Wahlen in der Mediengesellschaft: gerade in der Schweiz ein Forschungsthema wert.

Die siebte Zürcher Vorlesung zur Wahlforschung, die ich an der Universität Zürich hielt, beschäftigte sich mit dem Forschungsfeld “Wählen und Wahlen in der Mediendemokratie”. Gerade hier zeigte sich, sie wie gross die Forschungslücken hierzulande sind.

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Medialisierte Impressionen aus dem Wahlkampf 2007

Noch ist es umstritten, ob wir in einer Mediendemokratie leben. Otfried Jarren, der führende Medienwissenschafter der Uni Zürich, scheint das zu bejahen, denn er schreibt bereits Lehrbücher zur politischen Kommunikation in der Mediendemokratie. Und Benjamin Weinmann die Professionalisierung, Emotionalisierung und Personalisierung der politischen Kommunikation bei Schweizer Wahlen für ein Fakt, sodass man von einer erheblichen Modernisierung der Wahlkampfkommunikation sprechen könne.

Meine Beurteilung ist differenziert: Ich bin der Auffassung, dass sich die Kommunikationskulturen vor allem bei Abstimmungen und Wahlen im Sinne eines mediengesellschaftlichen Trends entwickeln. Doch die Institutionen der Schweizer Wahlen machen diese Entwicklung kaum mit, sodass eine Neutralisierung der Veränderungen stattfindet.

Das sieht man etwa beim Werbeaufwand der Parteien, bei ihren Medienkampagnen, bei der Wahlberichterstattung der Massenmedien: Parteien werden auf SpitzenkandidatInnen reduziert, Information durch Emotionsmanagement abgelöst und die Milizler in Wahlkampagnen werden mehr und mehr durch Profis ersetzt. Und dennoch: Es finden keine Bundesratswahlen statt, die Wahlkreise sind unverändert die Kantone und die politische Werbung in Fernsehen und Radio der SRG bleiben untersagt. Das alles spricht für ein “stop an go” der mediengesellschaftlichen Trends in der Schweiz.

Die Wahlforschung scheint aber selbst die Mischung von traditionellen und modernen Elementen der Wahlkampfkommunikation auszublenden. Werden Analyse auf der Mikro-Ebene durch solche der Meso- oder Makro-Ebene ergänzt, konzentriert man sich vorwiegend auf die Kampagnen von Parteien und KandidatInnen. Medienkampagnen wurde noch fast nirgends untersuch oder nicht in den Zusammenhang mit den Wahlergebnissen gestellt.

Schade, denn es gibt offensichtlich interessante Fragestellungen, die noch weitgehend unbeackert sind. Drei erwähne ich hier:

. Die Wahkampfausgaben 2007, soweit sie sich Dingfest machen lassen, variieren fast linear im Links/Rechts-Spektrum. Am meisten gab der Wahlsieger, die SVP, aus
. Der Vergleich der Parteistärken bei nationalen und kantonalen Wahlen spricht dafür, dass die SVP klar verschieden gut abschneidet. National kommt sie auf annähernd 29 Prozent, kantonal im Schnitt auf 22 Prozent.
. Der Wahlkampf der SVP 2009 entspricht dem, was meinen Superwahlkampf nennen könnte. Er setzte wie der keiner anderen Partei auf Themen, Emotionen und Personen. Und erreichte ein eindeutige Propaganda-Dominanz.

Ich will hier kein Plädoyer für einfache und einseitige Zusammenhänge halten. Denn ich weiss, dass die Grünen finanziell keinen aufwendigen Wahlkampf führten und dennoch bei den Parlamentswahlen 2007 zulegen konnten. Ich werbe aber dafür, 2011 klar mehr Energie und Mittel in die Erforschug der Zusammenhänge zwischen Medienarbeit einerseits und Wahlergebnissen anderseits zu investieren – auch seitens der Wissenschaft. um empirisch gehaltvolle Fallstudien zu bekommen, welche die Diskussion der übergeordneten Fragestellungen erlauben.

Claude Longchamp

Personen und Themen: Werden sie bei Wahlen konstant wichtiger?

