Die Positionen der Schweizer Parteien im politischen Raum

Räume haben es an sich, sie sind dreidimensional. Politik wird meist vereinfach dargestellt, auf einer Dimension zwischen Links/Rechts. Jan Vontobel weist einen Ausweg, nun auch Parteipolitik räumlich darstellen zu können.

Die gestern besprochene Lizentiatsarbeit von Jan Vontobel zur empirischen Bestimmung der politischen Positionen Schweizer Tageszeitungen liefert in einem Nebenaspekt eine interessante Positionierungsmethode politischer Parteien.


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Ausgangspunkt ist die Gliederung des weltanschaulichen Raumes in drei Dimensionen, wie es die beiden Geografen Michael Hermann und Heini Leuthold vor knapp 10 Jahren vorgeschlagen haben. Demnach gibt es in der Schweiz Polarisierung zwischen

• links und rechts (wenn es um Sozialstaat, BürgerInnen-Rechte und Landesverteidigung geht)
• konservativ und liberal (wenn man sich über nationale Souveränität, Verhältnis zu Fremden und Reform der Institutionen streitet) resp.
• ökologisch und technokratisch (wenn sich die Kontroverse um Naturschutz oder technischen Fortschritt dreht).

Da diese Dimensionen anhand von Ergebnissen aus Volksabstimmungen aus den 80er und 90er Jahren hergeleitet wurden, hat Vontobel der Idee entwickelt, die Parteien aufgrund der Parolen bei den jeweils 20 typischen Entscheidungen auf jeder Dimension einzeln zu beschreiben. Das Ergebnis lässt sich sehen:

• Die SVP ist demnach rechts, technokratisch und konservativ.
• Die FDP erscheint als rechte, liberale und technokratische Partei.
• Typisch für die CVP ist ihre Position als liberale, rechte und technokratische Partei
• Die SP dagegen ist links, ökologisch, liberal positioniert,
• während die GPS ökologisch, links und liberal ausgerichtet ist.

Quantifiziert können die Parteien im dreidimensionalen Raum wie folgt verortet werden.


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Damit liegt ein neuartiger Versuch vor, die Parteien mehrdimensional zu klassieren. Da es sich dabei um eine begründete und berechnete Charakterisierung handelt, ist sie jenen vorzuziehen, die man intuitiv, gestützt auf Parteiprogrammen oder Medienimages machen kann. Typisch hierfür ist die Auflistung der Positionen im Wikipedia-Artikel zu den Schweizer Parteien, die verschiedenstes mischt:

• SVP: rechtspopulistisch, nationalkonservativ, teils wirtschaftsliberal, isolationistisch
• FDP: bürgerlich, wirtschaftsliberal, gesellschaftsliberal, Mitte-rechts
• CVP: christdemokratisch, bürgerlich, breites Spektrum von leicht links der Mitte bis klar rechts
• GPS: ökologisch, pazifistisch, feministisch, gesellschaftsliberal, links
• SP: gewerkschaftsnah, für starken Sozialstaat, ökologisch, gesellschaftsliberal, links

Natürlich kann man sich angesichts des ermittelten Ergebnisses fragen, ob es wirklich drei Dimensionen braucht. Theoretisch spricht einiges dafür, vor allem für den Zeitraum des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Die mit dem Postmaterialismus einerseits, dem neuen Nationalismus anderseits kamen im Gefolge der Waldsterbe-Debatte (1984) resp. des abgelehnten EWR-Beitritts (1992) neue ideologische Strömungen auf, die heute von etwas unterschiedlicher Strahlkraft sind.

Eine Variante hierzu ist es, sich auf zwei Dimensionen zu beschränkten. Gesetzt sind dabei die markanten Unterschiede zwischen der konservativen Position der SVP einerseits, der mehr oder weniger liberalen der anderen Parteien gibt. Denn Fragen der Oeffnung, des Fremden und der institutionellen Reformen unterscheiden die Parteien meist in dieser genau dieser Spaltung.


Quelle: avenir suisse/Hermann 2011

Denkbar ist darüber hinaus, dass die beiden verbleibenden Dimensionen zweimal ähnliches abbilden, nämlich die links-ökologische und die rechts-technokratisch Weltanschauung. Damit wäre man dann wieder recht nahe bei dem, was Michael Hermann in neueren Analysen betont. Denn heute verwendet er selbst bei Zeitvergleichen nur noch zwei Dimensionen, mit ausgetauschten Bezeichnungen für die Hauptdimensionen.

Wie auch immer, die Uebersicht Vontobels muss bei gleichbleibender Methode mit neuen Daten fortgesetzt werden. Erstaunlich, dass bis heute niemand anders auf die Idee gekommen ist, und meines Wissens auch niemand an die Aktualisierung gedacht hat. Werde mich bald möglichst dahinter machen!

Claude Longchamp

Parteiparolen und ihre Unterstützung sagen mehr über die Konkordanz aus, als man bisher meinte

Ueber 11 eidgenössische Vorlagen hat die Schweiz innert Jahresfrist nach den Parlamentswahlen entschieden. Eine Analyse der Parteipositionen und der Mobilisierungsfähigkeit grösserer Parteien stellt dem Funktionieren der Konkordanz in Sachfragen keine gute Bilanz aus.

Bis zuletzt hielt die Parteispitze FDP an ihrer Ja-Parole zur haushoch abgelehnten Krankenversicherungsreform „Managed Care“ fest. 72 Prozent ihrer eigenen WählerInnen, die sich beteiligten, stimmten nicht nur gegen die Vorlage; sie waren auch gegen die Parteiparole. Und 67 Prozent der Wählerschaft nahmen an der Volksabstimmung erst gar nicht teil.

Die Befunde für 2012
Eine systematische Uebersicht der Sammlungsfähigkeit politischer Parteien bei Volksabstimmung lässt den Schluss zu: Das ist zwar ein Extrembeispiel, aber ein symptomatisches.


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Vier Mal folgte die Mehrheit stimmender FDP-WählerInnen 2012 der Parole der eigenen Partei nicht: beim Verfassungsartikel „Jugend und Musik“ nicht, bei der Volksinitiativen „Eigene 4 Wände dank Bausparen“ nicht und (wahrscheinlich) auch bei der Volksinitiative „Sicheres Wohnen im Alter“ nicht. Beteiligt haben sich an den Volksabstimmungen im Schnitt nur 41 Prozent der BürgerInnen, die sich eine Wahl der FDP vorstellen können. Damit hat die FDP die schlechteste Sammlungsbilanz der grösseren Parteien im laufenden Jahr.

Unwesentlich anders sieht dies bei der SVP aus. 36 Prozent wichen hier 2012 im Schnitt von der Parteimeinung ab. Beteiligt haben sich im Mittel aber nur 37 Prozent der denkbaren WählerInnen.

