«Politik wird zum Gadget»

Anbei das Interview zu Social Media in Schweizer Wahlkämpfen, das Daniel Graf und Simone Wasmann von der Agentur Feinheit mit mir führten.

Herr Longchamp, haben sich mit Social Media ihre Mediengewohnheiten verändert?

Mein Medienkonsum ist mit Twitter drastisch zusammengebrochen. Für klassische Medien wende ich nur noch 20 Minuten pro Tag auf, genau so viel, wie für das Lesen von Tweets. Dazu kommt ab und zu die Tagesschau.

Gehören Sie zu den «Early Adopters»?

Ich habe mich nie zu den Pionieren gezählt. Meine Affinitäten liegen bei Blogs und Twitter. Auf Facebook habe ich nie die Kurve gekriegt und keinen Account mehr.

Als Blogger zählen Sie aber zur alten Garde.

Ich bin 2004 eingestiegen und betreibe heute, neben dem GfS-Blog, die beiden Blogs «Stadtwanderer» und «Zoonpoliticon». Bevor sich Facebook etabliert hat, gab es auf den Blogs eine rege Diskussionskultur mit tagelangem Schlagabtausch. Heute ist da tote Hose. Die Debatten haben sich weitgehend auf Social Media verlagert.

Welche Schweizer Blogs sind für Sie relevant?

Im Gegensatz zu Twitter gibt es für mich keine «must reads» unter den Schweizer Blogs. Was ich jeden Tag lese, sind Blogs aus dem Ausland, wie diejenigen von Ezra Klein oder, während Wahlen, von Nate Silver. Sie gehören für mich zu den genialsten und eigenständigsten Quellen.

Was hat Sie an Twitter begeistert?

Ich schätze es, auch von Medienschaffenden, die Quellen im Original lesen zu können. Ich fühle mich via Twitter direkter und quellennaher informiert, als wenn ich eine Tageszeitung lese, besonders was die Auslandberichterstattung betrifft. Der US-Wahlkampf war für mich ein Beispiel dafür.

Haben Journalisten das Rennen gegen Twitter verloren?

Die Beschleunigung würde ich dem Internet an sich zurechnen. Das klassische Newsgeschäft ist sicher Geschichte. Gleichzeitig kursieren auf Twitter zu viele «Enten», die nicht immer sofort entlarvt werden. Aus diesem Grund bleibt die Glaubwürdigkeit im Vergleich zur Medienberichterstattung gering.

Welche Rolle spielen Social Media im Campaigning in der Schweiz?

Nationale Wahlkämpfe waren immer Quantensprünge in der politischen Kommunikation. 1999 spielte das Internet erstmals eine Rolle: Pioniere hatten eine Website. 2003 kamen Blogs dazu. 2007 stand im Zeichen von Youtube, auch wegen der Provokationsstrategie der SVP. Erst bei den letzten Wahlen kamen Plattformen wie Facebook und Twitter zum Einsatz.

Heute gehört Twittern zum Tagesgeschäft im Bundeshaus.

Ja, aber die Reichweite bleibt beschränkt. Es gibt eigentlich nur drei bis vier Politikerinnen und Politiker, die ein breites Publikum ansprechen: Alain Berset (7432 Follower), Cedric Wermuth (7208) und Natalie Rickli (6686), gefolgt von Christian Levrat (4059). Dahinter kommt ein breites Feld, dass zielgruppenspezifische Wirkung erzielt, etwa bei Medienschaffenden oder Multiplikatoren in Partei, Verbänden und Bewegungen.

Warum verhallen die Politiker-Tweets oft ungelesen?

Da macht sich der Föderalismus bemerkbar. Mit Ausnahme des Bundesrates sind die meisten Parlamentarier nur in ihren Kantonen bekannt. Deshalb sind nationale Köpfe in der Schweiz rar. Nur so ist erklärbar, warum Bundesrat Berset mit 68 Tweets seit November 2010, die er vermutlich nicht alle selbst schreibt, einen Spitzenplatz belegt.

Haben sich die politischen Spielregeln bereits geändert?

Die bekannte Harvard-Wissenschaftlerin Pippa Norris hat zur Jahrtausendwende einen bahnbrechenden und seither vielfach zitierten Artikel geschrieben, der unter anderem auf diese Frage Bezug nimmt. Drei ihrer Thesen nehmenden den Umbruch durch Social Media, den wir auch in der politischen Kommunikation beobachten können, vorweg. Erstens werden erfolgreiche Kampagnen vermehrt zentral organisiert, aber dezentral ausgeführt. Zweitens wies Norris darauf hin, dass Wahlkampf zur Dauerbeschäftigung wird. Drittens nimmt die zielgruppenspezifische Kommunikation neben der ritualisierten, gouvernementalen Information mehr Raum ein.

Ist dieser Einfluss messbar?

Die Wirkung von Online-Kampagnen ist in der Schweiz begrenzt. Zu den Nationalratswahlen 2011 gibt es eine Studie, die aufzeigt, dass Social Media als Erfolgsfaktor kaum eine Rolle gespielt hat.* Andererseits ist die Internet-Nutzungsquote der Wählenden, die an Nationalratswahlen gewählt haben, tief. 2003 waren es erst 9%, 2007 dann 14% und 2011 stieg die Zahl sprunghaft auf 24%. Mit dieser Reichweite sind wir meilenweit vom Schweizer Fernsehen oder den Pendlerzeitungen entfernt.

Wird die Wirkung von Online-Kampagnen also masslos überschätzt?

Solche Studien bieten nur einen eingeschränkten Blickwinkel. Wahlkämpfe sind heute keine zeitlich beschränkten Kampagnen mehr, sondern werden zum Dauerzustand. Wer kurzfristig denkt, baut mit Kampagnen meist nur eine Reizfläche, mit der sich die Medien und die Gegner, jedoch nicht die eigenen Unterstützer beschäftigen.

Verändert sich der Stil der politischen Kommunikation?

Politik wird gerade mit Facebook zum persönlichen «Gadget». Man fühlt sich verbunden und möchte auch emotional bedient werden. Die Personalisierung und Emotionalisierung ist ein allgemeiner Trend in den Medien, den beispielsweise Kurt Imhof als «Boulevardisierung» des Qualitätsjournalismus kritisiert hat. Ausgehend von den USA zeigt sich eine weitere Entwicklung: Die Äusserungen über Politik und Politiker fallen auf Social Media deutlich negativer aus. Es fehlt das «Gatekeeping» wie bei den traditionellen Medien.

Wieviel Geld wir bei den nächsten Wahlen für Online ausgegeben?

Ich schätze, dass die Ausgaben für Social Media heute im Bereich von 10 Prozent der Budgets liegen. Für 2015 werden fundamentale Veränderungen ausbleiben. Das Plakat wird – wie das Inserat für Sachabstimmungen – das wichtigste und teuerste Wahlkampfmedium bleiben. Das braucht recht fix rund 50 Prozent der Kampagnenbudgets, nur über den Rest wird gestritten.

