von “Schweiz Tourismus”.

Allen bekannt wurde Marty mit seiner Delegation in den Europarat, wo man ihn beauftragte, die vermuteten “black sites” der CIA mit Gefangenen aus dem Irak-Krieg zu untersuchen. Sein hartnäckiges Insistieren in dieser Sache brachte ihm querbeet Freund und Feind ein und begründeten definitiv seinen Ruf des unerschrockenen Politikers jenseits von Parteiinteressen.

Nun bringen Teile der Linken Dick Marty ins Gespräch als möglichen Bundesrat. Die WOZ bereitete den Zug seit Wochen vor; die Grünen im Tessin aktualisierten dieser Tage die Idee. Andy Gross, SP-National- und Europarat setzte heute noch einen drauf: Er brachte unter dem Titel “Bundesratswahlen: Keine Castingshow” (erneut) eine Streitschrift zur Regierungszusammensetzung heraus, die Marty zum Favoriten der fraktionsübergreifenden LinkspolitikerInnen erhebt.

Die FDP kann’s ärgern oder freuen: Missmutig dürfte Fulvio Pelli sein, dessen Anspruch, die einzige italienischsprachige Alternative im Kabinett der Minderheiten zu sein, geschmälert wird. Freuen könnte sich aber seine FDP, dass sie über einen Kandidaten verfügt, der links von ihr wählbar erscheint.

Gewählt ist Marty damit bei Weitem nicht. Doch könnte er zur Option der FDP werden, wenn diese die ihren zweiten Sitz im Bundesrat mit den Stimmen von links verteidigen muss. Je nach Verlauf der Bundesratswahlen könnte das von Belang werden.

Mit seinem neuen Buch lanciert Gross auch noch ein zweites Diskussionsangebot: die Bundesregierung in Richtung “kleiner Konkordanz” umzubauen. Gemäss dem Lieblingsthema der Grünen soll mit der Gesamterneuerungswahl von 2011 der Bundesrat auf 9 Sitze erweitert, jedoch um die SVP reduziert werden. Die Bundesregierung solle sich inskünftig aus je zwei Vertretern von FDP, CVP und SP sowie je einem Mitglied der BDP, der Grünliberalen und der Grünen zusammensetzen, um der SVP in der Opposition widerstehen zu können.

Claude Longchamp

Andreas Gross, Fredi Krebs (Hg.): Bundesratswahlen sind keine Casting-Show! Edition le Doubs, St. Ursanne 2009

Bundesratsthermometer ohne nachvollziehbare Grundlage

“31 Prozent Stimmen für Urs Schwaller”, das ist das Hauptergebnis des “Wahlbarometers” auf dem “Newsnetz”. Der Freiburger Ständerat führt damit das Feld der möglichen Nachfolger von Pascal Couchepin recht klar an. Doch kann er sich darauf irgend etwas einbilden? Nein, füge ich bei und begründe es auch gerne.

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Seit einem Monat läuft auf der Internetplattform der grossen Zeitungsverlage in der Schweiz ein Online-Befragung, wen man am liebsten als Nachfolger von Pascal Couchepin im Bundesrat hätte. Der CVP-Kandidat Urs Schwaller startete gut, wurde in der Folge aber von Fulvio Pelli überholt. So rasant dessen Aufstieg war, so klar wurde er in der Folge auch wieder auf die Plätze verwiesen. Die Gewinner der vierten Woche sind denn Schwaller von der CVP und Broulis von der FDP.

Ganz falsch erscheinen mir die groben Trends dieser Temperaturmessung nicht. Sie spiegeln die dominante Polarität zwischen FDP und CVP in der Nachfolgediskussion, und sie zeigen, dass die verschiedenen Kandidaten aufgrund unterschiedlicher Ausgangslage verschiedene Taktiken verfolgen.

Darüber hinaus kann der Barometer aber kaum Anspurch auf Verallgemeinerbarkeit der Ergebnisse beanspruchen. Sie stehen in erster Linie für die Teilnehmenden an der Online-Umfrage, ohne Anspruch auf Repräsentativität.

Dafür bräuchte es eine Definition der Teilnahmeberechtigten. Diese ist bei offenen Online-Umfragen nie gegeben. Dann wäre auch eine Stichprobenbildung von nöten, die allen Berechtigten die gleiche Chance einräumen würde. Auch bei diesem Kriterium versagen Umfrage auf e-Plattformen kläglich. Schliesslich müsste gewährleistet sein, dass jede Personen je ausgewiesenem Zeitintervall nur ein Mal gewählt würde. Selbst diese einfache Vorgabe ist beim Wahlbarometer auf Newsnetz nicht gewährleistet.

