Wenn heute Bundestagswahlen wären …

6 deutsche Umfrageinstitute haben zwischen dem 21.3. und 4.4. 2012 die von ihnen ermittelten WählerInnen-Stärken publiziert. Wahlumfrage.de hat sie sauber dokumentiert – und ich mache hier einen kleinen Kommentar.

Wenn heute Bundestagswahlen wären, wäre die Piratenpartei nicht nur im Parlament; sie wäre mit einem Plus von 6,3 Prozentpunkten auch die eigentliche Wahlsiegerin. Gegenüber 2009 zulegen würden auch die SPD (+4.5%) und die Grünen/B90 (+3.3%). Ein kleines Plus von 1,8 Prozentpunkten gäbe es schliesslich für die CDU.

Eigentliche Verliererin der (unterstellten) Bundeswahl wäre die FDP, die 11,2 Prozentpunkte Wähleranteil verlieren und aus dem Bundestag fliegen würde. Ein beträchtliches Minus von 4.4 Prozentpunkten würde es auch für die Linke absetzen.

Mit anderen Worten: Die jetzige schwarz-gelbe Regierung würde abgelöst; ohne das sich eine eindeutige Alternative aufdrängen würde. Rot-grün würde zwar kräftig zulegen, bliebe aber klar unter der absoluten Mehrheit. Das hat vor allem damit zu tun, dass im 5 bis 6 Parteiensystem nur die grosse Koalition als Bündnis aus zwei Parteien mehrheitsfähig wäre.

Herausgegriffen habe ich hier nicht eine beliebige Umfrage, die morgen schon überholt sein könnte. Vielmehr handelt es sich um die Mittelwerte der Abweichungen aus den sechs jüngsten Wahlbefragungen in Deutschland. Dazu beigetragen haben die führenden Wahlforschungsinstitute Allensbach, GMS, Forschungsgruppe Wahlen, Forsa, Emnid und dimap.

Die Aussagen über Gewinner- und Verliererinnen sind bei allen sechs Umfragen genau gleich; das Ausmass der angegeben Veränderungen variiert – am wenigsten bei der FDP mit maximal 1 Prozentpunkt Streubereich, am meisten bei den Piraten, für die zwischen 3 und 9 Prozentpunkte Zuwachs resultieren. Das hat Konsequenzen auch für die SPD, bei der die verschiedenen Umfragen zwischen 2 und 7 Prozentpunkten Gewinne angeben. Bei den Grünen sind es zwischen 2 und 5.

Das spricht dafür, dass nebst der Hauptverliererin FDP auch die Sicherheit der Entscheidungen bei den ehemaligen WählerInnen von Rot-Grün volatil sind.

Wahlumfrage.de, eine unabhängige Plattform zur angewandten deutschen Wahlforschung, ermittelt im 2-3 Wochenrhythmus solche Mittelwerte. Das lässt auch gesichertere Trendaussagen zu: Demnach verlieren die Grünen seit Anfang Jahr an Wählerstärke. Das galt bis zu Beginn des Monats März 2012 auch für die SPD; seither schwanken die Werte – ohne eindeutigen Trend. Konstant, wenn auch nur leicht zulegen konnte die Linke, derweil der Anstieg der Piraten ein Phänomen der letzten Wochen ist. Oder anders gesagt: Die jetzige Regierung verspricht wegen des Einknickens der FDP wenig für die Zukunft, das bekannte Rot-Grün überzeugte als Alternative aber auch nicht wirklich.

In den Umfragen profitiert bis Ende Februar 2012 die CDU von den aktuellen Umwälzungen; neuerdings leidet auch sie unter Abwanderungen.

Nur bei der FDP ändert sich eigentlich nichts an der fast schon auswegslosen Lage.

Claude Longchamp

Sarkozy oder Hollande?

In knapp 3 Wochen wählt Frankreich den Präsidenten – wenigens “au pre- mier tour”. Dabei wird höchstwahrscheinlich nur bestimmt, wer sich “au deuxième tour” gegenüber stehen werden. Sarkozy vor Hollande im ersten, umgekehrtes im zweiten bilanzieren die Umfragen die Absichten der Wahlberechtigten.

In Frankreich verfügen Medien, Parteien, je selbst der Staat ausgiebtig über Umfragen. In Wahlkampfzeiten erscheinen mehrere die Woche im Fernsehen, in den Magazinen und in den Zeitungen. So ist es üblich geworden, nicht nur zu schauen, welches Institut welche Resultate liefert, sondern alle Resultate in eine Serie zu bringen (selbst wenn sie von der Erhebungsart unterschiedlich sind). Zudem simuliert man schon früh nicht nur, was wäre, wenn heute schon der erste Wahlgang wäre, sondern auch, wer in welcher Konstellation für den zweite welche Chancen hat. Die besten Uebersichten über all diese Informationen bieten die Websites www.sondages-en-france.fr und sondage2012.

Die jüngste der so dokumentierten Umfragen gibt Präsident Nicolas Sarkozy die leicht grösseren Chancen als seinem Herausforderer François Hollande; indes, nur für den ersten, nicht für den zweiten Umgang.

Denn in der ersten Runde spielt viel Taktik mit. KandidatInnen, die sich für den zweiten Wahlgang zurückziehen müssen, taktieren um die Plätze innerhalb der Lager, um sich oder ihre Partei zu empfehlen. So sind, für die Wahlen vom 22. April nicht weniger als 15 BewerberInnen im Spiel.