Fehlen künftig die Mittel für Online-Kampagnen?

Nein, denn politische Werbung verzeichnet ein gigantisches Wachstum. Die Budgets erhöhen sich in jedem Wahlzyklus um 50 bis 100%. Die SVP gibt mehr als 1 Million Franken aus, nur um eine Abstimmungszeitung in alle Haushalte zu verschicken. Geld für Innovationen ist vorhanden, wenn auch nicht ausschliesslich für Social Media.

Werden die Wahlen 2015 auf dem Smartphone entschieden?

Fürs Handy spricht die Verlagerung der Aufmerksamkeit, wenn es um Tempo, Verbreitung und Kosten geht. Trotzdem bleibt die Schweiz ein Land, in dem die Zeitungen die politische Diskussion beherrschen.

* Erich Wenzinger: Wahlkampf 2.0. Politische PR im Social Web: Nutzung und Wirkung. Eine inhalts-analytische Untersuchung anhand der Zürcher Nationalratswahlen 2011

Die gestiegene Volatilität als Kennzeichen des neuen Wahlverhalten in Liechtenstein

Erstmals in der Geschichte des Liechtensteiner Landtages ziehen Vertreter von vier Parteien ins Parlament ein. Zu den bisherigen Parteien, der FBP, der VU und der FL, gesellen sich „Die Unabhängigen“ (DU).

Eigentliche Wahlsiegerin ist gemäss vorläufig amtlichen Wahlergebnis die FBP mit genau 40 Prozent der Stimmen, die neu die stärkste Partei in Liechtenstein ist, gefolgt von der VU mit 33,5 Prozent. Die DU schafft auf Anhieb 15,3 Prozent, während die FL auf 11,1 Prozent kommt. Die Wahlbeteiligung liegt bei 79,8 Prozent.

Gegenüber der letzten Landtagswahl im Jahre 2009 bedeutet dies zunächst eine verringerte Teilnahme von rund 5 Prozentpunkte. Anteile verloren haben die beiden grossen Parteien, am meisten die VU (-14,1%), gefolgt von der FBP (-3,5%). Grosse Gewinne setzte es heute für die DU ab, die es bei den letzten Wahlen noch gar nicht gegeben hatte. Entstanden ist sie durch die Abspaltung von Harry Quaderer von der VU. Mit einem Plus von 2,2% leicht zulegen konnte die FL.

Wichtigstes Kennzeichen des Wahlverhaltens in Liechtenstein 2013 ist die gestiegene Volatilität. Sie hat schon in den letzten Jahren zugenommen, erreichte neun aber einen neuen Höhepunkt. Ausdruck der veränderten Position der beiden traditionellen Volksparteien ist, dass ihr Monopol auf Volksvertretung im Parlament nun definitiv gebrochen ist. War es bisher die FL, die namentlich in der bildungsstarken Mittelschicht Liechtensteins punkten konnte, kommt jetzt die DU hinzu, die bei jüngeren Wählerenden Stimmen gemacht haben dürfte. Damit haben die beiden Traditionsparteien, die leicht rechts des Zentrums politisieren, wohl links wie rechts im politischen Spektrum Konkurrenz bekommen.

Nicht bestätigt hat sich die medial verbreitete Annahme, die Abspaltung der DU von der VU werde das bekannte ProtestwählerInnen-Potenzial, das man am ehesten bei der FL ortete, spalten, sodass die beiden Kleinparteien an der Wahlhürde von 8 Prozent scheitern könnten. Vielmehr dürfte die Möglichkeit, im neuen Landtag nicht mehr beteiligt zu sein, die FL-Wählenden besonders zur Teilnahme motiviert haben, während die DU in erster Linie bei den (neuen) WechselwählerInnen gewählt wurde konnte. Die überdurchschnittlichen Verluste der VU beispielsweise in Eschen und Triesen, aber auch der FBP in Ruggell, Mauren und Gamprin, die mit überproportionalen Gewinnen der DU einher gehen, sind ein klares Zeichen für die aktuellen Tendenzen in der Wählerschaft der beiden grossen Volksparteien, die in der Unzufriedenheit mit der bisherigen Politik ihre Ursache haben dürften. Zwar konnte sich Liechtenstein mit seiner Weissgeldstrategie vom internationalen Druck befreien, innenpolitische nagen aber Defizite im Staatshaushalt und in den Pensionskassen an der Glaubwürdigkeit der etablierten Kräfte.

Im neuen Landtag stellt die FBP mit 10 Mandaten (-1) neu die stärkste Vertretung; hinter ihr liegt die VU mit 8 Abgeordneten (-5), gefolgt von der DU mit 4 (+4) und der FL mit 3 (+2). Noch ist die Regierungsbildung offen. Die besten Karten für die Regierungsbildung hat aber die FBP unter dem bisherigen Polizeichef Adrian Hasler, und am wahrscheinlichsten erscheint aber eine Neuauflage der grossen Koalition, diesmal allerdings mit umgekehrten Vorzeichen.

Wie auch immer, die erhöhte Bereitschaft, mit bisherigen Parteiloyalitäten zu brechen, beschränkt auch die nochmals verringerte Beteiligung zu den Herausforderungen, denen sich die Parteien stellen müssen. Denn diese haben zu einer bisher nicht gekannten Pluralisierung der Landtagsabgeordneten geführt. Rein rechnerisch sind die beiden grösseren Parteien nicht mehr sicher in der Mehrheit zu sein, wenn sie sich nicht einigen, denn beide können durch eine Allianz aller Konkurrenten überstimmt werden. In den letzten vier Jahren hatte die VU (bis zum Ausscheiden von Quaderer) die absolute Mehrheit auf sicher, während es für die FBP auch mit der FL nicht zur Mehrheit reichte.

Claude Longchamp

Erstanalyse der Stadtberner Parlamentswahlen 2012

“Der Bund” interviewte mich eben zu meiner Erstanalyse der Stadtberner Parlamentswahlen 2012. Hier das Resultat.


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Nach den Exekutivwahlen stand RGM als klare Siegerin da. Bei den Stadtratswahlen ist das Bild differenzierter. Wie ändern sich die Kräfteverhältnisse im Stadtparlament?
Die Wahlen in den Stadtrat zeigen zwei Trends: Erstens, die Polarisierung, zweitens, die neuen Mitteparteien. Zu ersterem zählt, dass SP und SVP, beschränkt auch das GB, wähler- und sitzemässig zulegen. Für den Trend zu den neuen Mitteparteien sprechen vor allem die Gewinne von GLP, beschränkt auch von der BDP. Ein wichtiger Teil der Veränderungen stammt aus den drei Lagern: So verliert die FDP, was die SVP gewinnt, in der Mitte wird die CVP schwächer und RGM hat gewisse Verluste bei der GFL zu beklagen. Zudem zieht mit der AL eine neue linke Kraft ins Parlament, die nicht zu RGM gehört. Gesamthaft wurden die Kräfte in der Mitte leicht gestärkt, wie man das erwartet hatte, aber auch die Linke ist nach den Wahlen etwas stärker als davor. Die Mehrheitsverhältnisse sind damit nicht wesentlich anders als zuvor. Entscheidend ist und bleibt, wie sich die ParlamentarierInnen der GFL positionieren.