Zu den gegenwärtig interessantesten Weiterentwicklungen in der Wahluntersuchungen gehört es, etablierte Einzelansätze der Forschung miteinander zu verbinden. Sinnvoll ist es beispielsweise die Mikro-Ebene der Entscheidungen der Wählenden um das Meso-Niveau von Verhaltensweise der Akteure zu erweitern.

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Issue- and Cadidate-Voting als Trends? Das Frage die Dissertation von Kellermann und sagt: Es kommt darauf an, wie die Konstellationen sind.

Eine anregende Dissertation hierzu hat kürzlich die Bamberger Politikwissenschafterin Christine Kellermann unter dem Titel „Trends and Constellations“ hingelegt. Den Titel begründet die Autorin wie folgt: Die gesamtgesellschaftlich vielerorts belegte Abnahme von Parteibindungen über die Zeit hinweg, hat zur Folge, dass die Wahlentscheidungen der BürgerInnen weniger stabil und determiniert sind. Wen man wählt, wird deshalb weniger als Folge der politischen Sozialisation gesehen, sondern als Entscheid aufgrund von Personen und Themen. Dabei stellt sich die Frage, ob es einen grösseren allgemeinen Trend in der Verlagerungen gibt, oder ob das Gewicht der Komponenten aus den jeweiligen Konstellationen eine Wahl resultiert.

In ihren umfangreichen empirischen Abklärungen aufgrund der deutschen Bundestagswahlen kommt Kellermann zu einem erstaunlich differenzierten Schluss, der nur mit Umfragedaten nicht zu ziehen gewesen wäre. Erwähnenswert sind zunächst:

. „Issue-Voting“ nimmt trotz steigendem Bildungsniveau und wachsender kognitiver Mobilisierung der Wählenden durch intensivierte Informationsangebote nicht einfach zu. Entscheidend nämlich die Zugänglichkeit der Information einerseits, die Aufmerksamkeit für Themen anderseits.
. Auch beim „Candidate Voting“ gilt, dass es von den Umstände abhängt. Personalisiertes Wahlverhalten ist eher jüngeren Datums und wird von der Wahl durch die Positionierung und Persönlichkeit der SpitzenkandidatInnen determiniert.

International vergleichend wird deutlich, dass die institutionellen Gegebenheiten die Chancen von Candidate- und Issue-Voting bestimmen. Der Zeitvergleich wiederum macht klar, wie wichtig die wahlrelevanten Ereignisse, die Wahlkampagnen und die Wahlberichterstattung im Einzelfall sind. Denn das alles determiniert das massgebliche Meinungsklima, indem die Angebote der Parteien an Identifikationen überhaupt erst Sinn machen.

Bezogen auf Deutschland hält die Dissertation die nachstehenden Befunde fest:

. Generelle Parteibindungen sind bei neu entstehenden Parteien in der Opposition unverändert wichtig, während diese bei Regierungsparteien abnimmt..
. Der Personalisierungstrend bei der SPD war ein Phänomen, das stark von der Person Gerd Schröders abhing. Aehnliches gilt mit Bezug auf die CDU/CSU für Helmut Kohl..
. Kaum einen Trend kann man auch bei der Sachfragenorientierung erkennen. Das gilt vor allem für die CDU/CSU. Themenbindungen gehen am ehesten bei linken Parteien zurück, während sie für die FDP meist einen konstanten, wenn auch nicht entscheidenden Stellenwert haben.

Das alles fast die Autorin in der griffigen Formel zusammen: „Less Trends, More Constallations“. Inhaltlicher gesprochen neigt sie zur Folgerung, dass bei den kleinen Parteien die Parteiidentifikation an sich wichtig ist, bei den grossen jedoch eine themenspezifische Kandidatenorientierung von Belang wird.

Fortschritte der Wahlforschung erwartet die junge Politikwissenschafterin insbesondere dann, wenn Mikro-Analysen regelmässig in ihrem systemischen Zusammenhang reflektiert, wenn Ereignisse, Kampagnen und Berichterstattungen fallweise untersucht und wenn das daraus resultierende Meinungsklima in die Analysen der Entscheidungen von Wählenden miteinbezogen werden.

