Vom Versagen der öffentlichen Kommunikation und den Phänomenen hierfür

Zur Debatte gestellt wird mit den neuen Jahrbuch “Qualität der Medien” der Zustand der Infrastruktur der Demokratie. Darauf beziehen sich die Medien gerne, wenn sie ihre Bedeutung herausstreichen müssen, zeigen aber Mühe, den Zusammenhang anzuerkennen, wenn andere darüber kritisch sprechen. Der Start zur Debatte durch Medien, in Medien und über Medien ist gemacht.

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Bestelladresse des Jahrbuches “Medien und Qualität” hier.

Eines ist klar: Wenn Kurt Imhof im Nu das bis anhin öffentlich nicht bekannte Phänomen des Botellons mit einem Interview bekannt macht, in dem er sich selber leicht beschwippst von Frage zu Frage labbert und mit jeder Antwort das Thema genial trifft, dann klatschen die Medien einhellig und lautstark dem Star und den hiesigen Sozialwissenschaftern.

Wenn der gleiche Mediensoziologe indes genau diese Medien einer Qualitätskontrolle unterzieht, reagieren sie unterschiedlich irritiert: Im schlechtesten Fall schweigen sind, im Einzelfall diskreditieren sie seine Forschung ohne sie gesehen zu haben, und nur im guten Fall setzten sie sich mit der Medienkritik durch Aussenstehende auseinander.

Denn seit Beginn des 21. Jahrunderts ist es, ausgehend von den USA, üblich geworden, sozialwissenschaftlich angeleitete Qualitätsmessungen der Medienberichterstattung vorzunehmen, sie wissenschaftlich und öffentlich zu diskutieren. Zu dieser Kategorie Forschung zählt auch die erste Publikation des neuen Observatoriums “Medien und Qualität” des Forschungsbereich für Oeffentlichkeit und Gesellschaft an der Universität Zürich.

Im gestern erschienenen gleichnamigen Jahrbuch haben die versammelten MedienwissenschafterInnen ihre vorläufigen Einsichten in die Versorgung durch das Mediensystem Schweiz und in die qualitätsrelevanten Trends, die hierzu beobachtbar sind. Finanziert wurde das gross angelegte Unterfangen durch verschiedenen Stiftungen in der Schweiz, die meisten aus dem Bereich der Privatwirtschaft, teilweise auch mit gemeinnützigem Hintergrund.

Zu den Hauptbefunden des Berichts auf der übergeordneten Ebene der Medienarena zählen:

* Erstens, die Printmedien im einstigen «Presseland Schweiz» verlieren bezüglich Auflagen, Nutzung und ihrer wirtschaftlichen Grundlagen an Bedeutung. Nur die Gratistitel und teilweise die Sonntagszeitungen können innerhalb der Presselandschaft noch Zuwachsraten verbuchen und so den generellen Abwärtstrend der Presse abmildern, allerdings ohne den Qualitätsverlust auffangen zu können.

* Zweitens, der Onlinebereich ist klar fast flächendeckend und auf in vielerlei Hinsicht auf dem Vormarsch. Allerdings ist ihre Refinanzierung prekär. Sie ziehen jedoch den Newssites anderer Medien substanzielle Publikumssegmente ab. Dies betrifft insbesondere die Abonnementszeitungen und die öffentlichen Radiosender.

* Drittens, das Fernsehen verzeichnet Reichweitenverluste bei den Jungen, ohne diese mit Reichweitengeiwnnen bei den Aeltern kompensieren zu können. Generell leidet die Nutzung von Informationsformaten von Radio und Fernsehen, ohne dass ihre überragende Bedeutung verschwunden wäre. Private Angebote sind hier allenfalls als komplementär einzustufen, vor allem im Lokalbereich.

* Viertens, es hat sich eine Gratiskultur durchgesetzt, die die nötigen Ressourcen für guten Journalismus nicht bereitstellt und Publizistik ausserdem von der hohen Volatilität eines schwindenden Werbeaufkommens abhängig macht. Das fördert den Konzentrationsprozess sowie Einsparungen bei den Redaktionen.