Die beiden Favoriten für das Endspiel anfangs Mai stehen eigentlich seit Beginn des Wahlkampfes eigentlich fest: Es sind dies Nicolas Sarkozy, der jetzige Präsident, und Françopis Hollande, der Konkurrent aus den Reihen der SP. Drei weitere BewerberInnen sind noch einigermassen dabei: Marine Le Pen vom rechten Front national, François Bayrou für die Zentristen und Jean-Luc Mélenchon für die Linke. Alle anderen 10, die angetreten sind, sind aussichtslose MitbewerberInnen.

Seit den stark medialisierten Vorwahlen, erstmals von der Sozialistischen Partei durchgeführt, um die Kandidatur fürs Elysée zu bestimmen, ist François Hollande der Favorite links der Mitte. Lange zeit führte er mit seinem Programm für einen neues soziales Projekt auch landesweit bei den WählerInnen. Immerhin, Präsident Nicolas Sarkozy, der auf nationale Werte setzt, hat sich mit dem Attentat in Toulouse im rechten Elektorat empfehlen können.

Bezogen auf den ersten Wahlgang liegen Sarkozy und Hollande zwischenzeitlich praktisch gleich auf; aktuell hat der amtierende Präsident einen minimalen Vorsprung, knapp unter der 30 Prozent Grenze. Le Pen und Mélenchon kommen je auf knappe 15 Prozent, wobei beim linken Zusatzbewerber die Kurve nach oben geht, bei der rechten umgekehrt nach unten verweist. Bayrou liegt seit längerem knapp über 10 Prozent. Was den zweiten Wahlgang betrifft, sind die Verhältnisse umgekehrt. Da liegt Herausforderer Hollande unverändert vor dem Präsidenten. Mittet man die Tagesschwankungen ein, kann man aktuell von einem Vorteil für den Sozialisten im Verhältnis von 55 zu 45 ausgehen. Hauptgrund: Den ZentrumswählerInnen ist und bleibt das Taktieren des Präsidenten um die Macht verdächtig.

Sarkozys Handicap ist seine chronische Unpopularität, die er sich schon kurz nach der Wahl eingehandelt hat; keiner der bisherigen Präsidenten kannte während seiner Amtszeit dauerhaft so tiefe Zustimmungswerte wie er. François Hollande wiederum erscheint im Vergleich volksnaher und eher fähig, die Franzosen zu einigen. Sarkozy hat seine Stärke als Staatsmann, und ihm traut man eher zu, unpopuläre Entscheidungen zu treffen.

Auch wenn der Medienwahlkampf stark personalisiert ist, die Franzosen sagen von sich selber, dass die Themen für sie wichtiger sind als die Kandidaten und Parteien. Da liegt denn auch der Schlüssel für die Vorteile von Hollande in der zweiten Runde. Arbeitslosigkeit, soziale Sicherheit und Stärkung der Kaufkraft gehören traditionellerweise zu den von links besetzten Themen, und der SP-Bewerber kann in den prioritären Problemfeldern punkten. Ganz anders Sarkozy, der in Wirtschafts- und Sicherheitsfragen vor seinem Widersacher liegt, damit jedoch nicht die Hauptthemen der WählerInnen besetzt.

Bleibt abzuwarten, wer in den zweihalb Wochen, die noch folgen, besser mobilisiert. Denn es zeichnet sich keine besondere Beteiligung ab. Gut 70 Prozent gegeben im Moment an, an den Präsidentschaftswahlen teilnehmen zu wollen. Da bleibt noch einiger Spielraum für Veränderungen.

Claude Longchamp

Der Schweiz mangelt es an einer ausgebauten politischen Partizipationskultur

“Politische Kultur und Wahlbeteiligung” war das Thema meiner jüngsten Vorlesung zur Wahlforschung an der Universität Zürich. Ein Plädoyer für mehr Partizipationskultur, gerade zugunsten kommender Generationen.


Quelle: Gabriel/Plasser (Hg.): Deutschland, Oesterreich und die Schweiz im neuen Europa. Bürger und Politik. Studien zur Wahl- und Einstellungsforschung, Baden-Baden 2010, eigene Darstellung

“Musterhafte Einstellung, wie Politik und Staat geführt werden sollen”, ist eine der gängigen Definitionen von politischer Kultur. Relevant ist, was dem politischen Handeln vorausgeht, ohne dass dieses selbst zur politischen Kultur gehört.

Es zählt zu den Eigenheiten des Kulturellen, dass man nur im Vergleich über die eigene Kultur differenziert genug sprechen kann. Denn ohne das tappt man gerne in der Falle der Selbstbilder, ohne die Fremdbilder zu gehen, hält man das Selbstverständliche für unumgänglich, ohne es als Möglichkeit zu durchschauen.

So sind wir in der Schweiz gewohnt, uns als Musterdemokratie zu sehen, was nicht ganz falsch, aber auch nicht einfach richtig ist. Denn die politische Kultur der Schweiz ist, gerade im internationalen Vergleich, stark auf Fragen der Demokratie in Verfassungs- und Gesetzesrevisionen ausgerichtet, die den Staat betreffen, was uns geläufig ist. Dagegen übersehen wir gerne, dass es Bereiche wie die Demokratie in der Wirtschaft gibt, die bei uns fast ganz ausgeblendet werden.