Wahrlich eine klare Analyse auf der Mikro- und Meso-Ebene, die vorliegt und weiter weist – über Deutschland hinaus.

Claude Longchamp

Berichte zur Minarettinitiative-Umfrage: Von “knapp Nein” bis zu “einer Ohrfeige gleich”

Die Berichterstattung zur ersten von zwei Repräsentativ-Befragungen von gfs. bern für die SRG Medien war recht vielfältig. Vielfältig waren auch die Titel zu ein und derselben Studie. Hier eine kleine Auswahl.

Unser Titel lautete: Minarett-Initiative: Das Nein überwiegt – SVP-Wählerschaft dafür”. Ueber den gestrigen Medienberichten (soweit online greifbar) steht:

. Minarett-Initiative hat schweren Stand (SF Tagesschau)
. Minarett-Gegner knapp vorn (Radio DRS)
. Ohrfeige für Minarett-Gegner (Blick online)
. Minarett-Initiative: Volk sagt Nein (newsnetz)
. Bei der Minarett-Initiative überwiegt die Ablehnung (NZZ online)
. Eine Nein zur Anti-Minarett-Initiative zeichnet sich ab / initiative anti-minaret: un refus se dessine (swissonline)
. Initiative anti-minarets: sondage défavorable (rsr)
. Sondage: 53% des Suisses disent non à l’initiative anti-minarets, contre 34% qui la soutiennent (tsr)
. Initiative anti-minarets: le “non” l’emporterait, selon un sondage (ats)

Verschiedene der Titel sind abolut in Ordnung, denn sie geben, in gekürzter Form, die Sache korrekt wieder. In anderen widerspiegelt sich die Meinung der Schreiben oder Redigierenden sehr deutlich.

Zum Ausdruck kommen: erstens, der Präzisionsjournalismus, wenn Zahlen im Titel sind; zweitens der Pferderennen-Journalismus, wenn, egal wie die Zahlen lauten, mit einem knapp Spannung aufgebaut wird; und drittens, der journalistische Populimus, wenn man das Volk gegen politische Akteure ausspielt.

Eigentlich würde ich mir wünschen, dass Scheingenauigkeit, Scheinspannung und Scheinskandalisierungen ausbleiben würde. Warum darf heute die Sache à tout prix nicht mehr für sich sprechen?

Claude Longchamp

Die Macht der Gewohnheit in Wahlinterpretationen

Kein Philosoph hat die Macht der Gewohnheit so kritisiert wie David Hume, der ihre Hinterfragung zum Ziel der Wissenschaft machte. Das sollten auch Erstinterpretationen von Wahlergebnissen nicht vergessen, in denen es von unbewiesenen Gemeinplätzen nur so strotzt.

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David Hume, 1711-1776, empfahl vor 250 Jahren, die Empirie den Denkgewohnheiten gegenüber zu setzen, um diese hinsichtlich ihrer Wahrheitsgehaltes zu überprüfen
.

In Wahlanalysen besteht die Macht der Gewohntheit darin, jede Veränderung in der Zahl der Sitze als Wechsel der WählerInnen zwischen Gewinner- und Verliererparteien zu interpretieren.

Solange die Zahl der Sitze fix und die Wählenden bei zwei Wahlgängen identisch sind, mag das gehen. Doch unterscheidet die Wahlforschung schon längst zwischen dem Wechsel der Wahl einer Partei und die Wechsel der Teilnahme an Wahlen.

Lange tippten die Wahlanalytiker debb auch ohne vertiefte Untersuchungen auf das Wechselwählen, und sie bekamen durch die Forschung in der Regel recht. Denn bei sinkender Beteiligung verloren meist alle Parteien anteilsmässig gleich viel an die Nicht-WählerInnen, sodass die Effekte daraus vernachlässigt werden konnten. Doch seit rund 10 Jahren häufen sich Hinweise, dass dem nicht mehr so ist. Vor allem wenn die Gesamtbeteiligung steigt, ist die selektive Teilnahme an Wahlen wichtiger als das Wechselwählen, um die Veränderungen in den Parteistärken zu erklären.