* Fünftens, die verschiedenen Mediengattungen tragen in höchst unterschiedlichem Mass zur Vielfalt und Relevanz der Berichterstattung in der Schweiz bei. Zudem kann man davon ausgehen, dass die Bedeutung gerade derjenigen Typen und Gattungen in Zukunft zunehmen wird, die weniger zu Relevanz und Vielfalt beitragen.

* Sechstens, bei Boulevard- und Gratiszeitungen, den Privatsendern sowie den Onlinemedien finden generell personenzentrierte Human Interest-Themen Aufmerksamkeit. Auch die Politik wird viel stärker über Geschichten einzelner Personen aufbereitet. Bei diesen Typen ist die Forumsfunktion ist nur bedingt erfüllt.

* Siebtens, in der schweizerischen Medienarena steigt die Binnenorientierung im Zeitverlauf auf Kosten der Auslandsberichterstattung. Die Fokussierung auf den Medienkonsumenten und die Kostenreduktion lässt die Welt ausgerechnet im Zeitalter der Globalisierung zugunsten des Nationalen und des Regionalen in den Hintergrund treten. Die neuen Medien beschränken die Welt zudem auf Krisen, Kriege und Katastrophen.

* Achtens, für eine einordnende, reflexive und Hintergrundinformation vermittelnde Berichterstattung sorgen primär die Abonnementszeitungen, die Sonntagszeitungen und das Magazin sowie die öffentlichen Programme von Radio und Fernsehen. Umgekehrt ist die Berichterstattung der Newssites, der Boulevard- und Gratiszeitungen sowie der Nachrichtensendungen des Privatfernsehens überwiegend episodisch.

Es liegt nun an den Angesprochenen, sich damit auseinander zusetzen: den Medien, Medienverlagen und Medienschaffenden selber, aber auch den politischen und wirtschaftlichen Akteuren, den gesellschaftlichen Kräften, die von der Oeffentlichkeit leben und denen die aufgezeigten Entwicklungen nicht egal sein können.

Ihnen haben die ForscherInnen jedenfalls eine kecke Behauptung zugeworfen, die sie nicht kalt lassen kann, sprechen die Obervatoren doch recht generell von einem Systemversagen der öffentlichen Kommunikation in der schweizerischen Demokratie. Die Diskussion lanciere ich mit folgender Differenzierung hierzu: Niemand mehr kann über eine Vielzahl von Phänomenen des Versagens öffentlicher Kommunikation in der Schweiz hinweg sehen, doch bleibt die Frage offen, ob man sie soweit verallgemeinern kann, wie das hier geschieht. Denn untergegangen sind bis jetzt weder die Schweiz noch ihre Demokratie. Vielmehr bleibt die Assoziation auf den kritisierten Katastrophismus neuen Medien(wissenschaften)!

Claude Longchamp

Mittelschicht oder Mittelstand?

Was in Deutschland Mittelschicht heisst, wird in der Schweiz unverändert Mittelstand genannt. Obwohl die Mittelschicht gerade hier ausgeprägt vorkommt,und politisch von höchster Bedeutung ist. Eine kurz Begriffsklärung.

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Anteile der Mittelschichtsfamilien, die Ende Monat nichts auf die Seite legen können (Grafik: Beobachter/gfs.bern)

Mit der Industrialisierung traditioneller Gesellschaften änderte sich auch ihre soziologische Beschreibung. Die Ständegesellschaft mit (vereinfacht zusammengefasst) Adel, Klerus und Bauern nahm ihr Ende. Karl Marx teilte die Industriegesellschaft in zwei Klassen: Die Bourgeoisie, bestehend aus den Kapitalisten-Unternehmern, und das (paupersierte) Proletariat mit den Arbeitern.

Zahlreich sind die Kritiken, wonach die marxistische Gesellschaftsbeschreibung die Realitäten nicht trifft. Denn zwischen den Kapitalisten und dem Proletariat entwickelte sich eine dritte Klasse, das (Klein)Bürgertum. Die moderne Soziologie zieht es deshalb vor, von (mindestens) drei Schichten in modernen Gesellschaften zu sprechen: der Ober-, der Mittel- und der Unterschicht.