Auch bei der CVP gab es dieses Jahr bei Probleme bei Sachabstimmungen. 36 Prozent AbweichlerInnen kannten die Partei bei eidg. Abstimmung durchschnittlich; beteiligt haben sich, über alles gesehen, immerhin 47 Prozent der Personen, die sich mit der CVP identifizieren.

Etwas weniger von solchen Problemen betroffen waren 2012 die linken Parteien. Die SP kann bei gesamtschweizerischen Volksabstimmungen auf 50 Prozent zählen, welche sich äusserten, und 71 Prozent teilten im Schnitt die Parteiposition. Noch etwas besser steht die GPS mit Werten von 51 Prozent beim Teilnahmewert und 79 Prozent beim Unterstützungsanteil da.

Die erte Folgerung lautet: Die verringerte Sammlungsfähigkeit vor allen rechter Parteien hat ihr Gewicht bei Volksabstimmungen geschmälert. Ihre Erfolgsbilanz ist schlechter als die der linke, aber auch der Mitte-Parteien.

Die Gründe für Abweichungen von den Parteiparolen
Nun gibt es verschiedene Gründe, warum die Parteiwählerschaften den Parolen ihrer Parteien nicht folgen:

Der erste besteht in kaum nachvollziehbaren Positionsbezügen; das leistete sich die FDP namentlich bei „Jugend&Musik“ – einer Vorlage, der die Fraktion im Parlament noch einstimmig zustimmte, bei der dann die Konferenz der Kantonalpräsidenten aber eine Nein-Parole herausgab. Institutionalisierte Uneinigkeit schmälert nicht nicht den Einfluss einer Partei, sie ist für den Gesamtauftritt einer Partei schädlich.

Der zweite wichtigere Grund besteht in der Profilierungsabsicht der Parteien, egal ob Fraktion, Delegiertenversammlung oder Parteitag, wenn man damit selbst aus Sicht der eigenen Wählerschaft übers Ziel hinaus schiesst. Die SVP und FDP erlebten das bei der Volksinitiative „Eeigene 4 Wände dank Bausparen“, der SP geschah Gleiches bei der Volksinitiative „Schutz vor Passivrauchen“, und die CVP lehnte sich bei der ersten Bausparinitiative 2012 zu weit aus dem Fenster. Vielleicht war das auch bei der GPS in Sachen Ferieninitiative der Fall, denn bei all diesen Beispielen folgte die Mehrheit der Parteiwähler dem Vorpreschen der Parteispitze bei den genannten Initiativen nicht.

Der dritte, ebenso wichtige Grund ist umgekehrter Natur: Der Fall liegt dann vor, wenn Regierungsparteien Regierungsvorlagen unterstützen, dafür aber bei ihrer eigenen Wählerschaft keine Gefolgschaft finden. FDP und CVP betraf dies bei der „Managed-Care“ Abstimmung. Der SP könnte Vergleichbares im Falle einer Referendumsabstimmung zum Asylgesetz im kommenden Jahr blühen.

Die zweite Folgerung heisst damit: Parteien in der Schweiz haben aus inneren und äusseren Gründen immer wieder Mühe, ihre eigene Wählerschaft richtig einzuschätzen.

Was heisst das für die Konkordanz?
Mit Blick auf die Konkordanz sind die beiden letzten Konstellationen von Belang: Denn die moderierende Funktion der Kollektivregierung mit vier resp. fünf Parteien im gleichen Boot wirkt nicht (mehr), wenn Regierungsparteien eine von den Behörden abweichende Position einnehmen. Wenn sie dafür bei ihrer Wählerschaft Support finden, aber im gesamten Elektorat aber in der Minderheit bleiben, ist das im Einzelfall oder je nach Thema wenig problematisch ist. Wenn eine Regierungspartei dagegen abweicht, keine mehrheitliche Gefolgschaft bei allen WählerInnen und gar den eigenen findet, liegt eine offensichtlich komplett falsche Fehleinschätzung der Stimmungslage vor, die nur noch als überzeichnete Profilierungssucht bezeichnet werden kann. Die Analyse zu den Nationalratswahlen 2007 verwies erstmals darauf, indem sie nahelegte, dass die Polarisierung unter den Parteieliten grösser geworden ist als unter ihren Wählenden.

Scheitern Behördenvorlagen in der Volksabstimmung, haben aus der Sicht der Konkordanz sowohl Regierungsparteien ein Problem, die eine Protest-Nein ihrer eigenen Wählerschaften nicht verhindern konnten, als auch jene, die ihre ursprünglich befürwortende Position mit Blick auf die Abstimmung änderten. Denn mit ihrem Nein tragen sie zur Versenkung einer Vorlage bei, die aus der Mitte von Regierung und Parlament stammt, der man selber angehört.

Damit sind wir beim dritten Schluss: Sachpolitisch war 2012 keine Jahr der Konkordanz. Regierung und /oder Parlament verloren beide Abstimmungen, gegen deren Vorlage das fakultative Referendum ergriffen worden war, und bei einer Volksinitiative setzte sich die Opposition gegen die Behördenpolitik durch. Konflikte zwischen Regierungsparteien, Profilierungsabsichten und Mobilisierungsschwäche einzelner Regierungsabsichten komplettieren den eher kritischen Blick auf den Stand der Zusammenarbeit unter den Regierungsparteien im ersten Jahr nach den jüngsten Parlamentswahlen.

Claude Longchamp

ParteipräsidentInnen und Wahlenentscheidungen

Wer nüchtern analysiert, geht von sachpolitischen Präferenzen aus, mit denen WählerInnen Parteiprogramme beurteilen. Wer etwas impulsiver ist, weiss, das Parteiidentifikation heute über Köpfe mit Ausstrahlung hergestellt wird. Ich empfehle den heute gewählten PräsidentInnen und ihren Parteien einen Mix!

Eine systematische Analyse der Einflussfaktoren auf Wahlentscheidungen zeigt, dass bei vier der fünf grössen Parteien in der Schweiz das Profil des Präsidenten die Wahl mitbeeinflusst hat. Einzig bei den Grünen war das nicht der Fall. So gesehen ist die GPS der Sieger des samstäglichen Wahlmarathons, denn FDP, CVP und eben die GPS bestimmten heute ihre Parteispitzen neu.

Die Grünen entschieden sich für Frauenpower. Die beiden neuen Nationalrätinnen, Adèle Thorens aus der Waadt und Regula Rytz aus Bern, sollen die Partei (sprachregional differenziert) in die Zukunft führen. Damit wurde der bisherige Präsident, Ueli Leuenberger, abgelöst, dem es, trotz perfekter Zweisprachigkeit, nicht gelang, die verschiedenen Sensibilitäten dies- und jenseits des Röschtigraben gewinnbringend zu vereinen. Das letzte Wahlbarometer 2011 zeigte nämlich nur bei den Grünen keine nachweislichen Effekte des Präsidenten auf die Wähleransprache. Mit der Rückkehr zu Präsidentinnen, knüpft die GPS dort an, wo sie bis vor 4 Jahren stand und Wahlerfolge feierte, und sie kann sich in Präsidentenrunden sichtbarer von SP und GLP abgrenzen.