Die SVP steht neu als zweitstärkste Kraft da, die Rechte lässt am rechten Rand aber Federn. Bei der Linken legt die SP zu, auf Kosten der Splitterparteien. Woher rührt diese Tendenz zu den moderaten Kräften?
Ob man die SVP wirklich als moderat bezeichnen kann, wage ich zu bezweifeln. Was sich rechts aber abzeichnet, ist eine Konzentration auf zwei Parteien, denn verloren haben die kleinen Gruppierungen. zu viel würde ich da nicht hinein interpretieren, weil die Verluste an Wähleranteilen sind geringer als es die Sitzverluste vermuten lassen. Hauptgrund hierfür dürfte vor allem die Mobilisierung sein, denn die Beteiligung war ja tiefer als vor vier Jahren. Auch links bleiben die vermuteten Trends eher bescheiden: das GB gewinnt, gleichzeitig verliert die JA!. Gleiches zeigt sich bei der GBP, die einen Sitz weniger hat, dafür gibt es neu die AL. Hier kann man durchaus Wechselwählen aufgrund der KandidatInnen oder gewisser Themen vermuten.

Mit dem starken Ergebnis der GLP wird die Mitte insgesamt gestärkt. Rückt man damit weiter vom bipolaren Links-Rechts Schema ab und spielt die Mitte künftig eine entscheidende Rolle bei der Bildung von Mehrheiten?
Im längerfristigen Vergleich hat sich das Parteiensystem der Stadt Bern in den letzten 20 Jahren zweimal verändert: 1992, als RGM entstand, und die SP mit dem Bündnis ihre isolierte Position im bürgerlichen Bern durchbrechen konnte. Seither wird Bern von links regiert, mit einer vorherrschenden Polarisierung zwischen den beiden weltanschaulichen Lagern. Mit 2008 zeichnete sich ab, dass das bürgerliche Lager in Auflösung begriffen ist, sich auf der einen Seite eine Mitte formiert, auf der anderen ein rechtsbürgerlichen Bündnis. Die Akzente haben sich da Richtung Mitte verschoben, und innerhalb der Mitte sind heute BDP und GLP gleichauf. Ob daraus ein schlagkräftiges Lager wird, muss sich noch weisen. Im Moment würde ich eher von einer Allianz aus vier Parteien mit einem Gemeinderat sprechen, die sich sachpolitisch auf die eine oder andere Seite entscheidet und nicht gesichert als Block auftreten kann.

Die Grünen Parteien haben insgesamt zugelegt. Verbessern sich damit die Chancen auf eine geeinte grüne Kraft?
Das gilt letztlich nur arithmetisch. Grüne Parteien haben knapp 3 WählerInnen-Prozente hinzugewonnen, und sie stellen zwei ParlamentarierInnen mehr. Doch ist die Einigkeit damit nicht grösser geworden, eher umgekehrt: Die GLP ist im Mitte-Lager, die GBP und die AL sind ausserhalb von RGM und GB und GFL im Regierungslager harmonieren nicht reibungslos. Zusammen repräsentieren die verschiedenen grünen Parteien genau einen Drittel der Wählenden, und man wäre damit grösser als die SP. Doch die strategisch relevanten Gemeinsamkeiten in thematischen und personellen Frage sind gering.

Die SP hat auf nationaler Ebene ihren langjährigen Sinkflug 2010 auffangen können. Inwiefern ist ihr Abschneiden bei den Berner Gemeindewahlen richtungsweisend für die nationalen Wahlen 2015?

Überzeichnen würde ich die Momentaufnahme nicht, denn der Stadt-/Landgraben in Sach- und Parteifragen geht mitten durch die SP durch. In den grossen Städten hält sie sich gut oder legt zu, auf dem Land verliert sie eher. Für die SP wird massgeblich sein, ob sie ihren Schub aus den Grossstädten auf weitere, mittelgrosse Zentren übertragen kann oder nicht.

Die Wahlbeteiligung bei der Stadtratswahl lag bei 37,6 Prozent – fast 6 Prozent tiefer als 2008. Worauf ist das zurückzuführen und wem hat es geholfen?
Hauptgrund sind die Stadtpräsidentenwahlen. Ihnen fehlte diesmal das Spannungsmoment. Alex Tschäppät war in der Mitte nicht wirklich bestritten, und die Konkurrenz war zu schwach, um einen ernsthaften Anspruch auf das Amt anmelden zu können. Damit fehlte die Mobilisierungswirkung, wie sie 2008 mit dem Kampf zwischen Tschäppät, Hayoz und Hofer bestand. Zudem kam die denkbare Wendestimmung nicht auf. Anders als 2008 erneuerte sich Rot-Grün diesmal personell, während die Querelen im bürgerlichen Bündnis um die Nominationen für Gemeinderat und Stadtpräsidium so stark waren, dass eine programmatische Alternative nicht wirklich sichbar wurde. Ohne Machtansprüche und wirklichen Personen- und Sachentscheidungen mobilisieren Wahlen seit einiger Zeit nicht mehr.

Claude Longchamp

Neues Tierseuchengesetz vor der Annahme

Aufgrund der definitiven Resultate in und Hochrechnungen aus den Kantonen ist es sicher, selbst wenn da und dort noch gezählt wird: Das neue Tierseuchengesetz wird in der Volksabstimmung im Verhältnis von zirka 2:1 angenommen.

Bester Prädiktor für die Ablehnung des TSG: SVP-Wählenden-Anteil 2011

Die Grafik zeigt die heutige Ablehnung des Tierseuchengesetzes, gespiegelt durch den SVP-Wähleranteil bei den Nationalratswahlen 2011 (Grafik anclicken, um sie zu vergrössern)

Das vorerst beste Resultat erhielt das Tierseuchengesetz in der Waadt; knapp 89 Prozent stimmen ihm hier zu. Das Gegenteil findet sich in Uri, wo fast 58 Prozent dagegen votierten.
Das Referendum hatte eine ausserparlamentarische Gruppierung ergriffen, die von keiner Partei und keinem Verband Unterstützung erhielt. Sie sammelte bäuerliche Kreise, aber auch Impfgegner und GlobalisierungskritikerInnen. In der Folge schloss sich die SVP den Opponenten an, obwohl die Fraktion das Gesetz im Parlament noch einstimmig befürwortet hatte. Den Zug, der so hätte in Fahrt kommen können, stoppte der Schweizerische Bauernverband, der ein Ja zu neuen Gesetz empfahl.