Ein Projekt zur politischen Kultur Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz im Vergleich, an dem ich vor wenigen Jahren mitgewirkt habe, stellt der Schweiz eine durchaus etablierte und gereifte demokratische politische Kultur aus. Sie ist, im oben definierten Sinne entwickelter und, besser ausgebaut als in vielen Nachbarstaaten.

Indes, sie ist mit einem deftigen Mangel behaftet. Denn die politische Involvierung in die Breite bleibt in der Schweiz zurück: Das gilt nicht nur für das Stimmrecht von AusländerIn, beispielsweise auf lokaler Ebene. Die Einschätzung trifft auch nicht einfach, wegen dem Frauen-Stimm- und Wahlrecht, Nein, zur dieser Einschätzung kommt man insbesondere, wenn man sich die Wahlbeteiligungswerte nach Alter ansieht.

Wenn die allgemeine Wahlbeteiligung mit knapp 50 Prozent international tief ist, gilt das ganz besonders für die Teilnahme an nationalen Wahlen in den jüngeren Gesellschaftsgruppen. Werte von drei Viertel Abwesenden sind keine Seltenheit. Typisch dafür, bis jetzt fehlt es an einer gesamtschweizerischen Statistik, die uns sagen würde, wie tief der Wert bei den Parlamentswahlen 2011 gewesen ist.

Was der Schweiz fehlt, ist eine Kultur der politischen Involvierung junger Menschen in die Politik. Klar, es gibt Jugendparteien, die etwas mehr Zulauf haben als auch schon. Sicher, in den Medien findet man Jugendkulte, sei es im Sport, der Unterhaltung oder der Mode. Doch bleibt das alles ohne grosse Wirkung auf die Politik. Selbst der Staatskunde-Unterricht, vielerorts versorgt in Gesellschaftsfächern, befördert die politische Partizipation Jugendlicher kaum.

Vor einem Viertel Jahrhundert galt es, ähnliche Defizite bei der politischen Aktivierung der Frauen in der Schweiz zu machen. Da ist seither einiges in Gang gekommen. Der Wertwandel hat die Aufteilung in Männeröffentlichkeit und Frauenprivatraum fraglich erscheinen lassen. Der Frauenstreik von 1991 hat Ansprüche der Frauen auf gelebte Gleichstellung erhoben. Zahlreiche Programme in Städte und Kantonen, die Zahl politisierender Frauen zu erhöhen, haben einiges in Veränderung gebracht. Diesbezüglich ranigert die Schweiz heute im oberen Mittelfeld moderner Demokratien.

Genau eine solche Kultur fehlt uns aber, wenn es um den politischen Nachwuchs insgesamt geht. Es scheint, als verteidigten die Inhaber der politischen Pfründe diese so heftig, dass sie selbst die Probleme, die dabei entstehen, übersehen.

Dem sollte etwas gegenüber gestellt werden: Als Erstes müssten wir uns bewusster werden, dass die Schweizer Demorkatie hier gefodert ist, und dass es ohne regelmässige Programme in diesem Bereich keine Besserung gibt. Als Zweites bräucht es auch ein klares Signal der jungen Menschen, dass sie in die Politik wollen. Und drittens wäre eine breite Debatte angezeigt, wie etablierte und neuen Vorstellungen politischer Partizipation in Uebereinstimmung gebracht werden können.

Natürlich, man kann auch einfach warten, bis sich die politischen Beteiligung als Gewohnheit einstellt. Erfahrungsgemäss nimmt das ab dem 30. Altersjahr in der Schweiz zu, und erreicht es mit 70 den Höhepunkt. Doch nur darauf zu zählen heisst, Rekrutierungsprobleme in lokalen Behörden, in Parteivorständen und Vereinsgremien, wie sie heute verbreitet vorkommen, als gegeben in die Zukunft zu verlängern. Gerade angesichts der ausgebauten Mitsprachemöglichkeiten darf man solche Defizite nicht einfach übersehen und hinnehmen.

Das kann meines Erachtens nicht die Absicht einer zukunftsträchtigen Demokratie sein, maximal ein Missverständnis, dessen man sich kulturell zu wenig bewusst ist und es deshalb auch nicht aktiv beseitigt.

Claude Longchamp

Oekokonservatismus ist ein Trumpf

Die gestrige Aktualität hat alles ein wenig überlagert; dennoch newsnetzt publizierte eben ein Interview mit mir, das am Dienstag zur Erstanalyse der angenommenen Initiative “Stopp dem uferlosen Zweitwohnungsbau” geführt wurde. Hier die Einordnung, und hier das ganze Interview.

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Bild: newsnetz

Newsnetz: Es heisst, die Schweizer stimmten keiner Initiative zu, die Wirtschaftsinteressen zuwiderlaufe. Diese Regel muss man nach Annahme der Zweitwohnungsinitiative relativieren, oder?
Claude Longchamp: “Die Aussage stimmt, wenn man sich auf Themen wie Ausschaffung, Unverjährbarkeit und Verwahrung bezieht. Diese Initiativen wurden angenommen, waren wirtschaftlich aber irrelevant. Mehrheitlich sagte man das auch von der Minarettinitiative oder dem UNO-Beitritt. Bei der Gentechinitiative in der Landwirtschaft stimmt das überhaupt nicht. Wohl auch nicht bei der Alpeninitiative. Da geht es mehr um die Frage, welche wirtschaftliche Entwicklung wir wollen, genauso wie bei der Zweitwohnungsinitiative. Und da ist Ökokonservatismus ein Trumpf.”