Andere Umfragen dieser Art stellen wenigstens das klar: Sie erheben keinen Anspruch auf Repräsentativität. Die Verwendung des Titels “Wahlbarometer” suggeriert zudem, wie das “Wahlbarometer” der SRG SSR idée suisse vor Nationalratswahlen verallgemeinerungsfähige Aussagen über den (jeweiligen) Stand der Meinungsbildung zu liefern.

Vor Fehlschlüssen wird gewarnt!

Claude Longchamp

Zur Symbolik der Schulreise unserer BundesrätInnen

Die Schulreise unserer BundesrätInnen ist ein Teil der schweizerischen Politkultur, die gleichzeitig auch immer eine Standortbestimmung vor der Sommerpause der Politik ist.

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Bundespräsident Hans-Rudolf Merz im Auslauf der Rodelbahn im appenzellischen Jakobsbad

Für einmal hat der/die BundespräsidentIn mehr zu sagen als die andern Mitglieder der Bundesregierung. Denn er oder sie bestimmt, wohin die ein- bis zweitägige Reise der sieben Weisen in der Schweiz geht. Doch ist er oder sie dabei nicht ganz frei, denn die Tradition verpflichtet, in die Heimat des amtierenden Staatsoberhauptes zu wandern. Das Programm, das er oder sie dabei auswählen darf, lässt jedoch genügend Spielraum für Akzentsetzungen, welche die mitreisenden Medien auch gerne aufnehmen.

Hans-Rudolf Merz, Bundespräsident 2009, konnte so – frei von Sorgen als Finanzminister und höchster Repräsentant der Schweiz – einen Ausflug in “sein” Appenzellerland vorbereiten. Im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit steht heute das Rodeln auf der Bahn beim Jakobsbad.

Für die einen ist es, wie wenn man durch die Gegend rast und damit fehl am Platz; für die andern zeigt sich, dass fast jedes einzelne Mitglied des Bundesrates für sich gut im Schuss ist, daraus aber kein Team wird, wenn einzelne wie Micheline Calmy-Rey aussen vor bleiben.

Nicht ohne Augenzwinkern sind die Kommentare, welche im event die Talfahrt des Bundesrates mit seiner Bankenpolitik gespiegelt sehen.

So oder so, es ist eine Geschichte, die den Uebergang zum politischen Sommerloch in der Schweiz anzeigt. Notabene auch bei mir, denn ich verabschiede mich heute in die Ferien im hohen Norden, von wo aus man die helvetische Politik mit etwas noch grösserer Distanz verfolgen kann, wenn man mag.

Claude Longchamp

Die Debatte zur Volkswahl von BundesrätInnen ist lanciert

Die Debatte über die Volkswahl des Bundesrates ist neu lanciert. Sie entzweit nicht nur das Volk und die PolitikerInnen. Auch unter den PolitikwissenschafterInnen werden beide Standpunkte zwischen Demokratisierung und Mediokratisierung von Bundesratswahlen vertreten.


(Rundschau vom 1.7. anclicken)

In der gestrigen “Rundschau” des Schweizer Fernsehens ordnete der Freiburger Historiker Urs Altermatt die neu aufgebrachte Forderung der SVP des Kantons Zürich in den grösseren Kontext ein: Er sieht darin den Angriff auf die BDP-Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf 2007, die als SVP-Vertreterin gewählt, dann von der eigenen Partei ausgeschlossen wurde. Die Initiative ist für den arrivierten Bundesratsforscher die Begleitmusik hierzu.

Unter den Politikwissenschaften werden kontroverse Einschätzung gemacht. Michael Hermann von der Uni Zürich sieht darin eine Chance der Demokratisierung von Bundesratswahlen, die sich in den Kantonen bewährt hat und nun auf der Bundesebene Anwendung finden soll. Er verspricht sich mehr politisches Interesse durch Volkswahlen des Bundesrates.