Anders beurteilen muss man die Präsidentenwahlen bei FDP und CVP. Die CVP bleibt bei Christophe Darbelley, dem Walliser Nationalrat, während die FDP neu auf Philipp Müller, dem Aargauer Volksvertreter, setzt. Beide Parteien punkteten gemäss der gleichen Untersuchung 2011 beschränkt mit ihren PräsidentInnen im Wahlkampf. Die CVP verbessert sich mit dem heutigen Entscheid nicht, während die FDP den Anfang sucht. Symptomatisch für die FDP, dass sie ihren mit ihrem bisherigen Leutchturm den Anker in der deutschsprachigen Schweiz auswirft, und ihn in die Richtung auswirft, wo sie bisher von der SVP konkurrenziert wurde. Themenkorrekturen in Migrations- und EU-Fragen haben diesen Schritt vorbereitet, jetzt geht es um einen neuen kommunikativen Auftritt, um einige der bisherigen Schwächen anzugehen. Nur bei der CVP dominiert das Bisherige. Wohl setzt man darauf, dass der mediengewandte Christophe Darbelley vorerst nicht gleichwärtig ersetzt werden kann, die grosse Rochade in ein bis zwei Jahren stattfindet und für den Neustart der Partei eh die frühere Präsidentin und heutige Bundesrätin Doris Leuthard zuständig ist.

Die systematische Auswertung des Wahlbarometer 2011 lässt erkennen, dass jenseits der Persönlichkeiten von ParteipräsidentInnen ein Mix die Wahlausgänge bestimmt: Momentan will man Parteien, die sich ungebefangen von Geschichten und Geschichte den Herausforderungen der Zeit annehmen. Diese orten, wie es in der Natur der Sache liegt, nicht alle gleich! Aber alle spüren, dass nach den Brüchen in der jüngsten Vergangenheit mehr als nur Bewährtes braucht, das angesichts unsicherer gewordener Verhältnisse in der EU-Frage, in der Energieversorgung, bei Migationsproblemen und belastendenen Frankekursen Zukunftsbewältigung angesagt ist. Mehr oder weniger ist auch klar geworden, dass das Tagesgeschäft viel Flexibilität braucht, diese aber nicht beliebig interpretiert werden darf, sondern in eine werteverankerte Politik eingebettet sein muss. Von den Grünen erwartet man längst ein Feuerwerk zur Erneuerung ökologischer Werte, von der FDP ein Engagement für vernünftige Wirtschaftswachstum und von der CVP mehr Nachdruck für eine zeitgemässe Gemeinschaft. Denn alles, was man dazu gesehen hat, reicht nicht mehr, wirkt etwas abgedroschen und muss schleunigst von den Protagonisten erneuert werden. Das müssen sich Adèle Thorens, Regula Rytz, Philipp Müller und ganz besonders Christophe Darbelley hinter die Ohren schreiben!

Last but not least: Die zentrale Herausforderung für alle neu gewählten PräsidentInnen von heute sind die kommenden Nationalratswahlen. Denn von ihnen erwartet man, dass sie ihre Parteischiffe auf Kurs bringen, 2015 wieder mehr Passagiere befördern. Das beginnt mit der kohärenten politischen Positionierung, vor allem gegenüber der Konkurrenz im Parlament, wenn es um Themen und Mehrheiten geht, aber auch auf den Märkten volatil gewordener BürgerInnen. Der Aufschwung von GLP und BDP zeigt, dass es vor allem im Zentrum einiges zu verbessern gibt.

Die Kursbestimmungen setzen sich in den Wahlkampfvorbereitungen fort, die schonungslos Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken aufzeigen müssen, damit die Wahlkämpfe nicht nur die bisherige Wählerschaft anspricht, sondern auch neue Schichten unter Nichtwählenden, PersonenwählerInnen und parteipolitischen Schwankenden erschliessen.

Denn das ist eine der grossen Gemeinsamkeiten der heutigen Präsidiumswahlen: Mit ihnen hat ein Teil der Wahlverliererinnen 2011 die Segel Richtung 2015 gestellt, der aufbauend an der Schweizer Politik arbeiten und nicht einfach vom Misstrauen in die Zukunft, den Staat und die Politik profitieren will!

Claude Longchamp

Zur Transformation der Parteiidentifikationen in der Schweiz.

Die siebte Vorlesung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis an der Uni Zürich beschäftige sich mit der Transformation der Parteiidentifikation in der Schweiz. Hier einige thesenartige Aussagen von der gestrigen Veranstaltung.

Die Wahlnachbefragung 2007 zeigte, dass zwei Drittel der heutigen CVP-Wählenden Väter haben, die Gleiches tun. Bei der FDP beträgt derAnteil die Hälfte, bei SP, und SVP noch einen Drittel, und bei den Grünen ist das gerade bei jedem 20. der Fall.

Die klassischen Theorien der politischen Sozialisation in der Familie zur Entstehung von Parteiidentifikation bilden damit in der Schweiz eher den Spezial-, weniger den Normalfall ab. Zudem, Parteien, bei denen in der überwiegenden Zahl der Fälle gilt, dass die Familie die Zelle der Parteibindungen ist, gehören meist zu den Verlierer-Parteien. Denn sie stützen sich auf die immer gleichen Gesellschaftsgruppen, bei denen sie einen abnehmenden Erfolg haben.


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Parteien, denen die Erneuerung am besten gelingt, haben heute Wählende, die nicht mehr das Gleiche wählen wie ihre Eltern. Vielmehr haben sie gelernt, neue Gesellschaftsgruppen, anzusprechen, die eine Generation zuvor noch kaum Entsprechendes gemacht hätte. Zudem gelingt es ihnen Individuen als Wählende anzusprechen, die sich, abgekoppelt von ihrem sozialen Hintergrund für sie entscheiden. Weltweit analyisiert man das unter dem Aspekt von Dealigment, der Erosion von Parteibindungên, was in der Schweiz aber wenig Sinn macht.