Das hat eine Konsequenz: Eine Partei, die heute gewinnt, gewinnt vor allem, weil es ihr gelingt, im Wahlkampf bisherige Nicht-WählerInnen zu mobilisieren. Das ist umso wahrscheinlicher, als es sich um eine Protestpartei in der Opposition handelt. Und es ist auch wahrscheinlich, dass eine Partei aus der Regierung, die verliert, vorwiegend durch Abgänge zu den Nicht-Wählenden geschwächt wird.

Ich schreibe das bewusst am Tag nach den Genfer Parlamentswahlen. Und ich sage: Es ist gegen niemanden persönlich gewendet – gegen keine Journalistin und gegen keinen Politologen. Doch drängt sich mir heute die Frage auf, wie nach so vielen kantonalen Parlamentswahlen, die über die ohne auch nur halbwegs gesicherte Erkenntnisse mit der Macht der Gewohnheit argumentiert wird.

Die Politologen in der Schweiz trifft der Einwand doppelt. Denn im Ausland haben sich für die Erstanalyse von Wahlen Wählerströmanalysen etabliert. In Oesterreich gehört es zum Fernsehservice des Wahlabends. Und in Deutschland und Frankreich liegen solche Analyse auf der Basis von effektiven Wahlergebnissen in den Zählkreise oder aufgrund von Wahltagsbefragungen in den erstern Tagen nach der Wahl vor. Nur in der Schweiz haben sich gewisse Wahlforscher im Auftrag des BfS gegen diese Art der Analyse (aus dem Ausland) gestemmt, sodass wir Schweizer Insulaner Wahlinterpretationen meist ohne aufwendige und deshalb seltene Ueberprüfungsmöglichkeit hinnehmen müssen, selbst wenn sie weniger plausibel sind als Wahluntersuchungen mit gewissen Mängeln.

David Hume, der grosse britische Aufklärer, würde sich ärgern, wenn er das sehe. Denn als Erstes würde der alles bezweifeln, was nicht hinterfragt wurde, und als zweites würde er fragen, was, das wir nachprüfen können, spricht für die kommoden Interpretation. Meist nichts als der Wunsch, der die Spekulation nährt, würde er hinzufügen.

Claude Longchamp

Von der Schwierigkeit, in der Schweiz Intellektuelle zu identifizieren

Die Schweiz befinde sich im kollektiven Dauerschock, befand Adolf Muschg jüngst in der Schweizer Ausgabe der “Zeit”. Gemeint waren die Einwürfe des Auslandes an die Adresse der Schweiz, denen niemand etwas entgegenzusetzen habe. Nicht einmal die Intellektuellen, die sich in nationaler Selbstgeisselung bescheiden würden.

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Georges Clemenceau, französischer Journalist, Politiker, Staatsmann. Seine Fähigkeit, in Unabhängigkeit zu intervenieren, wo die Oeffentlichkeit versagte, machte ihn zum Ur-Typ des Intellektuellen in der Moderne.

Nun sticht der Tages-Anzeiger ins Wespennest. Nominiert hat er 20 Top-Shots des kritischen Denkens, das in der Oeffentlichkeit stattfindet, um das Selbstbewusstsein einer Nation klüger zu machen und durch Debatten weiter zu entwickeln. Schriftsteller sind dabei, Publizisten und Journalisten auch. Es hat Soziologen, Oekonomen, Historiker und Theologen. Alles Männer. Bis auf zwei Sprachwissenschafterinnen. Ueberhaupt, kein(e) einzige(r) KünstlerIn ist dabei, unseren Filmemachern, Aktionistinnen und Architketen zum Trotz.