Ich selber vertrete die Gegenposition: Was mit der Volkswahl von BundesrätInne kommt, ist die gesteigerte Bedeutung von Personen für die politische Mobilisierung sowie die Amerikanisierung von Wahlen, verbunden mit einer Stärkung der Medienmacht. Das sich das mit der Konkordanz für den Bundesrat nicht verträgt, tendiert die Aushebelung der Rückbindung von Regierungsmitgliedern ans Parlament zum Uebergang des Regierungssystems der Schweiz zur Konkurrenzdemokratie mediokratischen Stils.

Claude Longchamp

“Volkswahl des Bundesrates”: indirekte Wirkungen wichtiger als direkte

Das Volk lehnte bis jetzt die Wahl des Bundesrates in Volksabstimmung immer ab. Dennoch hatten entsprechende Initiative oder Projekte indirekte Wirkungen, stärkten sie doch die Vertretung der Parteien, welche die Initiativen lancierten, im Bundesrat früher oder später.

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Das Ergebnis der Abstimmung von 1900 zur KK/SP-Initiative: 35 Prozent Ja bei einer Beteiligung von 59 Prozent der Stimmberechtigten.

Bereits zweimal wurde über die Volkswahl des Bundesrates abgestimmt: 1990 aufgrund einer Volksinitiative, getragen von den Katholisch-Konservativen und den Sozialdemokraten; 1942 als Folge eine Volksinitiative der SP. In beiden Fällen mobilisiert das Thema im Schnitt; zweimal scheiterte das Anliegen in der Volksabstimmung klar: 1900 votierten 65 Prozent dagegen, und es lehnte 14 Kantone ab; 1942 waren 68 Prozent und alle Kanton gegen die Vorlage.

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Das Ergebnis der Abstimmung von 1942 zur SP-Initiative: 32 Prozent Ja bei einer Beteiligung von 62 Prozent der Stimmberechtigten.

Das Abstimmungsergebnis erhellt nicht nur der Blick auf den räumlichen Kontext der Resultate. Der Zeitpunkt der Entscheidung ist mindestens so wichtig.

1900 befand sich die KK im Aufstieg zum Regierungspartei. Seit 1891 war sie als Minderheit mit einem Sitz im siebenköpfigen Bundesrat; im Parlament, vor allem im Ständerat hatte sie aufgrund ihres regionalen Profiles aber mehr Gewicht. 1942 war die SP auf dem Weg in den Bundesrat. Was ihr seit Längerem von bürgerlicher Seite verwehrt wurde, sollte 1943 effektiv erstmals erfüllt werden.

Volksinitiativen für die Volkswahl des Bundesrates gehören damit zu den Instrumenten, die Parteien einsetzen, welche ihre Macht in der Regierung stärken wollen. Sie kennen deshalb ein ausgesprochen taktisches Element. Von einer eigentlichen Konfliktlinie, die alle bestimmen würde, kann damit, wenigstens im historischen Rückblick, nicht gesprochen werden. Die Initiativen scheiterten recht deutlich, da sie keine soziologisch oder ökonomisch beschreibbares Potenzial kannten.

Angewendet auf die Gegenwart heisst dies: Die SVP fühlt sich im Bundesrat untervertreten. Sie verspricht sich, dass von der diskutierten Initiative Druck aus geht; das war schon im Jahr 2000 so, und es dürfte auch momentan der Fall sein. Direkte Wirkungen zeigten die Initiative nicht, weil sie in der Volksabstimmung scheiterten; indirekte Wirkungen stellten sich aber bisher immer ein: 1919 wurde die KK mit zwei Vertretern im Bundesrat bedient, und 1943 wurde die SP erstmals in die Bundesregierung aufgenommen. Bei der SVP reichte schon die Ankündigung der Initiative, dass die Verdoppelung ihrer Vertretung 2003 vorbereitet werden konnte.

Claude Longchamp

Einwände zur Volkswahl des Bundesrates

Die Volkswahl des Bundesrats wird in der Schweiz wieder zum Politikum. Vorgetragen wird sie gegenwärtig erneut durch die SVP, die ein entsprechendes Initiativprojekt diskutiert, obwohl ein analoger Vorschlag erst 2009 durch den kommunistischen Abgeordenten eingebracht, im Nationalrat klar abgelehnt worden ist.

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Quelle: Tages-Anzeiger, 30. Juni 2009

Seit 1848 sind alle Bestrebungen dazu gescheitert

Seit 1848 die Volkswahl des Bundesrats in der Diskussion der ersten Verfassung der Schweiz abgelehnt worden ist, wird das Thema regelmässig wieder diskutiert; alle Vorschläge hierzu sind bisher verworfen worden.