Thomas Milic, der Zürcher Parteienforscher, hat in seiner Dissertation eine der interessantesten Ansätze vorgeschlagen, um solche Phänomen zu untersuchen. Er unterscheidet zwischen unparteilichen, parteilichen und überparteilichen BürgerInnen. Erstere kommen vor allem in den Unterschichten vor, bei Jüngerem, insgesamt bei Unpolitischen, die sich in der Parteienlandschaft nicht wirklich orientieren können, vielleicht hie und da abstimmen gehen, an Wahlen aber kaum teilnehmen. Die Stammwählerschaft der Parteien rekrutiert sich im Wesentlichen aus den parteilichen BürgerInnen. Sie haben eine gefestigte Parteiidentifikation, wie auch immer die entstanden ist. Im Normalfall wählen sie so und stimmen sie auch entsprechend der Parteiparole ab. Die Ueberparteilichen sind das eigentlich neue Phänomen: Anders als die Unparteilichen sind sie absolut befähigt, sich politisch zu orientieren. Sie verarbeiten am meisten Informationen, definieren sich aber nicht mehr eindeutig über Parteien, vor allem über Werthaltungen. Sie sind Feministinnen, Wertkonservative oder Wirtschaftsliberale. Ihre Parteienwahl ist noch gerichtet, aber kaum mehr eindeutig an einer Partei festzumachen, die man auf dauer unterstützen würde. Vielleicht haben sie noch eine Parteibindung, zum Beispiel die aus früheren Zeiten, aber sie entscheiden sich bei Abstimmungen immer häufiger selbständig, und sie wählen mit Vorliebe Personen aus verschiedenen Parteien.

Leider weiss die Wahlstatistik darüber nicht allzu viel, und die empirische Wahlforschung hat erst wenig hierzu zu Tage gefördert. Immerhin, man hat Anhaltspunkte: So wählen, je nach Wahl, 5-10 Prozent der Teilnehmenden mit der leeren Liste, ohne übergeordnete Parteibezeichnung, KandidatInnen, meist querbeet aus den Wahllisten aus. Rund 50 Prozent der Wählenden nutzen die Möglichkeiten des hiesigen Wahlrechts aus und panaschieren. Man könnte es auch so sagen: Sie kennen eine Parteibindung, aber keine exklusive Orientierung mehr. Dabei zeigt, sich, dass diese Phänomene bei CVP und FDP am häufigsten vorkommt, ausgerechnet bei den Parteien also, bei denen die familiale Sozialisation noch am verbreitetsten ist. Mit anderen Worten: Die Parteientscheidung ist ein Ritual, das bei der Personenentscheidung stark ausgehöhlt wird.

Die stärkste exklusive Neueinbindung hat heute die SVP, das wichtigste Gegenprojekt zu den bestehenden Parteien. Ich schätze, dass sie knapp 20 Prozent Wähleranteil bei BürgerInnen macht, die nur sie Partei wählen; hinzu kommen 5-10 Prozent Stimmen, die sie via KandidatInnen auf Listen mit Bewerbungen mehrerer Parteien macht. Bei der CVP liegen die Vergleichswerte bei rund 5 Prozent Exklusiver Parteiwählerschaft, und 5-10 Prozent weitere Stimmen kommen von Panaschierlisten.

Auf der linken Seite ist nur beschränkt eine neue Ausschliesslichkeit in den Parteibindungen entstanden. Etabliert hat sich eine neue Art der Ueberparteilichkeit. Die reicht zwar nicht bis rechts. Man fühlt sich schon noch als Wählerin, als Wähler, die, der rotgrün wählt, mal mehr rot, mal mehr grün, aber auch offen für KandidatInnen anderer Parteien, seien es solche der GLP, der FDP, der CVP, aber auch der EVP, ja selbst der BDP.

In den Termini der Wahlforschung könnte man sagen: Einzig der SVP ist es in den letzten 20 Jahren gelungen, einen neue affektive Parteibindung aufzubauen, die ihren Kern nicht in der Herkunftsfamilie hat. Vielmehr nährt sie sich aus dem täglichen Frust mit der Politik und dem System. Die Neuerung reicht aber nicht aus, um dauerhaft sehr hohe Wähleranteile garantiert zu haben. Speziell mit der Abspaltung der BDP ist eine, via Personenbildungen, relevante Alternative entstanden. Auf linker Seite gibt es eher Strömungen in der Wählerschaft, die mehr sozialistisch, liberal oder konservativ sind, über die sich die Parteien und ExponentInnen links der Mitte mehr oder minder konstant profilieren, um von den Wählenden in einem Mix aus kognitiv-emotionalen Entscheidungen honoriert zu werden. Von alle dem merkt man jedoch noch fast nicht, wenn man sich mit der Wählerschaft der FDP oder CVP beschäftigt.

Claude Longchamp

Wenn Piraten im Wind der Zeit segeln …

Die Analyse der Piratenpartei entwickelt sich, fast von Tag zu Tag. Den bisher grössten Bogen spannt Historiker Paul Nolte in der Berliner „taz“. Er deutet die aktuellen Entwicklungen als zeitgemässe Demokratie-Entwicklung, denn diese könne und dürfe nicht mehr auf den Parlamentarismus beschränkt bleiben.


Prof. Paul Nolte, Berlin, über die Piratenpartei als Teil des gegenwärtigen Demokratiewandels

Zuerst war sie ein rein lokales Phänomen, getragen von der Politikverdrossenheit im roten Berlin. Dann wurde sie zum Lebensgefühl einer ganzen Generation, die mit dem etablierten Parteiensystem nicht mehr anfangen kann. Jetzt deutet Paul Nolte, 49, Geschichtsprofessor in Berlin, die aktuellen Veränderungen in der “taz” als ein Symptom des gegenwärtigen Demokratie-Wandels.

Joseph Schumpeter, der Oekonom, interpretierte Demokratie als zeitgenössisches Verfahren zur Bestimmung der Herrschaft. Politökonomen in seinem Gefolge propagieren bis heute das Gleiche: Hauptsache ist, man kann die Regierung direkt oder indirekt wählen, um so periodisch das politische Programm bestimmten zu können.

Daran zweifeln verschiedene Interpreten der Demokratien schon länger. Sie sprechen, wie Benjamin Barber, von „starker Demokratie“, oder wie Jürgen Habermas von „deliberativer Demokratie“. Paul Nolte schliesst sich diesem Diskurs an. „Für eine Entpolitisierung kann ich aber weit und breit keine Anzeichen erkennen. Ich sehe viel eher neue Handlungs- und Artikulationsformen in der Demokratie.“

Historiker Nolte orten einen langfristigen Trend weg von Parteiendemokratie, mit Wahlen und Parlamenten. Die sei in der Nachkriegszeit notwendig gewesen, als Ueberwindung von Diktatur: heute jedoch sei sie angesichts neuer Partizipations- und Transparenz-Forderungen unzureichend geworden.

Dabei ist der Berliner alles andere als blauäugig: „Eine komplizierte Materie wie die Schuldenkrise wird man nicht mit Mitteln … des Straßenprotests lösen können. Dafür brauchen wir nationale Regierungen und europäische Institutionen, die demokratisch legitimiert sind. Auf die derzeitige Krise muss eine Vertiefung der europäischen Integration folgen.“ Dennoch empfiehlt er mehr direkte Demokratie.