Für die Entwicklung der Demokratie wird die Ausbildung der Mittelschicht sogar als essenziell angesehen. Denn es waren die Handwerker, Lehrer und Notare, welche die Rechtsgleichheit erstritten, und sich gegen wirtschaftlichen und politische Privilegierungen alter und neuer Oberschichten wehrten.

Der Begriff der Mittelschicht hat sich nicht nur in der Soziologie durchgesetzt. In weiten Teilen des deutschen Sprachraum wird es entsprechend dieser Definition verwendet. Nur in der Schweiz ist das anders. Unverändert spricht man von Mittellstand. Fritz Marbach, Berner Oekonomieprofessor, entwickelte in den 40er Jahren des 20. Jahrhunderts gar eine Theorie des Mittelstandes: zu keinem Luxus fähig, aber der bürgerlichen Lebensweise zugetan, charakterisierte er den Mittelstand. Sogar Unterteilungen führte er ein. Unterschieden werden kann der alte Mittelstand, dem Gewerbe schlechthin, vom neuen, womit die Angestellten in den Dienstleistungsbetrieben gemeint sind.

Seit ich als Sozialforscher aktiv bin, kämpfe ich gegen die Begriffsmengung in der deutschsprachigen Schweiz an – erfolglos, wie ich feststelle. Denn der “Beobachter”, für den unser Instituts jüngst eine Studie zur Lage der Mittelschichtsfamilien erstellt hat, titelt diese Woche über dem ersten Teil der Serie: “Der bedrohte Mittelstand”. Obwohl wir, wie jede soziologisch-statistische Studie heute, die bedrohten Mittelschichten untersucht haben.

Das ist aber auch die einzige Kritik, die ich zum Auftaktbericht der vierteiligen Beobachterserie habe. Denn er geht der zentralen Frage nach, wodurch sich Mittelschichten von Unter- resp. Oberschichten unterscheiden, wenn sie in die Defensive geraten. Die bündige Antwort lautet: Auf mehr als ein Kinder verzichtet man, auf ein Auto nicht!

Der Vulkan, die Politik und die gegenwärtigen Stimmungslagen

Der Eyjafjalla-Vulkan war dieser Tage in aller Leute Mund. Wahrscheinlich hat sein überraschender Ausbruch mit den unerwarteten Folgen wie kaum ein anderes Ereignis der jüngsten Zeit uns beeindruckt. Zurecht, ja gerade treffend für die Eruptionen in der politischen Landschaft, sage ich da!

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Ausbruck des Eyjafjalla-Vulkans im April 2010

Fulvio Pelli, der Präsident der FDP, brachte es am Samstag auf den Punkt: Die innerparteilichen Spannungen um das Bankgeheimnis und Schwarzgelder seien “explodiert wie ein Vulkan”. Losgetreten wurde die Debatte durch FDP-Unternehmer. Sie fürchteten, die Partei könnte angesichts des Abzocker-Images untergehen. Die Partei müsse sich von Bankeninteressen emapnzipieren, und gleichwert an der Werkplatz Schweiz denken. Das rief umgehend die Vertreter der Banken und Versicherungen auf den Plan, die der verlangten Weissgeld-Strategie eine Abfuhr erteilen. wollten. Ganze Kantonalparteien empörten sich, und unter den Parteimitgliedern brodelte es mächtig, ja kam es bei den Berner Wahlen zu einer eigentichen Explosion. 10 Wochen dauerte die Auseinandersetzung an.

Zurecht verglich Fulvio Pelli die Lage der FDP mit der eine Vulkans. Denn tief unten in der Partei sind unverändert starke Ueberzeugungen aktiv. Angesichts der Verkrustung an der Oberflächte kommen sie aber kaum mehr zum Tragen. Das erhöht den innern Druck seit längerem. Dieser verschaffte sich Raum, als die Parteispitze in der Bankenpolitik eine Kehrtwende vollzog. Das legte allseits die Emotionen offen. Die Medien feuerten die verschiedene Protagnisten an, sodass alles ausser Kontrolle geriet. Der angerichtete Schaden zwang zur inneren Einkehr, wie es der Parteipräsident gestern formulierte.