Nun zeigt die Erstanalyse, dass der Wähleranteil der SVP bei den letzten eidgenössischen Wahlen tatsächlich der beste Prädiktor für die Ablehnung des Tierseuchengesetzes ist. Der Grad an Opposition folgt in erster Linie dem SVP-Wählenden-Anteil bei den letzten Wahlen. In Kantonen wie Waadt und Genf fällt er etwas geringer aus, in allen andere übertrifft er den Prozentwert der SVP bei den Nationalratswahlen 2011 sogar noch etwas.

Typisch für das Konfliktmuster ist auch das Aufschimmern eines Stadt/Land-Graben. Die Ablehnung des Tierseuchengesetzes korreliert positiv mit dem Anteil Personen, die in ländlichen Gebieten leben resp. im primären Erwerbssektor tätig sind. Beschränkt helfen auch die Sprachregionen, das Resultat zu erklären. Entscheidend ist dies aber nicht, da alle Sprachregionen mehrheitlich dafür votierten.
Man kann das auch so zusammenfassen: Gegen das Tierseuchengesetz mobilisiert wurden die bäuerliche Schweiz resp. die ländlichen Gebiete. Die Sammlung hierzu beförderte die SVP, leicht erweitert durch politische Kreise im nahen Umfeld.

Nicht übersehen werden darf jedoch die geringen Stimmbeteiligung. Sie dürfte unter 30 Prozent liegen. Mehr dazu später.

Claude Longchamp

Bern wählt – das Stadtparlament, die Stadtregierung und das Stadtpräsidium

Bleibt Alexander Tschäppät Berns Stadtpräsident? Kommt es zu einem Mehrheitswechsel im Gemeinderat, der Stadtberner Exekutive? Und wie stark wird das neue Zentrum im Stadtrat, dem Stadtparlament? Das beantworten die Berner und Bernerinnen morgen, wenn sie ihre Behörden für die kommenden vier Jahre bestellen.


Alle wollen in die Stadtregierung – Karikatur zur Berner Wahl 2012 (via Wahlkampfblog)

Die bisherigen Stärkenverhältnisse
Alexander Tschäppät ist bis zur Wahl sicher Berns aktueller Stadtpräsident. Er steht einer mehrheitlich rotgrünen Regierung vor; die SP hat 2 Sitze, das Grüne Bündnis einen, genauso wie FDP und CVP. Im Berner Stadtparlament sind die Mehrheitsverhältnisse etwas offener, denn nach der letzten Wahl hatte sich eine Mitte gebildet, zu der heute frühere Exponenten des linken wie rechts Pols zählen. Die Fraktionen des RotGrünMitte-Bündnisses kommen seither auf 30 Sitze, plus 3 linke Fraktionslose. Die Rechte bringt es auf 19 Sitze plus 1 rechter Fraktionsloser. Die Mitte wiederum vereinigt 17 Sitze, und es verbleibt ein Parteiloser. Nicht eindeutig ist die Zuordnung von Grüner Freien Liste und Evangelischer Volkspartei, die eine gemeinsame Fraktion bilden, welche die Mehrheit ausmacht, wenn sie mit dem linken, resp. mit dem rechten Ratsteil stimmt.

Blöcke und Personen
Trotz 3 Rücktritten im Gemeinderat, Spannung kam vor den Wahlen 2012 nicht auf. Mit einer hohen Wahlbeteiligung ist nicht zu rechnen.
Nach Diskussionen fand sich RGM wieder zusammen und schickte mit Bern-hoch-4 ein Quartett für die fünf Regierungssitze ins Rennen. Einzig bisheriger ist Stadtpräsident Alex Tschäppät. Aussichtsreiche Kandidatinnen sind die bekannten Nationalrätinnen Ursula Wyss (SP) und Franziska Teuscher (GB).
Die Mitte, angeführt vom bisherigen CVP-Gemeinderat Reto Nause, nominierte breit; es kandidieren 5 Personen; 2 von der CVP und je eine von der BDP, GLP, EVP.
Auch auf der bürgerlichen Liste bewerben sich 5 KandidatInnen, 3 von der SVP und 2 von der FDP.
Ambitionen fürs Stadtpräsidium haben 3 Männer angemeldet: Der Bisherige Alex Tschäppät von der SP; Herausforderer sind Alexander Schmidt von der FDP und Beat Schori aus den Reihen der SVP.

Ein Vor-Wahlkampf voller Tücken
Interessanter als der ausgesprochen themenarme Wahlkampf war das Nominierungsverfahren, insbesondere für die Exekutive. Von rechts her hätte man gerne wie 2008 ein gemeinsames bürgerliches Päckli geschnürt, um die Mehrheit zu erringen. Doch die CVP mochte nicht mehr mitmachen und zimmerte die neuen Mitte-Allianz. Zwischen FDP und SVP entstand in der Folge ein Gerangel um die Führung im verbliebenen bürgerlichen Tandem, nicht zuletzt wegen der Kandidatenauswahl, die bei der SVP zur Posse verkam. Aufgewühlt wurde die Situation schliesslich durch den Vorschlag aus der Mitte, für das Stadtpräsidium zu kandidieren. Dies führte umgehend zu weiteren Vorschlägen aus SVP- und FDP-Kreisen, worauf BDP verzichtete und FDP und SVP mit je einer Kandidatur da standen, die sich schon im eigenen Lager konkurrenzieren und kaum Aussichten auf Mehrheiten haben.

Szenarien der Wahlen
Wenns ums Stadtpräsidium geht, rechnet man in Bern allgemein mit der Wiederwahl von Alex Tschäppät. Selbst wenn er mit seinem Lebenswandel bisweilen aneckt; dank seiner Popularität ist er in einer Majorzwahl nur schwer zu schlagen. Auch diesmal war sein Auftritt um Längen besser als der seiner Konkurrenten, sowohl persönlich als auch werberisch. Die höchste denkbare Hürde für den Stadtpräsidenten ist seine Wahl in den Gemeinderat. Denn es ist gut möglich, dass Ursula Wyss und Franziska Teuscher von der frauenfeundlichen RGM-Wählerschaft top gesetzt werden. Sollte es in der Proporzwahl wider Erwarten nur für 2 der 5 Sitze im Gemeinderat reichen, könnte Tschäppät als Ueberzähliger ausscheiden, selbst wenn er die Wahl zum Stadtpräsidenten gewinnen würde. Denn der Einzug in den Gemeinderat ist in Bern Voraussetzung, um diesen auch präsidieren zu können.
Sollten alle drei Bewerber für das Stadtpräsidium Gemeinderäte werden und bei der Stadtpräsidentenwahl keiner das absolute Mehr erreichen, kommt es am 13. Januar 2013 unter den drei Kandidaten zu einer Stichwahl. Sollte es keiner von ihnen schaffen, Mitglied der Stadtregierung zu werden, findet am gleichen Datum ebenfalls zu einer Stichwahl, allerdings wären nur noch die 5 gewählten GemeinderätInnen wahlberechtigt.