Die Online-Radaktion spitzt die Sache noch zu: Wer ist der/die Wichtigste fragt sie, und lässt die LeserInnen mitbestimmen. “Wählen Sie aus unseren Top 20 die allergrösste Schweizer Geistesgrösse”, wird da in Aussicht gestellt. Zur Auswahl stehen:

Bärfuss, Lukas, Autor
Binswanger Daniel, Kolumnist
Bronfen, Elisabeth, Anglistin
Caduff, Corina, Germanistin
Frey, Bruno S., Oekonom

Held, Thomas, Soziologe
Imhof, Kurt, Soziologe
Jost, Hans-Ulrich, Historiker
Kapeller, Beat, Publizist
Koch, Kurt, Bischof

Köppel, Roger, Verleger
Küng, Hans, Theologe
von Matt, Peter, Germanist
Meyer, Martin, Journalist
Muschg Adolf, Schriftsteller

Sarasin, Philipp, Historiker
Schwarz, Gerhard, Journalist
Strahm Rudolf, Oekonom
de Weck, Roger, Publizist
Ziegler, Jean, Soziologe

Leider, muss man beifügen, ist die Liste unvollständig: Nicht, dass der eine oder die andere, den oder die man erwartet hätte, fehlen würde. Darum geht es mir nicht. Doch es sind nur Personen aus der deutschsprachigen Schweiz nominiert worden. Die Romand(e)s sind mitgemeint, mit zwei Deutschsprachigen, die in die französischsprachige Schweiz gingen. Auch die TessinerInnen sind abwesend. Ganz zu schweigen von den Rätoromanen. Lebt Iso Camartin gar nicht mehr, frag’ich da?

Wäre nicht gerade das ein Kriterium für eine(n) wichtige(n) Intellektuelle(n) in der Schweiz, dass er oder sie die Denkströmungen in allen Sprachkulturen kennt, dass man sich in ihnen bewegt und sie beeinflusst? Klug sein ist das eine, streitbar sein das anderes. Doch in einer Gesellschaft verankert sein, und ihre Werte zum Sprechen zu bringen, ist das wichtigste für Intellektuelle.

Oder haben unsere Kritiker doch recht, die meinen, man könne die Schweiz ohne Verlust dreiteilen und den Nachbarn angliedern, denn ausser Roger Federer als Identitätsstifter hätten die SchweizerInnen keine Gemeinsamkeiten mehr?

Claude Longchamp

Steinmeier gewann Fernsehduell für sich, nicht aber für die SPD

Als Teilmodul der grossangelegten German Longitudinal Election Study untersuchen vier Politik- und KommunikationswissenschafterInnen das Fernsehduell zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier (SPD). In ihrer ersten Publikation weniger als eine Woche danach vermitteln sie einen Punktevorsprung für Steinmeier, der sich in seiner Bewertung messen liess, bisher aber kaum auf die SPD abfärbte.

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Fieberkurve des Fernseh-Duells zwischen Merkel und Steinmeier

Torsten Faas veröffentlicht auf seinem lesenwerten Blog zum Wahlkampf erste Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitforschung, die mittels Instant-Bewertungen eines Querschnitts von WählerInnen in Echtzeit erfolgten.

Den besten Moment hatte Steinmeier gemäss Fieberkurve zur Sendung in der 24. Minute als er sagte, “Wir müssen diese Lohnspirale nach unten aus mehreren Gründen aufhalten: weil hier auch der Aspekt von Würde von Arbeit bedroht ist. Wer den ganzen Tag arbeiten geht, muss von seinem Einkommen aus Arbeit auch leben können. Wirklich leben können.” Stark war er auch in seiner Schlussrede, als er in Abrenzung zur bürgerliche Koalition nochmals zur Einkommensfrage sprach: “Schwarz-Gelb wird bedeuten, dass eine Rückkehr zur Atomkraft stattfindet. Das ist nicht mein Weg. Das ist kein sozialdemokratischer Weg, ich steh dafür, dass jeder, der arbeitet, aus seinem Einkommen auch leben kann.”

Merkel triumphierte vor allem am Anfang. Nach 11. Minuten erhielt sie die Bestnote für das Statement zur globalen Finanzmarktaufsicht: “Und jetzt sage ich: wir brauchen Regeln für die internationalen Finanzmärkte und wir brauchen auch einen Export der Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft, davon bin ich zutiefst überzeugt.”