Erstmals das Gefühl einer vulkanartigen Stimmung hatte ich letzten Herbst bei den Genfer Wahlen 2009. Der grosse Ueberraschungssieger war damals das MCG, eine rechte Protestbewegung, die bei den Parlamentswahlen richtiggehend Wählerstimmen absahnte. Mit der Grenzgängerproblematik nahm sie ein Thema auf, das im Lokalen seit längerem für erhebliche Spannung sorgte, die von keiner Partei aufgenommen und einer Lösung zugeführt wurden. So brauchte es nur einen Strassenwahlkampf des Aussenseiters während einigen wenigen Wochen, und schon stand Genf Kopf. Die Volksseele kochte,und bei der Neubesetzung des Genfer Grossen Rates entlud sie sich eruptiv. Doch schon bei den nachfolgenden Regierungsratswahlen scheiterte der Spitzenkandidat des MCGs, und die bisherigen Regierungsparteien setzten sich wieder durch. Der Genfer Vulkan war schnell wieder erloschen.

Man könnte hier auch die Minarett-Initiative anfügen, um ein nationales Beispiel zu haben. Und sicherlich gibt es in vielen Städten ähnliche Stimmungslagen, die zu vergleichbaren Ausbrüchen führen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass die Ausbrüch kaum vorhersehbar sind. Wenn sie erfolgen, beeindrucken sie uns gewaltig, um auch recht schnell wieder an Strahlkraft einzubüssen.

Wer solche Eruptionen auslösen, wer sie steuern und wer sie zu seinem Instrumenten machen kann, der ist sich des politischen Erfolgs gegenwärtig sicher. Davor scheint fast niemand mehr sicher zu sein. Doch wen es trifft, den rüttelt es gründlich durcheinander. In seinem Umfeld kommt es zu erheblichen Schäden. Und so fragt sich natürlich, wer 2011 rechtzeitig vor den Wahlen nicht nur 1. August-Kracher loslassen wird, sondern ganze Vulkane zum bersten bringen kann. Das Ausland? Die Wirtschaft? Oder die SVP?

Mit Leidenschaft gegen den Zerfall der Medienkultur

Zu den Ingredenzien der Forschung zählt Kurt Imhof, führender Mediensoziologe der Schweiz, gute ForscherInnen, viele Datensätze, Theorien, Methoden und … Leidenschaft.

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Kurt Imhof, wie er leidenschaftlich lebt und forscht

Auf seine Leidenschaft angesprochen, spricht der Zürcher Professor Kurt Imhof am liebsten über sein Projekt, ein Medien-Observatorium für die Schweiz einzurichten. Dieses soll untersuchen, wie Medien Politik und Wirtschaft beeinflussen. Dabei geht es ihm um den Auf- und Abbau von Zukunftsvertrauen, weil dieses Investitionen lenkt. Es treibt ihn an zu zeigen, wie durch Heroisierung und Skandalisierung die Reputation von Wirtschaftseliten entsteht un vergeht. Und er will bestimmen, wie sich die Veränderung der Qualität im ökonomisierten Mediensystem auswirkt.

Bisher wurden die Ergebnisse summarisch auf einer Online-Plattform veröffentlicht. Mitte 2010 soll das erste Jahrbuch “Qualität der Medien Schweiz” erscheinen. Denn davon ist Imhof überzeugt: Die Medien, die alles und jedes in Frage stellen, sind es sich nicht gewohnt, dasselbe mit sich zu machen.

Kontrollieren will Imhof die Medien nicht – zur Selbstreflexion verführen indessen schon. Indem der Medienexperte Medienkritik als Medienevent vermarktet. Zum Pudding seien die Medienberichte geworden, erklärte Imhof jüngst der NZZ, seit Information und Unterhalten vermischt würden, um in der Gratiskultur bestehen zu können. Widerspruch dazu gabs nicht, denn die Pointe gefiel. Doch eigentlich meinte Imhof, dass sich Universalität, Ausgewogenheit, Objektivität und Relevanz der Medienberichterstattung über die Zeit verschlechtert haben. Diese Botschaft wäre so schwieriger zu vermitteln gewesen.