Berner Wahlen als Ausdruck des urbanen Wählens in der (Deutsch)Schweiz
Die Ausgangslage für die Gesamterneuerung der Stadtberner Behörden gleicht jener in anderen Grossstädten der deutschsprachigen Schweiz. In den Regierung legt Rotgrün dank geschickter Personalplanung den Takt vor. Die Rechte ihrerseits bekundet Mühe, Allianz zu schliessen, und es mangelt an regierungsfähigen Kandidaten. Immer deutlicher schiebt sich zwischen diese Pole ein buntes Gemisch aus verschiedenen Parteien, das namentlich in den Parlamenten von Belang ist. Deshalb stehen sich bei der Berner Wahl 2012 erstmals drei Blöcke gegenüber.
Der Wandel setzte 1992 ein, als die SP, traditionell Berns stärkste Partei, im bürgerlichen Bern aber isoliert, dazu überging, ein Bündnis aus roten, grünen und Mitte-Parteien zu schmieden. Damit kippten die Mehrheiten im Stadtrat, aber auch im Gemeinderat. Für ihren Strategiewechsel wurde die SP nicht nur belohnt. Zwar stellt sie seither stets den Stadtpräsidenten, doch verliert sie seit 2000 WählerInnen an das Grüne Bündnis auf der linken Seite und an die Grüne Freie Liste rechts von ihr. Verstärkt wurde der Umbau 2008, als die BDP, eine Abspaltung der SVP, genauso wie die GLP, eine Abtrennung von den Grünen, ins Stadtparlament einzogen und mit ihren WählerInnen-Stärken wesentliches zur Bildung der neuen Mitte beitrugen. Die kommende Legislatur wird zeigen müssen, ob daraus eine schlagkräftigen Allianz wird, welche mit eigenen starken Personen die polarisierte Politik mehr als nur fallweise durchbrechen kann.
Bisher sind Bemühungen in diese Richtung in der Regel daran gescheitert, dass vor allem die rotgrünen Parteien die Zeichen der urbanen Politik konsequenter als alle anderen erkannt haben: ohne Frauen in Spitzenpositionen und bei Nominationen für Regierungssitze, aber auch ohne familienfreundliche Politik kann man heute in Grossstädten keine Mehrheiten erringen. Die Rechte hat sich da kaum verändert, die Mitte ist dabei, sich zu wandeln. Doch zeichnen sich jetzt schon die Konturen der nächsten Wahl ab: 2016 dürfte es um die Nachfolge von Alex Tschäppät gehen, für die sich dannzumal regierungserfahrene Politikinnen aus dem rotgrünen Lager jetzt schon in Stellung bringen!

Claude Longchamp

PS: Resultate morgen über Stadt Bern

Vor einer rekordverdächtigen Abstinenz bei der Volksabstimmung über das Tierseuchengesetz

Der Kanton Genf zählt als einziger Stand Tag für Tag die briefliche Stimmbeteiligung aus; er ist auch für die nationalen Teilnahmewerte zum eigentlichen Trendkanton geworden.

Heute nachmittag haben im Kanton Genf 27,5 Prozent der Stimmberechtigten ihre Stimme zur einzigen eidgenössischen Volksabstimmung abgegeben: ein ziemlich einmalig tiefer Wert. Die Extrapolation bei frühere Abstimmungen spricht für eine finale Stimmbeteiligung im Kanton Genf von rund 30 Prozent.
Nun sind die Teilnahmewerte im Kanton Genf fast konstant höher als gesamtschweizerisch. Langfristig beträgt die Differenz 4-5 Prozent, allerdings mit einer recht erheblichen Schwankung. Eine gesamtschweizerische Beteiligung von weniger als einem Drittel ist damit wahrscheinlich, ein von unter 30 Prozent möglich.

Die 10 fakultativen Referenden mit der tiefsten Stimmbeteiligung in der Schweizer Abstimmungsgeschichte

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Der bisherige Tiefstwert für die Teilnahme an einer eidg. Volksabstimmungen stammt aus dem Jahr 1972, als es um den Schutz der Währung und die Stabilisierung des Baumarktes ging. Er lag bei 26,7 Prozent. Begründen liess er sich mit der Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts, die vorübergehend zu einer geringeren Beteiligung führte. Dafür spricht auch, dass gleich drei weitere rekordnahe Tiefstwerte in den ersten 4 Jahren nach der Erweiterung des Männer- auf das Erwachsenenstimm- und -wahlrechts fallen.
Im 21. Jahrhundert sind ganz so tiefe Beteiligungswerte etwas seltener geworden. Unter 30 Prozent waren sie insgesamt noch drei Mal: 2003 bei der Anpassung der kantonalen Beiträge an die Spitalbehandlungen, am gleichen Tag bei der Einführung der allgemeinen Volksinitiative und 2006 beim Bildungsartikel.

Keine dieser Vorlagen interessierte wirklich – keine wurde auch abgelehnt. Indes, mit Ausnahme der Spitalfinanzierung handelte es sich um Entscheidungen zu weitgehend unbestrittenen obligatorischen Referenden.
Stellt man auf die fakultativen Referenden (um das es sich beim Tierseuchengesetz handelt) ab, kommen ganz so tiefe Teilnahmewerte nicht vor. Das hat damit zu tun, dass es zu einer minimalen Polarisierung kommt, die sich entsprechend beschränkt vorteilhaft auf die Mobilisierung auswirkt.
Der Ausgang ist bei solchen Abstimmung in vergleichbarem Masse offen, wie bei allen fakultativen Referenden. Denn es gibt bei tiefer Beteiligung sehr wohl Fälle, die mangels Debatte glatt durchgingen; die Anpassung der kantonalen Beiträge an die Spitalfinanzierung aus dem Jahre 2003 stehen mit einem Ja-Anteil von 77,4 Prozent dafür. Ebenso existieren auch Beispiele, bei denen die Referendumsführer die Mehrheit hinter sich scharen konnten. So fiel das Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz 1996 bei 31 Prozent Beteiligung mit 61 Prozent Nein-Stimmen exemplarisch durch.

Für den morgigen Abstimmungssonntag lohnt es sich, sicherheitshalber von 2 Szenarien auszugehen: von einer Meinungsbildung, bei der sich Unentschiedene auf beide Seiten verteilen und das neue Tierseuchengesetz durchgehen dürfte, und von einem Kippmomente zugunsten der Opponenten, bei dem das Desinteresse in eine finale Ablehnung mündet.

Uebrigens, die SRG-Medien führen morgen keine Hochrechnung zur eidgenössischen Volksabstimmung durch; die Tagesschau von SRF berichtet um 16 Uhr in einer Spezialsendung über das Ergebnis zum neuen Tierseuchengesetz.