In der Bilanz spricht Faas von relativen Vorteilen für Herausforderer Steinmeier. Im gelang es seine Kanzler-Eignung von von 23 auf 29 Prozent zu steigern. Dabei legt er nicht zulasten von Kanzlerin Merkel zu, die bei 57 blieb. Es gelang ihm aber, bei Unschlüssigen einen Bewegung mit positiven Saldo zu seinen Gunsten auszulösen.

Weiter Auswertungen, vor allem aufgrund von Befragungen werden folgen. Unmittelbar kann man das vorläufige Ergebnis an den Trendumfragen zur Wahlabsicht verifizieren. Hier trifft zu, dass sich die CDU/CSU hält, während die SPD bisher nur minimal zunimmt. Der unmittelbare Effekt auf die Partei ist geringer als auf die Person.

Claude Longchamp

politReport spiegelt die Schweizer e-Medien

“Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der häufigst zitierte Politiker im ganzen Land?” So etwa lautet das Motto des neuen politReport zur Schweizer Politik im Internet.

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Präsenz der BundesratskandidatInnen in den Schweizer e-Medien gemäss politreport.

Seit diesem Jahr gibt es auf dem Web eine neue Dienstleistung zu Politik und Medien. Ursprünglich für Deutschland konzipiert, existiert auch in der Schweiz ein Ableger der politReports. Seit Frühling 2009 ist die Kommunikationsagentur Furrer.Hugi&Partner in Bern Partner des Projekts, und jüngst verkündete NZZ-Online, mit politReprot zu kooperieren.

Laufend ausgewertet werden rund 800 Schweizer Online-Medien und politische Blogs. Täglich um 6 Uhr kann man den neuen Parteien-Index abrufen, welcher die e-Präsenz der schweizerischen Parteien und ihrer Präsidenten aufzeigt.

Momentan dreht sich alles um die Ersatzwahl in den Bundesrat. Das entsprechende Kandidaten-Rating belegt den Eindruck, dass es an übergeordneten Trends in der Medienpräsenz noch fehlt. Pascal Broulis, Dominique de Bumann, Fulvio Pelli und Urs Schwaller waren seit den Sommerferien die am meisten diskutierten Kandidaten. Aufgestiegen sind sie in der Zitierung mit der Ankündigung ihrer Kandidatur; doch hat sich danach keiner wirklich ganz oben halten können.

Gerne hätte man neben der Präsenz von PolitikerInnen auch eine quantitative Analyse der Bewertungen in den e-Medien gehabt. Denn das macht solche Instrumente über die eher zweifelhafte PR-Binsenwahrheit hinaus interessant, es egal sei, wie man dargestellt werde; Hauptsache man komme vor. Wie schnell Präsenz ohne eigene Botschaft die Fremdkritik entscheidend wird, musste beispielsweise Fulvio Pelli in den letzten 10 Tagen erfahren.

Claude Longchamp

Der Kandidat der Medien

Fulvio Pelli profiliert sich mehr und mehr als Bundesratskandidat der Massenmedien. Mit allen Vor- und Nachteilen.

Er wolle, wenn seine Fraktion wolle. Das ist die Botschaft des FDP-Präsidenten Fulvio Pelli, die er gestern im Zusammenhang mit der Nachfolge für Pascal Couchepin im Bundesrat aussandte. Damit sagt er nicht mehr Nein, wenn auch noch nicht ganz Ja. Und brachte er sich in eine mögliche win-win-Situation: Sollte es einer der bisherigen Bewerber schaffen, war er der gute Taktiker; sollte man ihn in der Not berufen, ist der Favorit, der es richten könnte.

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Chapatte, der welsche Karikaturist, bringt es im Le Temps von heute auf den Punkt: Seit Wochen tanzt Fulvio Pelli in verschiedenartigen Piruetten rund ums Bundeshaus, und die Medien folgen ihm, dem FDP-Präsidenten, dem Schwaller-Kritiker und dem Nicht-Kandidaten, auf Schritt und Tritt.