Buchpreisbindung: Noch hat keine Seite ein Mehrheit hinter sich

Die Meinungsbildung zur Buchpreisbindung schreitet zügig voran. Die in Umfragen bekundeten Gegnerschaft ist zwischenzeitlich stärker als die BefürworterInnen. Doch hat keine Seite eine gesicherte Mehrheit. Hier eine Auslegeordnung.

Vor vier Wochen lagen die die BefürworterInnen der Buchpreisbindung bei 49 Prozent; ihre WidersacherInnen bei 39 Prozent. Zwischenzeitlich haben sich die (relativen) Mehrheitsverhältnisse umgekehrt. Die Nein-Seite umfasst nun 47 Prozent; das Ja liegt bei 40 Prozent.
Der Nein-Trend ist in erster Linie in der deutschsprachigen Schweiz markant; in der Romandie und im Tessin findet er sich kaum.

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Was ist der Grund? – Die Buchpreise sind bei den “Lateinern” kein parteipolitisches Thema, bei den “Alemannen” schon. Bei den Deutschsprachigen die stimmen wollen, kippte die Tendenz, auf 53:37 für das Nein.

Die Opposition startete bei den bürgerlichen Jungparteien. Das zeigte bei den bürgerlichen Parteien Wirkung. Je rechter sie stehen, um so mehr. Bei der SVP sind zwischenzeitlich 60 Prozent gegen die Buchpreisbindung, bei der FDP 52 Prozent. Dafür sind noch 27 resp. 36 Prozent. Am wenigsten merkt man davon bei den Wählenden der CVP; hier lauten das aktuelle Verhältnis 48 zu 39 – ohne klare zeitliche Entwicklung.
Das alleine reicht nicht, damit die Zustimmung zur Vorlage kippt. Denn die linken WählerInnen halten ihr die Stange. Doch ist ihre Ausstrahlung schwächer als sonst. Denn die urbanen WählerInnen, auch die mit höherer Schulbildung sind nicht eindeutig dafür. Sie, die am meisten Bücher lesen und kaufen dürften, wissen um die Vorteile des Büchereinkaufs auf Internet – eine offensichtliche Schwäche der Vorlage.

Der Konflikt ossziliert zwischen dem Schutz eines Kulturgutes und neuen Realitäten. Ersteres hat etwas Konservierendes an sich; setzt auf Föderalismus, breite Versorgungsdichte und faire Preise. Zweiteres ruft zum Kampf gegen die Hochpreisinsel Schweiz auf, nährt sich von der Angst, mit der Buchpreisbindung in der Schweiz noch mehr für ein Buch bezahlen zu müssen, und verweist die ersten Erfahrungen mit der Liberalisierung, die so schlimm nicht seien. Das vereint ein Potpurri aus Liberalen, KonsumentInnen und PragmatikerInnen gegen Konservative, ProtektionistInnen und Buchliebhaber!

Gelaufen ist die Sache noch nicht: Zwar ist die Meinungsbildung in dieser Frage fortgeschritten, doch hat keines der beiden Lager eine Mehrheit auf sicher. Der Trend im bisherigen Abstimmungskampf verläuft Richtung nein, doch ist er vor allem ein Phänomen der deutschsprachigen Schweiz, bisher ohne Ausstrahlung auf das ganze Land.
Bei Behördenvorlagen gilt zudem: Unschlüssige verteilen sich auf beide Seiten; es kommt vor allem auf das Ausmass an – auch in diesem Fall!

Claude Longchamp

Warum die Schweiz mehr Ferien gegenüber skeptisch ist. Ein Erklärungsversuch.

“Erklären Sie einem Menschen ausserhalb der Schweiz, warum die Einheimischen nicht mehr Ferien wollen?” So versuchte gestern ein Journalist mich aus meiner Zurückhaltung zu locken. Spontan fiel meine Antwort vielleicht etwas kurz aus, hier kann ich etwas ausholen.

Erfolgreich sind Volksinitiativen, die massive Defizite der behördlichen Politik aufgreifen und/oder breit geteilte Interessen vertreten. Dazu gehören in Zeiten der Inflationen Forderungen aus dem KonsumentInnen-Schutz. Es zählen auch neuralgische Stellen zwischen Einheimischen und AusländerInnen dazu, namentlich dann, wenn sie Minderheiten treffen, die man nicht gerne unter sich weiss. PolitologInnen sprechen denn auch von der Ventilfunktion von Volksabstimmungen. Sie sind nicht nur da, um ein Problem zu lösen, sondern auch politischen Missmut abzubauen.

Ob die Stimmenden nicht mehr Ferien wollen oder, wissen wir letztlich erst am 11. März 2012 nachmittags. Heute kann man analyiseren, zum Beispiel aufgrund der Ergebnisse der SRG-Abstimmungsbefragungen von gestern. Demnach sind 55 Prozent bestimt oder eher gegen 6 Wochen Ferien für alle, 39 Prozent bestimmt oder ehere dafür. Beteiligen würden sich rund 4 von 10 StimmbürgerInnen.

Psychologisierung, nicht Politisierung ist bei den InitiantInnen angesagt: “Timeout gegen Burnout” ist ihr Slogan. Damit greifen sie ein Thema auf, das man individuell vielerorts kennt: am Arbeitsplatz, in der Freizeit und des Nachts; überall klagt man über die negative Auswirkungen der Arbeitswelt. Vemehrt Ferien, vermehrt individuelle Zeit- und Ortsbudget und vermehrt Erfüllung in der Arbeit sind durch aus verbreitete Wünsche.