Sicher, die Voraussetzung seit damals haben sich geändert; die Kantone sind nicht mehr ausschliessliche und nach Innen gerichtete Teilstaaten. Dennoch gibt es kaum nationale Medien, eher ein sprachregional geprägtes Mediensystem, das die Möglichkeiten gesamtschweizerische Diskussion und Wahlen mindestens einschränkt.

Drei Einwände gegen die Volkswahl des Bundesrats werden immer wieder vorgebracht:

1. Der permanente Wahlkampf

Die Volkswahl des Bundesrates würde die Anbindung der Regierung an die Oeffentlichkeit stärken. Bei allen Vorteilen, die das auch hat, bleibt ein Problem: Die Gewählte würden sich dem ständigen medialen Dauerdruck der Abwahl ausgesetzt sehen. Diese wären letzlich auch in der Lage, die Abwahl in eigener Regie zu inszenieren. Ganz sicher wären die Medien auch eine zentrale publizistische und werberische Wahlvoraussetzung. Denn nur wenige PolitikerInnen erreichen die Bekanntheit, die nötig wäre, um national gewählt werden zu können. Faktisch sind das heute die Bundesräte nach der Wahl und Spitzenvertreter der Opposition wie das bei James Schwarzenbach, Jean Ziegler und Christoph Blocher der Fall war. Letztere sind geeignet, neue Themen aufzubringen und der politischen Diskussion zuzuführen, haben sich aber letztlich als zu wenig geeignet erwiesen, auch lösungsorientierte Sachpolitik zu betreiben.

2. Die Schwächung des Parlaments

Der Parlamentarismus ist die Norm der Demokratie. Darüber hinaus sind die direkte Demorkatie und das Präsidialsystem als Erweiterungen bekannt. Eine Kombination der drei System gibt es nationalstaatlich gesehen letztlich nirgends. Auf der Ebene der Gliestaaaten kommt Kalifornien dem am nächsten, – und zeigt mit hoher Regelmässigkeit die Schwäche: Da der Gouverneur, das Parlament und Volksabstimmung, alle ähnlich legitimiert, sehr unterschiedliche Politiken befürworten können, mangelt es schnell an Kohärenz, womit die politischen Satbilität, wie auch die jüngste Krise gezeigt hat, schnell leidet. Die Schweiz hat sich für den starken Ausbau der direkten Demokratie entschieden. Sie ist nach 1874 in verschiedenen Schritten stark ausgebaut worden, sodass sie die Bedeutung des Parlaments strukturell und in Policy-Fragen relativiert hat. Mit der Volkswahl des Bundesrates würde man dem Parlament nun auch die Wahlfunktion nehmen, womit nicht auszuschliessen wäre, dass das Parlament ganz zwischen Stuhl und Bank fallen würde, demokratiepolitisch eindeutig verantwortungslos.

3. Der erschwerte Minderheitenschutz

Volkswahlen der Regierung finden nach dem Mehrheitswahlrecht statt. Denn nur dieses legitimiert, im Namen der Mehrheit sprechen zu können. Entsprechend werden in aller Regel nicht Regierungen direkt gewählt, sondern das Präsidium. Die konsequente Anwendung des Mehrheitswahlrechtes auf nationaler Ebene für jedes einzelne Regierungsmitglied hebt konsequenterweise den Minderheitenschutz auf, oder aber schränkt über diesen das Mehrheitswahlrecht ein. Der Kanton Graubünden, als einziger Gliedstaat der Schweiz mit drei Regionalsprachen, hat ganz bewusst darauf verzichtet, den Sprachenproproz in die Volkswahl des Regierung einzuführen. Ohne das ist aber davon auszugehen, dass die deutschsprachige Schweiz – und mit ihr die Zürcher Optik – Volkswahlen der Bundesregierung dominieren müsste. Umgekehrt müsste man bei einem geregelten Minderheitenschutz müsste man klar sagen, wer in den Genuss kommen würde: nur die französischsprachige Schweiz? auch die italienischsprachige Schweiz? Und in welcher Zahl: je einen? zusammen zwei? Die Siebner-Zahl ist da nicht die einfachste.