Sein Observatorium müsste eigentlich durch die Medienverlage finanziert werden, meint Imhof. Doch das funktioniere in der Praxis nicht. Schon Einwände in der Theorie gibt es, wenn der Staat das machen würde, denn der lebt von der demokratischen Willensbildung, die zivilgesellschaftlich begründet sei. Unabhängigkeit der Medienforschung am Observatorium will er deshalb durch Wissenschaft, Stiftungen und Donatoren sichern. Zwei Millionen Schweizer Franken sind so schon zusammengekommen.

Als man begonnen habe, das Jahrbuch zu entwerfen, habe er noch nichts davon gehabt – und sei doch gestartet, sagt Imhof mit gewohntem Schalk, “weil letztlich die Leidenschaft die Forschung treibt!”

5 Jahre Medienpapst – eine kritische Zwischenbilanz

5 Jahre ist Benedikt XVI. nun Papst. Und seit fünf Jahren nutzt er Medienauftritte ganz bewusst. Was den Medienpapst ausmacht, analysiert ein neues Buch, das noch vor der laufenden Pädophilen-Debatte geschrieben wurde, ihre Charakteristik letztlich aber genau vorwegnimmt.

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Andreas Hepp und Veronika Krönert sind als MedienwissenschafterInnen an der Uni Bremen tätig. Im Rahmen eines grösseren Forschungsvorhabens haben sie die Kommunikation von Papst Benedikt XVI. (von Papst “Gutgesagt” also) aus kritischer Distanz untersucht.

Ausgangspunkt ihrer umfangreichen Abhandlung ist der Weltjugendtag von 2005, gleichsam der Beginn des neuen Pontifikates, das sie religionssoziologisch und medientheoretisch hinterfragen. Ihre These ist: Die katholische Kirche tritt neu systematisch auf dem medial vermittelten Sinnmarkt auf, um das Potenzial zu nutzen, begibt sich dabei aber in Abhängigkeiten. Die sehen die AutorInnen vor allem darin, dass sich der Papst als wichtigster Kommunikator der einmal gewollten Medieninszenierung kaum mehr entziehen kann – auch dann nicht, wenn er und seine Kirche es wünschten.

Dabei muss man nicht einmal an unrühliche Problemlagen der Aktualität denken. Denn hinter ihnen liegen Mechanismen verborgen, die sich auch bei anderen Protagonisten mit anderen Eigenschaften zeigen würden. Hepp und Krönert sehen das in drei Konsequenzen der Mediatierung von Religion begründet:

. in der sozialen Dimension der Individualisierung,
. in der räumlichen Dimension der Deterritorialisierung und
. in der zeitlichen Dimension zunehmender Unmittelbarkeit.

Was das heisst, erfährt man in den Verallgemeinerungen zur Beschreibung des Weltjugendtages: Denn wo Medien zum Ort des persönlichen Aushandelns von Sinnangeboten werden, wächst der Zwang, sich stets mediengerecht zu präsentieren: heterogen, um Teilöffentlichkeiten und Zielgruppen zu gefallen; translokal, um Netzwerker für sich zu gewinnen und markenorientiert, um sich von anderen Religionen abzugrenzen.

Unweigerlich kommen einem da die Probleme des gegenwärtigen Pontifikates in den Sinn: die umstrittene Polarität von Papst Benedikt zum Islam und Judentum, die durch Annäherung und Provokation gekennzeichnet ist, die heiss diskutierte Integration der Pius-Bruderschaft, die aufgrund falscher Informationen erfolgte, und die Nähe der Kirche zu historischen und politischen Gruppen, denen der Papst einmal nahe stand.

Die AutorInnen sind überzeugt: Das alles muss zwangsläufig in einer Entzauberung des religiösen Zaubers enden. Denn der “Schwarzmarkt der Religion”, wie sie die Medienöffentlichkeit nennen, wird grösstenteils von nicht kirchlichen Akteuren konstituiert, durch ihre Prinzipien bestimmt und durch Zuschauerzahlen legitimiert, die man mit medialen Tricks wie der Eventualisierung erreicht. Religionen werden so zwar populär, aber auch entsakralisiert.