Das klassisch-deutsche Argument gegen mehr Bürgerentscheidungen lässt Nolte nicht gelten. Denn direkte Demokratie führe nicht zu Bonapartismus und von da in Faschismus oder Nationalsozialismus. Gerade das Beispiel Deutschland zeige dies. Zwar hätten die sozialen Ungleichheiten in den letzten 20 Jahren zugenommen, einen Trend zum Rechtspopulismus gäbe es aber nicht. Die negativen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus würden das verunmöglichen. Vielmehr rückten Volksparteien nach links, auch Grüne und Piraten, und bildeten, ganz anders als in den polarisierten Vereinigten Staaten, eine Art ideele Gesamtpartei.

Damit die elektoral bestimmte Politik nicht abhebe, propagiert Nolte Volksentscheidungen, wie jüngst die zu Stuttgart 21. Mit ihr könne das Volk stärker miteinbezogen werden und auch über konkrete Sachfragen entscheiden. Direkte Demokratie sei unabhängig von Einzelentscheidungen wichtig, beispielsweise als Trend gegen die Aushandlung von Politik in Gerichtsverfahren.

Oder anders gesagt: Demokratie können nicht mehr auf den Parlamentarismus beschränkt werden. Sie werde vielfältiger. Die Piraten reagierten dabei am klarsten auf den technologischen Wandel der Gegenwart. „Das Internet bezeichnet den tiefsten Kommunikationswandel seit der Erfindung des Buchdrucks. Es wäre doch erstaunlich, wenn sich das nicht auch in politischen Bewegungen niederschlägt.“

Nicht alles, was ich da gelesen habe, ist neu. Einiges ist, gerade aus Schweizer Sicht, auch typisch deutsch. Doch finde ich das Bild, das Paul Nolte von der heutigen Demokratieentwicklung komponiert, ausgesprochen stimmig. Einmal mehr, erweist sich direkte Demokratie Janus-köpfig: Für die einen ist sie eine konservative Tradition, für die anderen die modernste Politikform. Auf jeden Fall ist sie eine Antwort auf demokratische Herrschaftsformen durch Parteien, die sich bei weitem nicht auf das Parlament beschränkt, sich vielmehr immer deutlicher auch auf Regierungen und Gerichte ausdehnt. Und dazu braucht es, wie Nolte treffend sagt, Gegenkräfte die nicht nur Geschichte haben, nein!, auch für die Zukunft taugen.

Claude Longchamp

Die BDP bleibt gefordert

Bei der anstehenden Diskussion zur Zusammensetzung des Bundesrates geht es um zweierlei: um den Machterhalt der Bisherigen, und um die Gestalt der Regierungsbildung für die Zukunft.

Uebers Wochenende ist in Sachen Bundesratswahlen einiges in Bewegung gekommen. Klar geworden ist, dass nicht nur die SP ihren 2. Sitz verteidigt und die BDP Eveline Widmer-Schlumpf weiterhin im Bundesrat haben möchte. Ihre Ansprüche bekräftigen haben die FDP und die SVP, die je 2 Sitze wollen. Damit ist der erwartete Konfliktfall angesagt.

Einer der 8 Ansprüche für 7 Sitze wird am 14. Dezember nicht eingelöst werden können: jener der SVP, mangels einer überzeugenden Kandidatur, jener der BDP, mangels Wählerstärke der Partei, jener der FDP, wegen den Wählendenverlusten oder jener der SP, weil die Ersatzwahl für Micheline Calmy-Rey zu letzt an der Reihe ist.

Exponiert ist vor allem Eveline Widmer-Schlumpfs BDP. Zwar geniesst die Magistratin Populärität im Wahlvolk; doch wählt dieses das Parlament, nicht die Regierung. Und ihr Ruf als Finanzministerin ist unbestritten. Indes, die gut 5 Prozent ihrer Partei reichen alleine nicht aus, um einen Anspruch im Bundesrat zu begründen.

Für die BDP stellen sich aus meiner Sicht die folgenden Fragen:

. Wiederwahl der eigenen Bundesrätin und damit Sicherung des Status als Regierungspartei;
. Demonstration der Wählendenmacht in der Konkordanz und
. Wachstumschancen als Partei

Diskutiert werden aktuell 3 Szenarien: die Fusion, wie sie von der CVP Aargau ins spiel gebracht wird, die Fraktionsgemeinschaft, wie sie die GLP wünscht (und die SP unterstützt), und die Koordination der Mitte in einer Arbeitsgruppe, wie sie der BDP Schweiz vorschwebt.

Klar ist, dass die vier oben genannten Ziele mit einer Fusion nicht umfassend realisiert werden können. Die neue Kraft hätte keine Chance, sich zu bewähren und auf diesem Wege zu einer relevanten Partei aufzusteigen. Da schimmert der Wunsch der CVP, einen unliebsamen Partner zu inkorporieren zu stark durch,

Klar ist auch, dass beim Alleingang der BDP notfalls der Sitz im Bundesrat wegfällt. Das würde der Identität der Partei schaden, selbst wenn das Wachstumspotenzial genutzt werden könnte. Denn ohne sich vor der GPS platzieren zu können wäre der Anspruch, eine Regierungspartei zu sein, nicht einlösbar.

Es bleibt die Möglichkeit einer Franktionsgemeinschaft auf Bundesebene – und zwar als Zentrumsfraktion mit CVP und EVP. Zusammen käme man auf genau 20 Prozent und personell wäre man aller Voraussicht nach die zweitgrösste Fraktion. Der Anspruch auf zwei Sitze könnte problem eingefordert werden. Er liesse sich auch im Rahmen der Konkordanz begründen.

Die BDP macht es sich meines Erachtens etwas zu einfach, wenn sie alleine auf den Status Quo setzt. Das ist zwar im Normalfall das wahrscheinlichste und auch beste Szenario. Angesichts der Uebergangsphase, in er sich die Regierungsbildung seit 2003 befindet, handelt es sich nur um eine Verlängerung der Probleme. Denn benannt werden muss nicht nur, was an diesen 14. Dezember geschehen soll, sondern auch, was die Zukunft des Regierungssystems der Schweiz betrifft. Da gibt es nebst dem Machterhalt auch die Rückkehr zur alten Zauberformel und die Arbeit an einer neuen Formel, die der veränderten Lagerbildung Rechnung trägt. Ohne Arithmetik kommt man da nicht aus, nur mit Rechnerei allerdings auch nicht.