Claude Longchamp

Parteiparolen und ihre Unterstützung sagen mehr über die Konkordanz aus, als man bisher meinte

Ueber 11 eidgenössische Vorlagen hat die Schweiz innert Jahresfrist nach den Parlamentswahlen entschieden. Eine Analyse der Parteipositionen und der Mobilisierungsfähigkeit grösserer Parteien stellt dem Funktionieren der Konkordanz in Sachfragen keine gute Bilanz aus.

Bis zuletzt hielt die Parteispitze FDP an ihrer Ja-Parole zur haushoch abgelehnten Krankenversicherungsreform „Managed Care“ fest. 72 Prozent ihrer eigenen WählerInnen, die sich beteiligten, stimmten nicht nur gegen die Vorlage; sie waren auch gegen die Parteiparole. Und 67 Prozent der Wählerschaft nahmen an der Volksabstimmung erst gar nicht teil.

Die Befunde für 2012
Eine systematische Uebersicht der Sammlungsfähigkeit politischer Parteien bei Volksabstimmung lässt den Schluss zu: Das ist zwar ein Extrembeispiel, aber ein symptomatisches.


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Vier Mal folgte die Mehrheit stimmender FDP-WählerInnen 2012 der Parole der eigenen Partei nicht: beim Verfassungsartikel „Jugend und Musik“ nicht, bei der Volksinitiativen „Eigene 4 Wände dank Bausparen“ nicht und (wahrscheinlich) auch bei der Volksinitiative „Sicheres Wohnen im Alter“ nicht. Beteiligt haben sich an den Volksabstimmungen im Schnitt nur 41 Prozent der BürgerInnen, die sich eine Wahl der FDP vorstellen können. Damit hat die FDP die schlechteste Sammlungsbilanz der grösseren Parteien im laufenden Jahr.

Unwesentlich anders sieht dies bei der SVP aus. 36 Prozent wichen hier 2012 im Schnitt von der Parteimeinung ab. Beteiligt haben sich im Mittel aber nur 37 Prozent der denkbaren WählerInnen.

Auch bei der CVP gab es dieses Jahr bei Probleme bei Sachabstimmungen. 36 Prozent AbweichlerInnen kannten die Partei bei eidg. Abstimmung durchschnittlich; beteiligt haben sich, über alles gesehen, immerhin 47 Prozent der Personen, die sich mit der CVP identifizieren.

Etwas weniger von solchen Problemen betroffen waren 2012 die linken Parteien. Die SP kann bei gesamtschweizerischen Volksabstimmungen auf 50 Prozent zählen, welche sich äusserten, und 71 Prozent teilten im Schnitt die Parteiposition. Noch etwas besser steht die GPS mit Werten von 51 Prozent beim Teilnahmewert und 79 Prozent beim Unterstützungsanteil da.

Die erte Folgerung lautet: Die verringerte Sammlungsfähigkeit vor allen rechter Parteien hat ihr Gewicht bei Volksabstimmungen geschmälert. Ihre Erfolgsbilanz ist schlechter als die der linke, aber auch der Mitte-Parteien.

Die Gründe für Abweichungen von den Parteiparolen
Nun gibt es verschiedene Gründe, warum die Parteiwählerschaften den Parolen ihrer Parteien nicht folgen:

Der erste besteht in kaum nachvollziehbaren Positionsbezügen; das leistete sich die FDP namentlich bei „Jugend&Musik“ – einer Vorlage, der die Fraktion im Parlament noch einstimmig zustimmte, bei der dann die Konferenz der Kantonalpräsidenten aber eine Nein-Parole herausgab. Institutionalisierte Uneinigkeit schmälert nicht nicht den Einfluss einer Partei, sie ist für den Gesamtauftritt einer Partei schädlich.

Der zweite wichtigere Grund besteht in der Profilierungsabsicht der Parteien, egal ob Fraktion, Delegiertenversammlung oder Parteitag, wenn man damit selbst aus Sicht der eigenen Wählerschaft übers Ziel hinaus schiesst. Die SVP und FDP erlebten das bei der Volksinitiative „Eeigene 4 Wände dank Bausparen“, der SP geschah Gleiches bei der Volksinitiative „Schutz vor Passivrauchen“, und die CVP lehnte sich bei der ersten Bausparinitiative 2012 zu weit aus dem Fenster. Vielleicht war das auch bei der GPS in Sachen Ferieninitiative der Fall, denn bei all diesen Beispielen folgte die Mehrheit der Parteiwähler dem Vorpreschen der Parteispitze bei den genannten Initiativen nicht.

Der dritte, ebenso wichtige Grund ist umgekehrter Natur: Der Fall liegt dann vor, wenn Regierungsparteien Regierungsvorlagen unterstützen, dafür aber bei ihrer eigenen Wählerschaft keine Gefolgschaft finden. FDP und CVP betraf dies bei der „Managed-Care“ Abstimmung. Der SP könnte Vergleichbares im Falle einer Referendumsabstimmung zum Asylgesetz im kommenden Jahr blühen.

Die zweite Folgerung heisst damit: Parteien in der Schweiz haben aus inneren und äusseren Gründen immer wieder Mühe, ihre eigene Wählerschaft richtig einzuschätzen.

Was heisst das für die Konkordanz?
Mit Blick auf die Konkordanz sind die beiden letzten Konstellationen von Belang: Denn die moderierende Funktion der Kollektivregierung mit vier resp. fünf Parteien im gleichen Boot wirkt nicht (mehr), wenn Regierungsparteien eine von den Behörden abweichende Position einnehmen. Wenn sie dafür bei ihrer Wählerschaft Support finden, aber im gesamten Elektorat aber in der Minderheit bleiben, ist das im Einzelfall oder je nach Thema wenig problematisch ist. Wenn eine Regierungspartei dagegen abweicht, keine mehrheitliche Gefolgschaft bei allen WählerInnen und gar den eigenen findet, liegt eine offensichtlich komplett falsche Fehleinschätzung der Stimmungslage vor, die nur noch als überzeichnete Profilierungssucht bezeichnet werden kann. Die Analyse zu den Nationalratswahlen 2007 verwies erstmals darauf, indem sie nahelegte, dass die Polarisierung unter den Parteieliten grösser geworden ist als unter ihren Wählenden.

Scheitern Behördenvorlagen in der Volksabstimmung, haben aus der Sicht der Konkordanz sowohl Regierungsparteien ein Problem, die eine Protest-Nein ihrer eigenen Wählerschaften nicht verhindern konnten, als auch jene, die ihre ursprünglich befürwortende Position mit Blick auf die Abstimmung änderten. Denn mit ihrem Nein tragen sie zur Versenkung einer Vorlage bei, die aus der Mitte von Regierung und Parlament stammt, der man selber angehört.

Damit sind wir beim dritten Schluss: Sachpolitisch war 2012 keine Jahr der Konkordanz. Regierung und /oder Parlament verloren beide Abstimmungen, gegen deren Vorlage das fakultative Referendum ergriffen worden war, und bei einer Volksinitiative setzte sich die Opposition gegen die Behördenpolitik durch. Konflikte zwischen Regierungsparteien, Profilierungsabsichten und Mobilisierungsschwäche einzelner Regierungsabsichten komplettieren den eher kritischen Blick auf den Stand der Zusammenarbeit unter den Regierungsparteien im ersten Jahr nach den jüngsten Parlamentswahlen.