Oder einfacher gesagt: Die Euphorie der Kirchen zu den Chancen eines Medienpapstes ist rasch einer Desillusionierung der Gläubigen gewichen, ohne dass Religion dadurch nachhaltig etwas gewonnen hätte.

Erotisches Kapital in der Politik

Ein neues Thema füllt die Feuilletons der Magazine erreicht: das erotische Kapital in der Mediengesellschaft. Die politische Kulturforschung täte gut daran, sich den Veränderungen der politischen Kommunikation auch in der Schweiz vertieft anzunehmen.

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Mara Carfanga, Gleichstellungsministerin in Italiens Regierung, machte das beste Ergebnis aller KandidatInnen bei den jüngsten Regionalwahlen

55700 Stimmen machte Mara Carfanga bei den jüngten Regionalwahlen in Italien. Damit realisierte die Ministerin aus der Reihen der Berlusconi-Partei “Popolo della Libertà” das beste Resultat aller KandidatInnen.

Weit herum bekannt wurde sie durch einen peinlichen Patzer des Cavaliere: “Wenn ich nicht schon verheiratet wäre, würde ich sie sofort heiraten”, soll der Silvio Berlusconi über seine Gleichstellungsministerin gesagt haben. Damit versetzte er seine Frau Veronica in öffentliche Rage, und die Scheidung der Ehe der Berlusconis nahm ihr Lauf.

In den Medien geht Carfanga seither der Ruf der “schönsten Ministerin” voraus. Carfanga ist damit nicht alleine: Präsidenten, die sich wie Nicolas Sarkozy stark wähnen, lieben es, sich mit erotischen Frauen zu umgeben, nicht nur des Vergnügens wegen, sondern auch um Aufmerksamkeit zu mehren und WählerInnen zu gewinnen.

Erotisches Kapital in der Sozialforschung
“Erotisches Kapital” nennt der kanadische Soziologe Adam-Isahia Green das Phänomen. Gemeint ist damit die Energie von Frauen und Männern, die von ihren natürlichen, künstlich geschaffenen oder erlernten Eigenschaften ausgehen und auf andere wirken. Das beschränkt sich nicht nur auf unser Alltagsleben, sexuelle Beziehungen Heirat oder Kinderkriegen. Es erfasst in hohem Masse die mediale Kommunikation in Werbung und Unterhaltung, Sport und Kunst, Arbeitswelt und Politik.

Für die TheoretikerInnen eben dieses gibt es keine einheitliche Form des erotischen Kapitals. Vielmehr ist dies eine Folge der Entwicklungen vor allem von Mediengesellschaft, insbesondere ihrer sexualisierten Oeffentlichkeiten. Dabei werden ökonomisches, soziales und kulturelles Kaptial als tauschbare Handlungsressourcen von Individuen durch das erotische erweitert. Immerhin, die Forschungen zum erotischen Kapital macht mindestens sechs Bestandteile sichtbar: die Schönheit, die Attraktivitäten, die Lebenslust, die Präsentation, die Sexualität und die Vermehrung, insbesondere bei Frauen.

Soziologin Catherine Hakim, Forscherin an der London School of Economics, ist überzeugt: “Women generally have more erotic capital than men because they work harder at it. Given the large imbalance between men and women in sexual interest over the life course, women are well placed to exploit their erotic capital.” Fasziniert von Cleopatra, Madonna, Catherine Deneuve und Tina Turner, kritisiert sie die bisherigen politischen Theorien, denn das Patriarchat habe den Frauen verboten, ihr erotisches Kapital zu nutzen, um in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik zu Erfolg zu kommen, und die feministische Theorie habe die moralischen Vorschriften, an die sich Frauen halten müssten, noch verstärkt. Doch das breche in der gegenwärtigen Gesellschaft auf und müsse empirisch untersucht werden, verlangt sie und kündigt für 2011 schon mal ein Buch hierzu an.