Die Fraktionsgemeinschaft auch nationaler Ebene bietet verschiedenen Beteiligten gute Aussichten: Der BDP auf Kantonsebene frei zu bleiben und damit auch wachsen zu können, bei gleichzeitiger Sicherung des Status als Regierungspartei auf Bundesebene; der Allianz, welche die Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf ermöglichte, einer neuen Konstellation für Bundesratswahlen zum Durchbruch zu verhelfen, was zu einer Neudefinition der Konkordanzspielregeln führen könnte.

Claude Longchamp

Auf dem Weg zu einem Bundesrat der politischen Lager

Mit der Ankündigung, sich der Wiederwahl stellen zu wollen, hat Eveline Widmer-Schlumpf den Wahlkampf um die Bundesratswahl eröffnet. Gefragt sind, wie der neue Bundesrat aussehen soll, und was die Spielregeln bei künftigen Wahlen in die Bundesregierung sein sollen. Eine Auslegeordnung, welche den vorläufigen Stärkeverhältnissen im neuen Parlament Rechnung trägt.

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Definitive Zahlen der Lager: rotgrün: 61; nationalkonservativ: 57, neue Mitte: 52; mitte/rechts: 30 Sitze

Die SVP möchte ihren zweiten Bundesratssitz zurück. Eveline Widmer-Schlumpf, will in der Bundesregierung bleiben. SP, FDP und CVP wollen keine Sitze im Leitungsgremium der Schweizer Politik abgeben. Damit sind 8 Ansprüche für 7 Sitze vorhanden.

Die Regierungskonkordanz, wie sie 1959 eingeführt worden ist, basierte auf dem Kriterium der Grösse. Relevante Parteien sollten gemäss ihrer Stärke eingebunden sein, damit der Machtkampf die Sachentscheidungen nicht lähmt. Das war ein Erfolgsmodell für die Schweiz – und es dürfte auch inskünftig eines sein.

Die Veränderungen im Parteiensystem, ausgelöst durch die fast ungebrochene Erosion der FDP und CVP auf ihren historischen Tiefststand, durch den wellenartigen Auf- und Abstieg von SVP, SP, und GPS, aber auch durch die neuen Kräfte BDP und GLP haben der Zauberformel zugesetzt. Mit der Abwahl von Ruth Metzler 2003 war der Zauber vorbei, geblieben sind verschiedene Formeln die jeder nach seinem Gusto aufbaut und auslegt.

Hinzu gekommen sind nebst der Arithmetik inhaltliche Ueberlegungen, aber auch personelle. Das alles erleichtert es nicht, einen neuen, festen Schlüssel zu entwickeln.

Zu den Neuerungen der Diskussion gehört, abgesichts volatil gewordener Parlamentswahlen, nicht mehr nur in Parteistärken zu denken, sondern Lager zu identifizieren. Diesen Gedanken habe ich am Wahlsonntag abend aufgenommen, und ein Parlament mit mehreren politischen Lagern geschildert, in dem es nicht nicht mehr die klassische Teilung zwischen bürgerlich und links gibt. Vielmehr zeichnen sich 4 Gruppen ab, mit dem

. mit dem nationalkonservativen Lager, zusammengesetzt aus SVP, Lega, MCR,
. rotgrünen Lager, bestehend aus SP, GPS
. mit der neuen Mitte, die von der CVP, BDP, GLP, EVP und CSP gebildet wird
. mit der Position Mitte/Rechts, formiert aus den fusionierten FDP und LP.

Noch ist nicht sicher, ob es drei oder vier Parteiengruppen gibt: 2010 bildete sich, vor allem aus sachpolitischen Ueberlegungen die Allianz der Mitte aus CVP und FDP, später um die Bündnispartner der CVP erweitert. Davon wolle die FDP im Wahljahr nichts mehr wissen, denn die Profilierung des Liberalen Pols war ihr wichtiger als alles andere. Dies führte auch zu einer Abgrenzung gegenüber dem nationalkonservativen Pol. Immerhin, eine Bindung an die Mitte bleibt. Im neuen Ständerat dürftenFDP und CVP über eine Mehrheit verfügen, wenn GLP und BD mitziehen.

Was heisst das für die Bundesratswahlen der nahen und weiteren Zukunft? In der “Zeit” vom letzten Donnerstag haben Michael Hermann und ich eine Auslegeordnung gemacht, die zwischenzeitlich mehrfach aufgenommen worden ist. Der rechte und der linke Pol verfügen über je 27 bis 28 Prozent Wählenden-Anteil. Die neue Mitte bringt es auf 25 Prozent. Die FDP.Liberalen auf 15 Prozent.

Die Sitzverteilung hängt von der Ausrichtung der FDP und SVP ab. Auf Dauer wird die FDP ihren zweiten Sitz nicht halten können, ohne elektoral zuzulegen. Vorübergehend ist dies denkbar, wenn die SVP sich nicht an die Regeln der Konkordanz hält, dass heisst gleichzeitige Regierungspartei sein will und Systemkritik betreibt, im gleichen Aufwisch Respekt für ihre Ideen fordert, das bei denjenigen der Partner nicht gewährt. Kurzfristig zentral wird die Positionierung in der Personenfreizügigkeitsfrage resp. zu den Bilateralen sein.

Die Zielvorstellung ist klar: Sinnvoll erscheint es, wenn Rechte und Linke je 2 BundesrätInnen bekommen. Auf der rechten Seite kommen die wohl auf Dauer von der SVP, auf der linke von der SP, solange sie doppelt so gross ist wie die GPS. Koordiniert, sodass politisch berechenbare Entscheidungen möglich werden, kann die neue Mitte einen Anspruch auf 2 Sitze anmelden, während die FDP Sonderstellung seit Verlassen der Allianz der Mitte auf einen käme. In einer engeren Allianz mit der SVP käme das Lager auf drei Sitze, ohne dass die FDP profitieren würde, und auch in einer solche mit der Mitte wäre das Ergebnis gleich.

Damit drängen sich, in Kenntnis des vorläufigen Wahlresultats, aus der Sicht der Lagerbildung für die kommende Legislatur eine Verteilung von 2 SVP, 2 SP, 1 FDP, 1 CVP, 1 BDP auf, allenfalls vorübergehend 2 SP, 2 FDP, je 1 SVP, CVP und BDP auf. Erstere ist artihmetischer und wünschbarer, letztere bedingt keine Abwahl, was auch ein Vorteil ist. Beiden ist eigen, dass sie in einem zentralen Dossier des Wahljahres, der Kernenergie, Stabilität auf Regierungs- und Parlamentsebene sichern.

Das Ziel bleibt, eine Formel für eine Regierungszusammensetzung zu haben, welche der Neuaufteilung der politischen Lager nach der Ueberwindung der einfachen Bi-Polarität zwischen bürgerlich und links Rechnung trägt, die neue Mitte würdigt wie die Pole, Dauerhaftigkeit vespricht, auch wenn sich die Wählendenteile in den Lagern weiterhin bewegen.