Volksabstimmungen, indes, sind nicht einfache Hitparaden der Alltagssorgen- und wünsche, sondern Entscheidungen über vorgeschlagene Lösungen. Und da gehen die Meinungen über das Richtige schon unter den ArbeitsnehmerInnen auseinander: Für die Einen brauchte es mehr Erholungszeit; denn sie sehen, dass die Dichte während des Arbeitens grösser wird – was mehr Distanzierungsmöglichkeiten bedingt. Andere wiederum sind der Auffassung, mehr Ferien erhöhten das Beklagte nur. Wenn alle Arbeitsnehmer 6 Wochen Ferien haben, leisten auch alle ArbeitsnehmerInnen 6 Wochen Stellvertretungen.

Dieses Dilemma belegt auch die gestern veröffentlichte Umfrage. Teilzeiarbeitende stehen mehr Ferien positiver gegenüber, denn sie suchen individuelle Lösungen für ihre Work/Life-Balance. Vollzeiterwerbstätige lehnen sie indessen verstärkt ab. Sie haben sich mit den vorgeschriebenen Arbeitsrhythmus arrangiert. Selbstredend sind Nicht-Erwerbstätige am meisten dagegen; die Hälfte von ihnen gehört zur Rentnerschaft, sagt sich wohl, das hatte ich auch nicht, und die andere Hälfte hätte möglicherweise lieber ein Job als mehr Ferien.

Bei Volksabstimmungen schwingen darüber hinaus politischen Ueberzeugungen mit. Wenn es um die Neuverteilung von Rechten am Arbeitsplatz oder in der Wirtschaft geht, werden die BürgerInnen entlang der Parteibindungen polarisiert. Das ist auch aktuell der Fall – und zwar recht exemplarisch: Bürgerliche Parteiwählerschaft sind (heute schon) zu zwei Dritteln gegen das Anliegen, linke mindestens gleich geschlossen für mehr Ferien. Mehr noch als mit den Gewerkschaften hat das mit dem Weltbild der bürgerlichen Schweiz zu tun: Zentral ist die Vorstellung, durch den Arbeitsethos, geboren im Protestantismus der frühen Neuzeit, hochgehalten in der Phase der Industrialisierung, zum eigenen Wohlstand beigetragen zu haben. Aller Kritik in der Gegenwart zum Trotz, gilt das, auch bei den säkularisierten KatholikInnen, als Begründung, bei solchen Themen nicht nur zweckrationale Entscheidungen zu treffen, sondern auch wertrationale zu fällen. Hochgehaltene Prinzipien sind da wichtiger als eigene Interessen.

Ich weiss, das sehen linke und rechte BürgerInnen diametral anders: Denn für Linke haben die Arbeitnehmer längst ihren Beitrag zur Produktivitätssteigerung erbracht, um jetzt Kasse machen zu können. Für rechte SchweizerInnen ist das ganz einfach nicht die Ebene, auf der sie sich entscheiden. Denn ihnen ist die Wahrung der Wettbewerbsfähigkeit der Schweiz wichtiger, gerade in einer umstrittenen Umwelt.

Damit bin ich beim meinem letzten Argument: dem gegenwärtigen Klima. Nein, ich meine nicht die Kälte draussen! Vielmehr geht es mit um das Wirtschafts-Klima, ausgelöst durch die Weltwirtschaftskrise, von der die Schweiz bis jetzt einigermassen verschont blieb – wenn auch ohne Sicherheit für die Zukunft. Es geht mir auch um das Gesellschafts-Klima mit Abstiegsängsten angesichts offener Gesellschaften und daraus entstehender Probleme, und ich meine auch das politischen Klima: Denn seit den Wahlen 2011, die über die Umwelt- und Energieproblematik ein beträchtliches Zerwürfnis unter den bürgerlichen Parteien hervorgebracht hat, wird im Abstimmungskampf zur Ferien-Initiative Gegenteiliges sichtbar: SVP, FDP, CVP und BDP ziehen am gleichen Strick gegen mehr Ferien, und sie wissen sogar die GLP auf ihrer Seite. Die Linke, im letzten Wahlherbst mit ihren KandidatInnen in den Ständerat punktuell durchaus für Ueberraschungen gut, muss sich damit auseinandersetzen, dass nur für SP, GPS und kleine Linksparteien die Ferien-Initiative von Travail.Suisse prioritär ist, zusammen aber keine 30 Prozent der schweizerischen Wählerschaft repräsentieren.

Eine Prognose für den 11. März 2011 ist auch das nicht. Aber ein Erklärungsversuch, der nicht nur auf politökonomischen Interessenlagen basiert, sondern das allgemeine Klima, die politische Willensbildung in der genannten Sache, die bisherigen Kampagnen, die Erfahrungen aus Vergleichsabstimmungen und das Bewusstsein der SchweizerInnen miteinbezieht. Das ist nach meiner Erfahrung angemessener, auch wenn die Gewichtigung der hier vorgeschlagenen Elemente nicht unabhängig von einer bestimmten Situation existieren.

Claude Longchamp

Exit, Voice and Loyalty bei Schweizer Volksabstimmungen

Zur Vorbereitung auf die Berichterstattung zu den SRG-Umfragen 2012 bis 2015 haben wir unser Wissen über die Meinungsbildung vor Volksabstimmungen einer systematischen Ueberprüfung unterzogen. Herausgekommen sind dabei einige neue oder konkretisierte Thesen, vor allem zur Mobilisierung. Hier ein erster Einblick.