Evidenzen auch in der Schweizer Politik?!

Die politische Kulturforschung würde gut daran tun, sich den aktuellen Veränderungen auch in der Schweiz systematisch anzunehmen. Denn Hinweise hierfür gibt es genug, auch wenn sie meist belächelt werden.

So meinte Georg Lutz jüngst unter Verweis auf Adrian Amstutz und Nathalie Rickli, Schönheit werde auch in der Schweiz gewählt, wenn man das Parlament besetze. Feministin Regula Stämpfli kritisierte ihn, und Nationalratspräsidentin Pascale Bruderer dazu, weil die Genossin der Versuchung, sich nicht über das Sein, sondern den Schein zu verkaufen, nicht wiederstehen könne. Klaus Stöhlker wiederum ist sicher, dass Doris Leuthard von ihrer äusserlichen Erscheinung politisch profitiere und Moritz Leuenberger sich nur deshalb im Amt halten könne. Die FDP-Frauen kümmern solche Unterstellungen wenig: Für ihre Geburtstagsparty zum 60. luden sie jüngst mit dem Hinweis ein, ihr erotisches Kapital ganz bewusst in die Politik einzubringen. Karin Keller-Sutter dankt es ihnen!

Experiment www.bernerwahlen.ch

Es war ein spannendes Experiment, über die Ergebnisse zu den Berner Regierungswahlen in einem eigens hierfür errichteten Blog zu berichten.

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Kurzanalyse der FDP: Splitterbruch würde man in der Medizin sagen, denn die FDP verliert Wählende in alle Richtungen.

www.bernerwahlen.ch ging erst letzte Woche ins Internet. Ziel war es, eine Plattform zu etablieren, für Wahlergebnisse und -analysen zum Kanton Bern. Die Regierungs- und Grossratswahlen bildeten den Auftakt, die Stände- und Nationalratswahlen 2010 geben eine weitere Gelegenheit ab.

Das Mandat für eine Hochrechung zu den gestrigen Wahlen, welches das Institut für Politikwissenschaft und das Forschungsinstitut gfs.bern acquirierten, gab den Anstoss für die Plattform.

Die Nutzung übers Wochenende gab uns recht. 4200 Besuche verzeichneten wir alleine gestern. Rund 1000 waren es in den Tagen davor, fast ebenso viele heute. Die besten Beiträge während der Hochrechnung wurden 500 bis 700 Mal in einer halben Stunde angeclickt. Selbst zoonpoliticon profitierte durch Verlinkung. Am Sonntag wurden 2500 Besuche registiert. Das alles sind Zahlen, die sich sehen lassen können.

Sichtbarstere Verlierer der Grossratswahlen sind die FDP und die SP. Der Neuaufsteiger ist die BDP, gefolgt von der GLP. Dazu haben wir erste Analysen zu Wählerströmen gemacht. Sie zeigen das die BDP von fast allen Parteien WählerInnen aufnahm und von Neumobilisierten profitierte. Schliesslich haben wir untersucht, wie die Blöcke bei den Regierungsratswahlen gespielt haben, und welche Bedeutung die Unterstützung ausserhalb dieser für den Wahlerfolg bei den Exekutivwahlen hatte.

Quintessenz hierzu: Barbara Egger-Jenzer und Beatrice Simon hatten jeweils die geringste Blockunterstützung. Die beiden Frauen in der Berner Regierung markieren also die deutlichsten zur Mitte und ins andere Lager tendierenden PolitikerInnen.

Die Lektüre der politischen Wesen.

Rund 200’000 Besuche hatte dieses Blog 2009. Zirka doppelt so viele Seiten wurden dabei konsultiert. In einem Drittel der Fälle war es die jeweilige Hauptseite. Zwei Drittel der Besuche steuerten eine Rubrik an oder hatten einen der Beiträge zum Ziel.