Claude Longchamp

Wo die Fraktionen im Nationalrat stehen.

In den 90er Jahren gab es ein Debatte über die Perspektiven des Parteiensystem in der Schweiz. Die Polarisierung zu Zeiten des Kalten Krieges hatte sich aufgelöst: bürgerlich vs. links war kein probates Klassifikationsschema mehr. Dafür sprach man von der Tripolarisierung des Parteienlandschaft.

In den 80er Jahren waren die Grünen entstanden, samit der Auto- und Freiheitspartei als Antipoden, und es formierte sich nach 1992 die SVP neu, zu Lasten von FDP und CVP sowie auf Kosten rechter Kleinparteien. Von der Tri-Polarität des Parteiensystems war lange die Rede. Gemeint war damit, dass sich ein nationalkonservativer Pol, ein Zentrumslager und ein rotgrüner Pol herausbilden würde.

Gestern habe ich die politische Landkarte des Nationalrates 2007 bis 2011 im Berner “Bund” gesehen. MIchael Hermann, der Zeichner, hat sie mir zur Verfügung gestellt. Sie hat mich schlagartig an die These der Tripolarisierung erinnert.

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Zunächst: SP und GPS, verstärkt durch CSP und PdA bilden im Nationalrat recht geschlossen das linke Lager. Die beiden hauptäschlichen Partei gruppieren die ihre Volksvertreter nahe um ihr jeweiliges Zentrum. Das ist links und untereinander kaum unterscheidbar. Wirtschafts- und gesellschaftspolitisch sind die Grünen minimal konservativ, die SP ein Müh über dem Strich liberal.

Misst man politische Positionen aufgrund des Abstimmungsverhaltens, bildet die SVP der Gegenpol. Auch diese Fraktion ist in sich weitgehend geschlossen. Mehr oder weniger rechts-konservativ sind sie alle. Auch die zugewandten Parlamentarier der EDU und der Lega.

Die Grafik suggeriert, dass es einen dritten Pol gibt, bestehend aus FDP.DieLiberalen, aus CVP, BDP, GLP und EVP. Denn ihre NationalrätInnen neigen fast alle zu liberalen Positionen, bisweilen leicht rechts der Mitte wie bei der FDP und BDP, resp. links davon wie bei GLP und EVP. Die Geschlossenheiten sind hier geringer als an den äusseren Polen. Besser noch steht die FDP da, schlechter die BDP und stark aufgerissen die CVP. Zwischen dem Gewerkschafter Meinrado Robbiani aus dem Tessin, und dem Gewerbler Arthur Löpfe ist mehr Platz als zwischen allen Parteiexponenten der anderen politischen Parlamentsgruppen.

Das alles spricht für einen sachpolitisch dritten Pol, wie er 2010 in den Gesprächen zur Allianz der Mitte vorübergehend zum Ausruck kam. In verschiedenen Kantonen funktioniert das auch, wie nicht zuletzt die Listenverbindungen zum Ausdruck bringen. Doch auf nationaler Ebene herrscht die Abgrenzung vor: Die Spitzen von FDP und CVP verstehen sich nicht, markieren den eigenen Auftritt, und gifteln in Interviews gegeneinander.

Das geht es nicht um die Sache, aber um die Macht. Beide Parteien beanspruchen zwischen den Polen den Lead zu haben. Die FDP hat dafür mit der LP fusioniert, die CVP kooperiert auf Fraktionsbasis mit GLP und EVP, und mit der BDP gibt es im Bundesrat Uebereinstimmungen. Die Nähe hat zur Folge, dass man meist ähnlich stimmt, sich partei- und wahlpolitisch aber abgrenzt.

Wegen solchen Prestigeüberlegungen stimmt das Seznario, das man vor 15 Jahren diskutierte, nicht. Mehr oder weniger erwartungsgemäss haben sich die Pole entwickelt, während die Parteien und Fraktionen der Mitte gegen den gegenteiligen Weg gegangen sind.

Claude Longchamp

Wer in der Schweiz ist heute die Wirtschaftspartei?

Keine Partei mehr hat das Monopol, die Wirtschaft zu vertreten. Denn unter den zahlreichen Akteuren, die heute für Wirtschaftsinteressen lobbyieren und kommunizieren, herrscht ein harter Wettbewerb.

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Ulrich Bremi, Unternehmer und Nationalrat, FDP-Mitglied

Lange was alles klar. Die FDP war die Wirtschaftspartei. Das Volkswirtschftsministerium war Sache der Freisinnigen. In den grossen Unternehmungen sassen Mitglieder dieser Partei in der Verwaltungsräten und Geschäftsleitungen. Zahlreiche Gewerbetreibende politisierten für die liberale Sache in den Gemeinderäten. Auch im Verbandswesen gab man sich die Hand. Die Frage, wer in der Schweiz die Wirtschaftspartei sei, beantwortete sich damit von alleine.

Heute ist das alles nicht mehr so: Eine diese Woche veröffentlichte Studie zeigt, dass sie CVP-PolitikerInnen die höchste Affinität zum Grosskapital hat. Die FDP ist noch gut vernetzt, häufig aber nur noch in der zweiten Klasse. Hinzu kommt, dass es zwischenzeitlich in vielen Parteien ausgeprochene Wirtschaftsvertreter hat: Peter Spuhler bei der SVP, Claude Janiak bei der SP und Luc Recordon bei den Grünen, um nur einige Namen zu nennen.

Auch bei den Funktionären der Spitzenverbände tut sich einiges: Manager mit Leistungsausweis, verschiedenartigsten Werthaltung, aber ohne Parteibindungen werden immer häufiger. Das gilt sogar als Vorteil, denn es ebent einem den Weg zu mehreren Parteien. Angesichts internationaler Vernetzungen, voller Agenden und persönlicher Anfeindungen bei zu exponierter Haltung scheint das der Zukunftstyp zu sein.

Aehnliches gibt es bei den Medienschaffenden: Nicht einmal mehr der Chef der wirtschaftsnahe Denkfabrik economiesuisse ist parteipolitisch eindeutig einzuordnen. Er steht zwischen FDP und SVP. Bei der NZZ ist das noch klarer, aber man bemüht sich gerade da, vom Image der Parteienbindung weg zu kommen.

Nur beim Bauern- oder Gewerbeverband ist alles anders. Parteien mit stark ländlichen und kleinstädtischem Elektorat wie die SVP oder die CVP buhlen da um Stimmen, Verbandsmandate und Präsidien, weil sie wirkungsvoll in die mediale Debatte eingebracht werden können.