Das alleine überrascht, denn Pelli ist, seit er an der Spitze der FDP steht, nicht eben der Medienliebling gewesen. Seine zielstrebige Arbeit, aus der Verlierer-Partei FDP wieder eine Gewinnerin zu formen, wurde medial immer wieder mit den Stimmen seiner parteiinternen KritikerInnen von der Stahlhelmtruppe torpediert. Nach der Wahlniederlage 2007 klagte man, er habe die Partei nicht im Griff, und als er seinen Vize-Noser nach ungeschickten Aeusserungen zur Pauschalbesteurung in die Wüste schickte, warf man ihm vor, alles selber bestimmen zu wollen.

Wenn er nun im Zentrum des medialen Interesses steht, dann wohl aus einem Grund: Nur zu gerne würden Verlagshäuser, Chefredaktoren und Politjournalisten die Rolle der Nominatoren bei Bundesratswahlen übernehmen. Das Volk sollte durch sie und nicht durch die Parteien in der Regierung repräsentiert werden. Diese kennen ihr Ritual, wie sie BundesrätInnen küren: Die Kantonalparteien schlagen vor, die Fraktion selektioniert, und die Bundesverstammlung bestimmt.

Pelli hält sich nicht daran, und genau das macht ihn spannend, hebt ihn ab von den Parteigängern wie Didier Burkhalter oder Martine Brunschwig-Graf. Denn es bleibt die nicht beantwortbare Frage, ob es am Schluss auch gelinge, welche die Aufmeksamkeit sichert.

Genau das kann auch ins Auge gehen. Zuerst disqualifiziert Pelli mit seinem Verhalten die übrigen Bewerbungen. Das dürfte dem Parteipräsidenten eigentlich nicht gleich sein. Und sollte er den Sprung in den Bundesrat nicht schaffen, wäre aus der formidablen Anlage eine lose-lose-Situation geworden, wohl mit Konseqenzen bis 2011.

Zufällig begegne ich auf Berns Strassen dem FDP-Generalsekretär Stefan Brupbacher in aufgeräumter Stimmung. “Es läuft gut!”, sage ich ihm. “Ja, durchaus, erhalte ich zur Antwort”. “Wird es Pelli?”, frage ich nach und habe eine perplexen Parteisoldaten vor mir: “Gerade sie sollten es doch wissen, dass es einen Unterschied gibt zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung!”

Claude Longchamp

“Weltwoche” verliert am meisten LeserInnen

Die “Coop-Zeitung” hat am meisten LeserInnen überhaupt. “20 Minuten” führt bei den Gratisblättern und der “Blick” liegt bei den Bezahlzeitungen an der Spitze. Diese kennen fast durchwegs rückläufige Zahlen, die Wochenzeitungen stagnieren und die Gratiszeitung wachsen unverändert.

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Meine Hypothese: Voreingenommener Journalismus ist in Hintergrundsmedien nicht gefragt.

Den grössten Einbruch im Jahresvergleich hatte gemäss neuesten Wemf-Zahlen die “Weltwoche”. Sie verlor innert 12 Monate 12 Prozent ihrer Leserschaft. 345’000 sind es aktuell noch. Die Zeitschrift ist denn auch im Umbruch: Kündigungen und Entlassungen häufen sich seit Anfang Jahr, sodass man sich schon fragt, ob die WeWo eine Autorenzeitung bleibt.

Ursachenforschung betreibt die Wemf, welche die Zahlen regelmässig erhebt und veröffentlicht, nicht. Wahrscheinlich ist, dass die simple Polarisierung “Mainstream-Antimainstream” nicht mehr trägt; von einer Hintergrundszeitung wie der Wewo erwarteten man kritischen, aber unvoreingenommen Journalismus, der nicht ideologisch befangen ist. Dafür spricht auch, dass die WOZ am zweitmeisten verliert.

Eines wird aus der Uebersicht der Wemf auch deutlich: Das Ueberleben einer Zeitung ist heute nicht nur von der Zahl der Leserschaft abhängig. Vielmehr kommt es auch auf die Inserate und Verlagsstrategien an.

So wurde “Cash-Daily”, die Zeitung mit dem grössten Wachstum an LeserInnen, eingestellt, bevor die erhobenen Wemf-Zahlen erschienen.

Claude Longchamp