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Die Beteiligungsabsichten zu Volksabstimmungen steigen in der Regel während Abstimmungskämpfen an. Zwar endet der Wert, am Abstimmungstag, präzise mit der amtlich verkündeten Teilnahme. Er beginnt, mit Einsetzen der Kampagnen aber nicht bei 0.

40 bis 45 Tage vor dem Abstimmungswochenende wissen im Schnitt gegen 40 Prozent der Stimmberechtigten schon, dass sie sich äussern wollen. Der grössere Teil von ihnen 25-30 Prozent, macht das immer, also vorlagenunabhängig; beim kleineren Teil ist das genau umgekehrt, denn er will sich beteiligen, weil ihm (mindestens) eine Vorlage wichtig ist.

Während des Abstimmungskampfes erhöht sich der Anteil, der sich aus einem spezifischen Interesse meldet. Erzielt wird letzteres durch Kontroversen. Dafür braucht es klar gegensätzliche Standpunkte bei einer, besser noch bei mehreren Vorlagen. Und die Gegensätze müssen mediengerecht vorgetragen werden, denn die Involvierung durch sie ist der wichtigste Mobilisierungsfaktor unterwegs. Mit mediengerecht meine ich das dynamische Moment in Kampagnen und Gegenkampagnen, das Ereignishafte und das Unwägsame, das einen Spannungsaufbau zulässt.
5 Prozentpunkte ist der Mittelwert der Beteiligungssteigerung durch einen Abstimmungskampf – ausser es kommt, meist gegen das Ende, zu eigentlichen Wutausbrüchen und/oder Mobilisierungskampagnen. Diese müssen nicht unbedingt über Massenmedien verlaufen. Immer mehr benutzen sie auch die neuen Medien, die sich direkter und emotionaler an Zielgruppen wenden. In solchen Fällen ist die Steigerung der Beteiligung bis zu 10 Prozent der Stimmberechtigten nachweislich möglich.

In der deutschsprachigen Schweiz sind längere Kampagnen, zum Beispiel während 6 bis 8 Wochen, üblicher als in den anderen Sprachregionen. Zuerst beteiligungsbereit sind hier die Parteianhängerschaften, je nach allgemeinem Politklima eher die rechten oder linken, meist die Anhängerschaften grosser Polparteien vor denen der Zentrums und der kleineren Parteien. Die Dynamiken in der Romandie und im Tessin kennen die gleiche Struktur, sind aber meist von kürzerer Dauer. Vor allem im Tessin dauern Kampagnen zu eidgenössischen Volksabstimmung nicht selten nur 3 Wochen, und fallen die Beteiligungsentscheidungen häufig auch erst dann.

Generell sind ältere Menschen früher entschieden, ob sie teilnehmen wollen oder nicht; bei jüngeren entwickelt sich diese Entscheidung häufiger erst themenspezifisch mit dem Abstimmungskampf. Unterschiede kennen wir auch nach dem Schulabschluss. Tiefere Bildungsschichten klinken sich meist später in Kampagnen ein, und sie lassen sich in Opposition zur Regierungspolitik besser mobilisieren, während höhere genau ein gegenteiliges Verhalten zeigen.

Albert O. Hirschman hat für solche Prozesse eine treffende Typologie entwickelt: Politisch konstant Aktive (und Passive) zeigen eine höhere Vertrauen in den Staat und neigen zu Loyalität. Derweil mischt sich die misstrauische Bürgerschaft punktuell ein – oder sie bleibt aussen vor. Macht sie letzteres, wählt sie den politischen exit-Pfad, schreibt der Sozioökonom dazu. Machen sie ersters, nennt er das voice: der eigenen Befindlichkeit eine politische Stimme geben. Was der deutsch-amerikanische Wissenschafter im Grossen fand, kann man auch im Kleinen der Schweizer Politik beobachten.

Claude Longchamp

Politphilosophinnen erobern die Bühne

“Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er auch die Wahrheit spricht!” Diesen Kinderreim gaben mir meine Eltern mit auf den Lebensweg. Unweigerlich erinnert wurde ich daran, als ich der Rücktrittsrede von Philipp Hildebrand zuhörte. Dass er nicht mehr sicher sein könne, nicht mehr nur als Lügner durchzugehen, bewog ihn, nach eigenen Angaben, zum Abgang an der Spitze der Schweizerischen Nationalbank.

Uebers Wochenende meldeten sich gleich zwei Politphilosophinnen zur laufenden Debatte. Katja Gentinetta in der “NZZ am Sonntag” und Regula Stämpfli im “Sonntag”. Weiss der Erwachsene Longchamp nun mehr, als das Kind vor 50 Jahren gelernt hatte?

Regula Stämpfli schreibt über die Politikerlüge. Das Thema ist beileibe nicht neu, aber in eine neue Aera gekommen, meint sie Die Lewinsky-Affäre von US-Präsident Bill Clinton habe die Wende gebracht, denn seither beherrschten Politiker die Lüge, ohne aus dem Amt ausscheiden zu müssen. Grund: Die öffentliche Wahrheitssuche focussiere auf das Wort statt auf die Zusammenhänge. Ganz generell, in der Mediendemokratie habe Oeffentlichkeit keine kritische Funktion mehr. Je mehr einer lüge, um so mehr ignoriere man das. Die grosse Lüge halten sich dank Macht, während die kleine an ihrer Ohnmacht scheitere.