Claude Longchamp

Wahljahr 2011: Bisher unbekanntes Hoch für Volksinitiativen

VertreterInnen des Bundeskanzlei, der Wissenschaft, der Forschung, der Kampagnenführung und des Lobbyings gingen diese Woche an der NPO-Tagung zu Volksinitiativen mit zahlreichen Initiativkomitees in sich: um zu lernen, aber auch zu diskutieren, wo sinnvollerweise Grenzen der Volksrechte sein könnten.

Zum Beispiel Barbara Perriard. Sie ist die amtliche Hüterin der Volksrechte in der Schweiz. Die Basler Juristin leitet seit 2010 die Sektion Politische Rechte der Bundeskanzlei. An der NPO-Tagung zu Stolpersteinen und Erfolgsfaktoren von Volksinitiativen legte sie neue Statistik offen, welche den Gebrauch des Instruments im Wahlumfeld beleuchtet:

. Ergebnis 1: Nie zuvor wurden mit 23 Stück so viele Volksinitiative gestartet wie 2011. Bisheriger Rekordwert war 15.
. Ergebnis 2: Seit den Wahlen 1983 steigt die Zahl lancierter Volksinitiative im Wahljahr- und/oder Vorwahljahr markant an.
. Ergebnis 3: Mindestens seit 1995 gilt, dass die Zahl neulancierter Volksbegehren im Nachwahljahr deutlich sinkt.

Das alles kann man nur so interpretieren: Volksinitiativen sind (mitunter) zu Vehikel von Parteien (und weiteren Gruppierungen) geworden, die sich im Wahljahr profilieren wollen.

Mustergültig vorgeführt wurde dieses Konzept 2007 von der SVP. Symbolträchtig lancierte sie am Bundesfeiertag, dem 1. August des Wahljahres, die Volksinitiative zur Ausschaffung krimineller AusländerInnen. Damit setzte sie im Wahlkampf eines der Hauptthemen, das sie werberisch für sich zu nutzen wusste. Wie kaum eine andere Affiche wurde das Schäfchen-Plakat zur Icon gegen Migration angesichts geöffneter Grenzen, mindestens im nationalkonservativen und rechtsextremen Umfeld. Damit nicht genug: Auch das Parlament stieg unter Führung der FDP auf die Problematik ein, und formulierte ein Gegenprojekt; 2010 kam es zur Volksabstimmung über beides; just ein Jahr vor der nächsten Nationalratswahl präferierten die Stimmenden die härtere Version in Form der Volksinitiative. Lanciert war damit der neuerliche Wahlkampf, der wohl ebenso Erfolg gehabt hätte wie jener vier Jahre zuvor, wäre da nicht der politischen Klimawandel gewesen, ausgelöst durch den Atom-Unfall in Fukushima und den hohen Frankenkurs im unmittelbaren Vorfeld des Parlamentswahlen.

Klar, bei weitem nicht alle im Wahlumfeld lancierten Volksinitiativen sind so wirksam, denn die wenigsten treffen den Zeitgeist so genau wie das bei der SVP-Ausschaffungsinitiative war. Dafür spricht auch, dass die Kopie des gleichen Konzepts 2011 mit der Masseneinwanderungsinitiative trotz grossem werberischen Aufwand versagte.

Betrachtet man die übrigen Initiativen, erkennt man zahlreiche weitere Gründe; zu ihnen zählen:

. Die aufgegriffene Thematik keine keinen wirklichen Problemdruck, der das Projekt befördert.
. Der Lösungsansatz, allenfalls die Trägerschaft sind zu umstritten, um eine genügend breite Masse zu mobilisieren.
. Die Unterschriftensammlung scheitert an der Zahl und Frist für die einreichung gültiger Unterschriften.
. Das Volksbegehren ist ungültig, oder es wird zurückgezogen.

Die Beobachtung legt nahe, dass vor allem deren Zahl rasch ansteigt, nicht zu letzt wegen der vermehrten Marketing-Ausrichtung verschiedener Parteien und Komitees vor Wahlen. Die erhöhte mediale Aufmerksamkeit, aber auch die gesteigerten BürgerInnen-Sensibilitäten sprechen dafür, sich mit Volksrechten ins Szene zu setzen. Nur, das Instrument ist eigentlich dafür gedacht gewesen, verfassungswürdigen Anliegen, welche Regierung und Parlament nicht teilen, Gehör zu verschaffen. Mit der aktuellen Entwicklung bewegen wir uns in Richtung tagesaktueller Probleme, die mit einem Instrument bewirtschaftet werden sollen, das sich dafür kaum eignet, aber als Plattform der Selbstdarstellung gebraucht werden kann.

Mehr noch, selbst die Ankündigung eines entsprechenden Volksbegehrens schafft es bisweil bis in die Top-Spalten der Medien, die nur auf Aufmerksamkeit aus sind, die Frage der Relevant indessen gar nicht mehr stellen. Die vermeintliche Lancierung einer Volksinitiative zur Wiedereinführung der Todesstrafe war der Höhepunkt dieser (unrühmlichen) Entwicklungen.

Im Vorfeld der Tagung habe ich versucht, mit einer Gratiszeitung, die jeden Abend erscheint und viele LeserInnen hat, zu besprechen. Erfolglos – man schnitt die Tagung!

Claude Longchamp

Ein politologisch erst- (und wohl ein)maliges Experiment

Was politisch als Zwängerei daher kommen mag, ist politologisch ein spannendes Experiment: Ein Vergleich der beiden Bauspar-Initiativen, über die die SchweizerInnen 2012 entscheiden.

Am 11. März 2012 entschieden die StimmbürgerInnen, die Volksinitiative “Für ein steuerlich begünstigtes Bausparen” abzulehnen. 43,4 Prozent betrug die Zustimmung bei Volksmehr. Damit war die Sache gescheitert. Am 17. Juni 2012 stimmen wir über die “Schwester-Initiative” ab; “Eigene vier Wände dank Bausparen” heisst das Projekt. Die Zielsetzungen beider Volksinitiativen sind gleich: Der Erwerb von Hauseigentum soll steuerlich begünstigt werden. Die Fördermittel sind verschieden: Die erste Bausparvorlage wollte die Kantone ermuntern, fiskalische Begünstigungen einzuführen, die zweite zwingt sie, das zu tun.

In vielen politisch motivierten Kommentaren wurde die zweifache Abstimmung innert dreier Monate kritisiert. Den Initiativkomitees wurde Eigenprofilierung vor Sachfrage vorgeworfen, und an die Adresse des Bundesrates ging die Klage, die direkte Demokratie zu stressen.