Fazit
In der Tat kennt die Schweiz in den Kantonen die Volkswahl der Regierungen, kombiniert mit einem Parlament und direkter Demorkatie. Könnte man das nicht einfach auf die Schweiz übertragen? Meine Einschätzung lautet: eher Nein. Denn die Stabilität des Systems ist auch in den Kantonen nur gewährleistet, solange sich die grösseren Parteien untereinander an einen freiwilligen Proporz halten, der dem gleich, was wir im Bundesparlament haben. In den grösseren Kantonen werden in die Grenzen immer wieder sichtbar: Zürich, Bern, Waadt, Genf und Aargau kennen faktisch keine festen Schlüssel mehr für die Regierungszusammensetzung. Blöcke bilden sich, die bei Regierungswahlen gegeneinander antreten. Gesamtschweizerisch muss man klar Farbe bekennen: Wer die Volkswahl einführen will, will genau diese Polarisierung und verabschiedet sich von der politischen Konkordanz.

Claude Longchamp

Initiativprojekt zur Volkswahl des Bundesrates angekündigt

Die Zürcher Sektion der SVP greift mit der Volkswahl des Bundesrates eine Idee auf, welche die Mutterpartei im Jahre 2000 vorbereitet, dann aber fallen gelassen hatte. Sie will eine Volksinitiative, die es bei Annahme ermöglichen würde, dass die WählerInnen inskünftig Parlament und Regierung gleichzeitig wählen könnten.

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Alfred Heer, Zürcher Nationalrat und Präsident der SVP des Kantons Zürich, präsentierte das Projekt für die Initiative “Volkswahl des Bundesrates”

Die Forderung
Das Vorhaben für eine Volksinitiative sieht vor, dass der Bundesrat gleichzeitig mit den Nationalratswahlen von den Wahlberechtigten bestimmt würde. Die direkte Wahl der BundesrätInnen soll nach dem Mehrheitswahlrecht erfolgen und der lateinischen Sprachminderheit fest zwei Sitze garaniteren. Diese sollen nach dem Verfahren vergeben werden, das im Kanton Bern für die Bestimmung der fest gesetzten Vertretung des Berner Juras gilt.

Systemreform im Selbstverständnis der SVP
Das reaktualisierte Initiativprojekt wendet sich deutlich gegen andere Reformversuche des Bundesrates, etwa gegen die Ausweitung der Departementszahl, die unter einem Präsidenten durch MinisterInnen geführt würden, aber auch gegen die Stärkung des Präsidiums im jetzigen Gremium. Denn man möchte bei der knapp ausgestalteten Kollegialregierung bleiben, mit einem Präsidenten oder einer Präsidentin aus der Mitte der Mitglieder, jeweils für ein Jahr bestimmt.

Die SVP versteht ihren Reformvorschlag nicht als Schritt zu einem Präsidialsystem im amerikanischen Sinne. Vielmehr sieht es als Komplettierung des schweizerischen Sonderweges in der Demokratie-Entwicklung, die durch einen analogen Aufbau von unten nach oben bestimmt ist, und überall Volkssouveränität durch die Wahl von Parlament und Regierung, aber auch durch Abstimmungen über Sachfragen garantiert. Die jetzige Abhängigkeit der Regierung vom Parlament und nicht vom Volk betrachten die Gutachter für schlicht systemwidrig.

Recht offen kritisiert wird der Proporzgedanke für die Zusammensetzung der Bundesrates, weil er die Wahlfreiheit einschränke. Das hält man mit demokratischen Grundsätzen für unvereinbar. In solche Sätzen kommt denn auch der angestrebte Systemwechsel hin zu einer Konkurrenzdemokratie am klarsten zum Ausdruck.

Pikantes im Kleingedruckten
Etwas unbedacht wirkt in der gegenwärtigen Debatte über “Romand(e)s” das Kleingedruckte. Zur Regelung des Minderheitenschutzes hat man nämlich die lateinischen Gebiete der Schweiz aufgezählt. Dabei wird eine Zuordnung ganzer Kantone zu den Sprachregionen postuliert. Der Kanton Freiburg gilt demnach integral als Kanton der Romandie.

Das dürfte Urs Schwaller, möglicher Kandidat der CVP bei der anstehenden Bundesratswahl, freuen. In der Oeffentlichkeit wird bestritten, dass der deutschfreiburger Ständerat die Romandie vertreten können. Der diskutierte Initiativtext sähe hier keine Probleme. Ich werde mich umschauen, wie sich die SVP im Fall seiner Nomination verhält.

Claude Longchamp