Da, wo Stämpfli aufhört, beginnt Gentinetta (Artikel auf dem Web leider nicht allgemein greifbar). Basal sei die Rechtsordnung. Wer in der Oeffentlichkeit stehe, müsse sich darüber hinaus seiner moralischen Integrität bewusst sein. Uebertriebene Erwartungen an die Politik seien aber nicht angebracht. Zu den Errungenschaften des Rechtsstaates gehöre, Fehlverhalten zu benennen und zu bestrafen. Das sei nicht die Aufgabe des Mobs wie zu Zeiten vor der Französischen Revolution oder jetzt in Internetforen. Vor allem, wer selber nicht über jeden Verdacht erhaben sei, würde besser schweigen, setze sich anderfalls dem Verdacht aus, Revanche zu nehmen, was kein Rechtsstaat dulden könne.

Bei beiden Interventionen fällt zunächst nicht die Nähe zur Politik, sondern die räumlichen Distanz auf. Stämpfli lebt (seit langem) aus Brüssel, ohne die Schweiz ganz losgelassen zu haben. Gentinetta lebt ebenso lange in Lenzburg, erfuhr von den Ereignissen jedoch beim Besuch der Ausstellung über “Geld und Kunst” in Florenz. Beide bedienen sich nicht nur des Arguments, auch des geschichtlichen Beispiels. Bei Stämpfli sind es die aus der Zeitgeschichte rund um den Globus, während sich Gentinetta auf den Uebergang vom Spätmittelalter in die frühe Neuzeit im Venedig der Medici-Fürsten bezieht.

Dennoch, es überwiegen eher die Unterschiede. Hier die Liberale, die ihre Idee elegant mit dem Wort verficht, da die Feministin, die ihre Position in knallharte Sätze stanzt. Nirgends wird der Unterschied so deutlich wie bei der Bewertung des Staates! Für Gentinetta ist er typischerweise imperfekt, aber mit Potenzial zur Verbesserung, derweil er bei Stämpfli zum pervertierten System verkommen ist. Für mich als Politikwissenschafter wirkt beides etwas irritierend: Letztlich sind das streitbare Prämissen, die diskutiert gehören, nichgt aber als Rahmung für Deutungen oder Folgerungen unterstellt werden dürften.

Man würde sich ein Podium mit beiden Exponentinnen wünschen, denn gerade bei philosophischen Positionsbezügen überzeugt das Argument aus der Debatte, die nicht zeigt, wer recht hat, sondern mehr der komplexen Realität erfasst. Bis dahin bleibe ich bei meinem Kinderreim. Ausser dass ich gelernt habe, dass zwischen der individuellen Lüge und der (Un)Wahrheit in komplexen Gesellschaften ein erheblicher Unterschied besteht. Ob diese zur Wahrheitsfindung fähig ist und Remedur schaffen kann, bin ich mir aber nicht sicher geworden.

Claude Longchamp

Blau und rot stehen für Politik und Kommunikation als Schwerpunkte meiner Forschung

Meinen Vortrag von heute morgen kündigte ich als dreifach exklusiv an: denn es war der erste, einzige und damit auch der letzte mit (roter) Krawatte statt (blauer) Fliege. Das kam so.

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Bewusst ungewohnt: Claude Longchamp mit Krawatte

MIKA hiess die Organisation, vor der ich heute sprach. Das sind die Kommunikationsfachleute der Schweizer Armee, die bestrebt sind, Erfahrungen aus der Privatwirtschaft in die Armee zu transferieren, wobei die so Ausgebildeten ihre Erfahrungen wieder in die Zivilgesellschaft tragen.

Mir ging es um die Armee in der Mediengesellschaft: “Krisen, Köpfe und Kommunikation”, lautete der Titel meines Referates. Dabei ging es mir um die Weiterentwicklungen des Sozialen, das gegenwärtig um das Mediale erweitert wird. Ich sprach über Images, Gesamteindrücke, die nahe bei der Emotion sind, und Reputation, welche als Verhaltenserwartung einer Person oder Organisation gerade in der Mediengesellschaft vermehrt vorausgeht.

Das Material schöpfte ich aus systematischen Beobachtungen über die Armee aus den Jahren 2006 bis 2009, dem ereignisreichen Fenster, das mit dem Jungfrau-Unfall begann, durch die Tragödie auf der Kander beschleunigt wurde, zwischendurch vom Schiessunfall in Zürich-Höngg überschattet war, und im Fall Nef, dann Schmid endete. Zur Sprache kamen Medienanalysen wie auch Bevölkerungsbefragungen. Meinen Schluss widmete ich den Erkenntnissen für die Kommunikationswissenschaft aus dem Projekt einerseits, den Lehren für die PraktikerInnen, die Medienkampagnen ausgesetzt sind anderseits.

Zentrale These war, dass die Aktualität in der Mediengesellschaft volatiler denn je sei, und diese Aktualität die Reputation stresse. Diese könne so zwar gestärkt werden, aber auch Schaden nehmen. Ob sich das auf das basale Image mit seinen ziemlich festgefahrenen Stereotypen und bildhaften Vorstellungen auswirke, hänge vom Alltagsimage ab. Sei dies schwach ausgeprägt, wirkten sich Reputationsveränderungen direkt auf das Image aus, im Guten wie im Schlechten. Wenn es stark ausgeprägt sei, funktioniere es wie ein Trampolin, dass Schläge ausgleiche, Gegenschwünge mobilisiere und das Kurzfristige gegenüber dem Langfristigen ausbalanciere.