Was politisch als Zwängerei daher kommen mag, ist politologisch jedoch ein spannendes Experiment. Warum?

Am Abend des 17. Juni 2012 werden wir die Abstimmungsergebnisse vergleichen können: Wir werden generelle Präferenzen der Kanton zum Bausparen an sich kennen, und wir werden eine Abschätzung machen können, ob gemässigte oder radikalere Initiativen eine höhere Annahmechance haben.

Bereits heute können wir Meinungsbildungsprozesse vergleichen, denn es stehen erste vergleichbare Umfragen zur Verfügung, die jeweils rund 7 Wochen vor der Volksabstimmung erstellt wurden.

Einige findige JournalistInnen zeigen sich heute erstaunt, dass die momentane Zustimmungs zur anstehenden Initiative etwas höher sei als der Ja.-Anteil bei der abgelehnten Vorlage.

Das ist so nicht richtig. Denn man erkennt die Zustimmungsbereitschaft nur, wenn man Aepfel mit Aepfeln vergleicht – sprich Werte aus Vorbefragungen unter einander in Beziehung setzt. Und man darf dabei die variable Beteiligung(sbereitschaft) nicht unterschlagen. Dafür muss man die Ja- und Nein-Prozentwerte aus Vorbefragungen mit den Beteiligungsabsichten in eben diesen Erhebungen multiplizieren. Dann sieht das wie folgt aus:


SB: Stimmberechtigte, TW: Teilnahmewillige (Tabelle anklicken um sie zu vergrössern)

Mit anderen Worten: Geringer als vor drei Monaten sind im Umfragenvergleich

– die Teilnahmeabsichten
– die Zustimmungsbereitschaft und
– die Unschlüssigkeit

Grösser geworden ist dagegen die Ablehnungsbereitschaft. Verschwunden ist damit der scheinbare Widerspruch!

Nun dürfen auch die beiden Ausgangslagen nicht einfach fix auf das erwartete Abstimmungsergebnis vom 17. Juni 2012 übertragen werden, Denn es kommt zweimal auf die Richtung und das Ausmass des Meinungsbildungsprozesse an. Einfacher ist es, ersteres abzuschätzen: Nach aller Erfahrung steigt der Nein-Anteil, und sinkt der Ja-Anteil – jeweils unter den Teilnahmewilligen- Diese werden während eines Abstimmungskampfes etwas zahlreicher. Konkret: Zu erwarten ist, dass die Beteiligungsbereitschaften bis Mitte Juni leicht zunehmen, dass der ausgewiesene Nein-Anteil in den Umfragen stark wächst, und allenfalls auch der Ja-Anteil noch etwas sinkt. Damit ist das Szenario., dass auch die zweite Initiative angelehnt wird, wahrscheinlicher als das Umgekehrte.

Wie gross die Veränderungen sind, weiss man jedoch nicht. Denn sie hängen von den Kampagnen Pro und Kontra und der Mobilisierung durch die Gesamtheit der Abstimmungsthemen ab. Das kann schlicht niemand vorwegnehmen. Diese Beurteilung wird man erst am Abstimmungstag machen können.

Bis dann gilt: Zwei sehr ähnliche Abstimmungen in kürzester Zeit führen dazu, dass die Unschlüssigkeit unter den Teilnahmewilligen sinkt, und zwar Gunsten der Mehrheit in der ersten Abstimmung. In unserem konkreten Fall zugunsten der Ablehnungsbereitschaft. Das ist eigentlich genau das, was man erwarten konnte.

Am Abstimmungstag wird man auch eine Antwort haben, welche Vorlage mehr Ja resp. Nein bekam. Und damit sagen können, ob gemässigtere oder radikalere Volksinitiativen mehr Zustimmung bekommen.

So viel heute zum politologisch erst- und wohl auch einmaligen Experiment!

Claude Longchamp

Managed Care – eine Neuerung hat es schwer

33 Prozent dafür, 44 dagegen. Das ist das vordergründige Hauptergebnisse zur Managed Care Vorlage aus der ersten Repräsentativ-Befragung von gfs.bern für die SRG SSR Medien. Hintergründig zeigt unsere Studie auf, wo das Problem liegt.

Komfortabel ist die Ausgangslage für das Ja-Lager zur Krankenversicherungsrevision nicht. Am letzten Samstag beschlossen die Delegierten der SVP und der BDP, anders als die Mehrheit ihrer ParlamentarierInnen, die für die Reform gestimmt hatten, ihren Mitgliedern und Wählern ein Nein zu empfehlen.

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Die davor abgeschlossenen Repräsentativ-Befragung der Stimmberechtigten für die SRG Medien zeigt warum: Die Skepsis gegenüber der Vorlage ist weit verbreitet. Gerade im rechten Lager. Nirgends hat die Managed Care Vorlage so viele Gegner wie bei der SVP. Noch am ehesten dafür ist das bürgerliche Zentrum, namentlich die CVP, aber auch die FDP. Doch selbst hier reicht es nur für eine relative Mehrheit. Rotgrün ist noch etwas ratlos: Viele Unschlüssige bei der GPS, eher mehr Gegner bei der SP.

Dasselbe bei den Argumenten: Mehr Qualität, mehr Effizienz sind die Schlagworte aus dem Ja-Lager. Zweiklassenmedizin und Einschränkung der freien Arzt- und Spitalwahl jene der Nein-Seite. Durchgedrungen sind sie damit erst bei den Vorentschiedenen, während die Meinungsbildung in der breiten Masse der StimmbürgerInnen davon noch weitgehend unberührt blieb.

Die gute Botschaft für die Behörden, welche die Vorlage ausgearbeitet haben, ist: Es gibt noch viel Spielraum. Die schlechte lautet: Das ist erfahrungsgemäss eher ein Steilpass für die Nein-Sager!
Die Erfahrung mit Meinungsbildungsprozessen zu umstrittenen Behördenvorlagen lehrt uns, dass es mit dem Abstimmungskampf zu einer Polarisierung der Unentschiedenen in beide Richtung kommt. Dabei hat es die Nein-Seite kurzfristig eher einfacher als ihre Widersacher.

Die Aufgabe der BefürworterInnen ist diesmal nicht einfacher: Denn die parlamentarische Allianz, welche der Neuerung zum Durchbruch verholfen hat, bröckelt. An die Abdresse des Souveräns ist das nie eine gute Botschaft. Und für die Aktivisten ist es ein Dämpfer.

Ich bleibe bei meiner Einschätzung, die ich vor knapp zwei Jahren zur Krankenkassenrevision kund getan habe: Behördenvorlagen, die mit der parlamentarischen Beratung bei der Bevölkerung nicht einen positive Grundwelle ausgelöst haben, haben es im Abstimmungskampf schwer. Der hätte, angesichts des komplexen Themas mit Fallstricken, seitens des Ja-Lagers nicht eben erst starten sollen, sondern mit der parlamentarischen Beratung, die immerhin seit 2004 dauert.