Man kann die Frage aber auch zuspitzen: Gibt es überhaupt noch einen eindeutigen Wirtschaftsvertreter in der Oeffentlichkeit? Ein Nein liegt auf der Hand: zu zahlreich sind die Konflikte innerhalb der Wirtschaft, die nicht mehr, wie noch zu Ulrich Bremis Zeiten voraus denkt, Divergenzen im Hintergrund regelt, und nach Aussen mit einer Stimme spricht, sondern zahlreiche Lobbyisten und Oeffentlichkeitsarbeiter hat, die ihre Sache kommunizieren.

Das merkt man, wenn man es mit Vertretern der Binnen- und der Aussenwirtschaft zu tun hat. Man wird sich Gewahr, wie jeder Verband, bisweilen jede Firma keine Vision der Schweiz mehr, dafür die eigene Kosten/Nutzen-Rechnung vor Augen hat. In diesem Konzert mischen heute zudem VertreterInnen von Gewerkschaften bis Ich-AGs mit, und reklamieren, ein relevanter Teil der Wirtschaft zu sein. Um die Bedeutung der international tätigen Unternehmungen, die sich schwer tun, mit dem Kleinräumigen in der Schweiz, dem Milizsystem in der lokalen Politik und den Volksabstimmungen, wenn es um Weichenstellungen geht.

So fällt es immer schwerer zu erkennen, ob es noch die Wirtschaftspartei gibt. Die FDP hat ihr Monopol verloren, ohne das eine andere Partei in die wirklich führende Rolle schlüpfen konnte. Die SVP nicht, weil sie weitgehend binnenwirtschaftlich ausgerichtet und mit ihrer vorwiegend verbreiteten Emotionalisierungsstrategie politischer Fragen weit ab von rational-wirtschaftlichen Ueberlegungen ist. Die CVP nicht, weil sie regonal zu viele Teil-Schweizen repräsentiert. Und die rotgrünen Parteien nicht, weil sie zu etatistisch sind, und die ihnen nahestehenden Interessengruppen wie Gewerkschaft, Umweltverbände oder Frauenorganisationen die Wirtschaft regelmässig herausfordern.

Die Wirtschaft, so mein Fazit, spricht heute durch zahlreiche VertreterInnen mit unterschiedlichsten Interessen, politischen Richtungen und Stilen im öffentlichen Auftritt. Spitzenverbände bleiben zentral, ohne Ausschliesslichkeit herstellen zu können. Und die FDP bleibt interessant, auch wenn sich kaum mehr jemand auf sie konzentrieren würde.

Oder noch deutlicher: Um die politische Vertretung der Oekonomie ist eine regelrechter Wettbewerb der Akteure entbrannt.

Wer im Parlament wieviel Kapital vertritt.

FDP und CVP konzentrieren 92 Prozent des Kapitals, das via Firmen und Stiftungen im Parlament vertreten ist, auf sich. Sie machen auch die Mehrheit der Mandate aus, obwohl sie nur eine Minderheit der ParlamentarierInnen stellen.

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Die 246 eidgenössischen ParlamentarierInnen vertreten zusammen 2045 Verwaltungs- und Stiftungsratsmandat. Trend: um rund 7 Prozent pro Jahr wachsend. Das berichtet die Firma Credita aufgrund einer aktuellen Zusammenstellung der relevanten Daten aus dem Parlament.

Die FDP-ParlamentarierInnen vereinigen 583 der Mandate auf sich. Es folgt die Zentrumsfraktion aus CVP, EVP und GLP mit 565 Mandaten. Mit deutlichem Abstand reihen sich die SVP (389 Mandate) und SP (310 Mandate) ein. gefolgt von der GPS (139 Mandate) und der BDP (59 Mandate).

Bezogen auf das Kapitel liegt die Zentrumsfraktion einsam an der Spitze. 62 Prozent der kapitalisierten Mandat sind in ihren Händen. Die FDP bringt es auf 29 Prozent, gefolgt von SVP und BDP mit je 4 Prozent. Die rotgrünen ParlamentarierInnen kommen vereint auf 1 Prozent

Spitzenreiterin bei den Mandaten sind im Nationalrat Steuerexperte Paul-André Roux (CVP/VS) und im Ständerat Felix Gutzwiller, Universitätsprofessor für Medizin und Institutsleiter (FDP/ZH). Beim vertretenen Kapital rangiert in der Volksvertretung die Anwältin Gabi Huber (FDP/UR) an der Spitze, während Jean-René Fournier (CVP/VS) in der Kantonsvertretung zuvorderst ist. Letzteres ist auf seine Funktion als Senior Advisor bei der Credit Suisse zurückzuführen.

Im Schnitt vertritt ein Ständerat/eine Ständerätin 11 Firmen oder Stiftungen oder 190 Millionen CHF Kapital. Bei Nationalrat liegen die Werte etwas tiefer. Konkret sind es 8 Frmen und knapp 21 Millionen Kapital.

Markant sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Ein Mann kommt auf 9 Mandate und 65 Millionen Franken Kapitalvertretung, eine Frau auf 7, mit knapp 14 Millionen CHF Gegenwert. Das bleibt im Wesentlichen so, auch wenn man die Spitzenreiter weg lässt.

Die Credita, welche die Studie durchgeführt hat, schreibt im Kommentar, dass die Nähe zu Unternehmen und Stiftungen ein Phänomen ist, dass nicht ausschliesslich, aber weitgehend bei FDP und CVP vorkommt. Die 41 Prozent ParlamentarierInnen dieser Fraktionen haben 56 Prozent der Mandate in, und sie konzentrieren 92 Prozent der Kaptials in ihren Reihen. Selbst SVP und BDP haben da wenig zu bestellen. Im Vergleich dieser beiden Parteien fällt auf, dass durch die Spaltung 2008 rund die Hälfte der untersuchten Wirtschaftsverbindung weggefallen sind.

Die Verteilungen, über die hier berichtet wird, ist typisch. Zunächst gibt es eine Anziehungskraft auf die gemässigten bürgerlichen Parteien. Dabei liegen je nach Aspekt die CVP resp. die FDP vorne. Die hat mit ihrer Programmatik zu tun. Dann kann man aber festhalten, dass die MedianpolitikerInnen besonders stark vertreten sind, nicht zuletzt, weil sie die MehrheitsbeschafferInnen in umstrittenen Entscheidungen sind.

Mit der vorliegenden Untersuchung ist die Transparenz erhöht und systematisiert worden. Nichts gesagt wird damit über das Stmmverhalten im Parlament. Dieses wurde in Abhängigkeit dieser Unterlagen noch nie untersucht. Und es wäre das einzig interessante. Denn ein Parlament, indem keine Interessen vertreten werden, ist wohl eine Fiktion. Ob es auch eine Fiktion ist, dass die Interessenvertretung keinen Eigennutzen bringt, ist noch zu untersuchen. Ein spannendes Forschungsthema, füge ich da für Studierende der Politiwissenschaft bei.

Claude Longchamp