Die Diskussion dazu, vor allem, was das im Konkreten bedeute, war ganz anregend. Noch anregender war indes die Auseinandersetzung mit meinem verfremdeten Bild. Um nach einem intensiven Wahljahr zu zeigen, dass gfs.bern nebst Politanalysen auch Kommunikationsanalyse leistet, habe ich die Institutssymbole für beide Schwerpunktebereiche vertauscht. Statt blau, unserer Farbe für Politik, wählte ich Rot, das Signal für Kommunikation. Und statt der erwarteten Fliege trug ich eine Krawatte, wie das meine Nachfolger in der übergeordenten Projektleitung tun.

Für diese Irritation erhielt ich schon nach den ersten erklärenden Worten tosendem Appplaus.

Claude Lonbgchamp

Die BDP bleibt gefordert

Bei der anstehenden Diskussion zur Zusammensetzung des Bundesrates geht es um zweierlei: um den Machterhalt der Bisherigen, und um die Gestalt der Regierungsbildung für die Zukunft.

Uebers Wochenende ist in Sachen Bundesratswahlen einiges in Bewegung gekommen. Klar geworden ist, dass nicht nur die SP ihren 2. Sitz verteidigt und die BDP Eveline Widmer-Schlumpf weiterhin im Bundesrat haben möchte. Ihre Ansprüche bekräftigen haben die FDP und die SVP, die je 2 Sitze wollen. Damit ist der erwartete Konfliktfall angesagt.

Einer der 8 Ansprüche für 7 Sitze wird am 14. Dezember nicht eingelöst werden können: jener der SVP, mangels einer überzeugenden Kandidatur, jener der BDP, mangels Wählerstärke der Partei, jener der FDP, wegen den Wählendenverlusten oder jener der SP, weil die Ersatzwahl für Micheline Calmy-Rey zu letzt an der Reihe ist.

Exponiert ist vor allem Eveline Widmer-Schlumpfs BDP. Zwar geniesst die Magistratin Populärität im Wahlvolk; doch wählt dieses das Parlament, nicht die Regierung. Und ihr Ruf als Finanzministerin ist unbestritten. Indes, die gut 5 Prozent ihrer Partei reichen alleine nicht aus, um einen Anspruch im Bundesrat zu begründen.

Für die BDP stellen sich aus meiner Sicht die folgenden Fragen:

. Wiederwahl der eigenen Bundesrätin und damit Sicherung des Status als Regierungspartei;
. Demonstration der Wählendenmacht in der Konkordanz und
. Wachstumschancen als Partei

Diskutiert werden aktuell 3 Szenarien: die Fusion, wie sie von der CVP Aargau ins spiel gebracht wird, die Fraktionsgemeinschaft, wie sie die GLP wünscht (und die SP unterstützt), und die Koordination der Mitte in einer Arbeitsgruppe, wie sie der BDP Schweiz vorschwebt.

Klar ist, dass die vier oben genannten Ziele mit einer Fusion nicht umfassend realisiert werden können. Die neue Kraft hätte keine Chance, sich zu bewähren und auf diesem Wege zu einer relevanten Partei aufzusteigen. Da schimmert der Wunsch der CVP, einen unliebsamen Partner zu inkorporieren zu stark durch,

Klar ist auch, dass beim Alleingang der BDP notfalls der Sitz im Bundesrat wegfällt. Das würde der Identität der Partei schaden, selbst wenn das Wachstumspotenzial genutzt werden könnte. Denn ohne sich vor der GPS platzieren zu können wäre der Anspruch, eine Regierungspartei zu sein, nicht einlösbar.

Es bleibt die Möglichkeit einer Franktionsgemeinschaft auf Bundesebene – und zwar als Zentrumsfraktion mit CVP und EVP. Zusammen käme man auf genau 20 Prozent und personell wäre man aller Voraussicht nach die zweitgrösste Fraktion. Der Anspruch auf zwei Sitze könnte problem eingefordert werden. Er liesse sich auch im Rahmen der Konkordanz begründen.

Die BDP macht es sich meines Erachtens etwas zu einfach, wenn sie alleine auf den Status Quo setzt. Das ist zwar im Normalfall das wahrscheinlichste und auch beste Szenario. Angesichts der Uebergangsphase, in er sich die Regierungsbildung seit 2003 befindet, handelt es sich nur um eine Verlängerung der Probleme. Denn benannt werden muss nicht nur, was an diesen 14. Dezember geschehen soll, sondern auch, was die Zukunft des Regierungssystems der Schweiz betrifft. Da gibt es nebst dem Machterhalt auch die Rückkehr zur alten Zauberformel und die Arbeit an einer neuen Formel, die der veränderten Lagerbildung Rechnung trägt. Ohne Arithmetik kommt man da nicht aus, nur mit Rechnerei allerdings auch nicht.

Die Fraktionsgemeinschaft auch nationaler Ebene bietet verschiedenen Beteiligten gute Aussichten: Der BDP auf Kantonsebene frei zu bleiben und damit auch wachsen zu können, bei gleichzeitiger Sicherung des Status als Regierungspartei auf Bundesebene; der Allianz, welche die Wahl von Eveline Widmer-Schlumpf ermöglichte, einer neuen Konstellation für Bundesratswahlen zum Durchbruch zu verhelfen, was zu einer Neudefinition der Konkordanzspielregeln führen könnte.

Claude Longchamp