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Entscheidend ifür die Nutzung eines Beitrags ist das allgemeine Google-Rating. Hinzu kommen Verlinkungen auf anderen Seiten. Sie bringen punktuellen traffic; gelegentlich bleiben die BesucherInnen länger hängen. Die regelmässige Kundschaft ist recht klein, dafür auch recht treu. Sie kommt im Wochenrhythmus ein- oder mehrmals vorbei, um das Neueste zu konsultieren. Diskussionen flackern leider nur dann auf, wenn tagesaktuellen Themen behandelt werden. Die Nutzung der Beiträge wird von Kommentaren nur beschränkt beeinflusst.

Wichtiger ist es hier, eine klare Themen-Nische auf dem Web besetzt zu haben, sodass die speziell Interessierten auf zoon politicon vorbei schauen kommen. Die verschiedenen Beiträge zur den Hochrechnung für die SRG sind ein typisches Beispiel dafür.

Was sonst noch häufig konsultiert wurde, zeigt die nachstehenden Zusammenstellung.

20 Beiträge, die 2009 am meisten aufgerufen wurden

1. Samuel Schmid im Tief oder Keine Volkswahl des Bundesrates (ca. 2500 Aufrufe 2009)
2. Meine top ten Liste Buchliste zur politischen Kommunikation (ca. 1900)
3. Sind wir Menschen alle ein rreemm? (ca. 1200)
4. Die Schweiz ist das 25. Land des Schengener Abkommens (ca. 800)
5. 13 Gründe warum Obama Präsident wird (ca. 700)
6. Politologie für die Zeitungslektüre (ca. 650)
7. Freiheiten und Demokratie weltweit vermessen (ca. 600)
8. Die Vorbereitung der Hochrechnung zu Personenfreizügigkeit (ca. 500)
9. Demokratie-Muster (ca. 500)
10. Boulevard-Demoskopie (ca. 500)

11. Hochrechnung von Abstimmungen (ca. 450)
12. Die gläsernen ParlamentarierInnen (ca. 450)
13. Hochrechnungen zum Abstimmungssonntag (ca. 400)
14. Das Tableau der Bundesratswahlen (ca. 400)
15. Warum Julia Onken für die Minarett-Initiative ist (ca. 400)
16. Reimann – der Zukunftstyp des nationalkonservativen Politikers (ca. 400)
17. Samuel Huntington, Autor von “Kampf der Kulturen”, verstorben (ca. 350)
18. Befürworter der Minarett-Initiative waren besonders mobilisiert (ca. 350)
19. Der grosse politische Kompass (ca. 350)
20. Anonyme Beamte, Journalisten und Politologen proben den Regierungssturz (ca. 350)

Wenn mein Wille, ein politisches Wesen zu sein, nicht nächlässt, gibt’s auch 2010 wieder zahlreiche Beiträge zu Themen, die einen Politikwissenschafter oder eine Politikwisenschafterin in der Praxis vielleicht etwas angehen oder von Nutzen sein können.

Es würde mich freuen, Sie und andere mehr weiterhin zu meinen LeserInnen zählen zu dürfen!

Nun kommt der Informationscrash, prophezeit der “Börsianer des Jahres”.

Man nehme: eine Priese des gegenwärtigen Lebensgefühls, sage einen weiteren Crash voraus und mixe beides zu einem leicht geschriebenen Buch. Das ergibt einen Bestseller mit dem Titel “Der Informationscrash“, sagt Autor Max Otte, in Deutschland eben zum “Börsianer 2009” gewählt. Ich mache das ein Fragezeichen.

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2006 schrieb Otte, der Börsencrash komme. 2008 kam er dann, und das Buch “Der Crash kommt” kletterte im Nu auf die Spitzenplätze der Bücherparaden. Nun doppelt der Autor nach und veröffentlicht nachträglich die Analyse zurr Prognose. Der einfache Befund: Schuld an allem ist die heutige Informationsflut, die uns zumüllt. Doch nicht mehr lange, denn als nächstes kommt der Informationscrash, verheisst das Buch aus dem Econ-Verlag!

Was in den Sozialwissenschaften anerkannt Informationsgesellschaft heisst, wird bei Otte flugs zur Desinformationsgesellschaft. Ihr wichtigstes “Lebenszeichen” war der Börsencrash 2008. Denn nach Otte, Professor für Betriebswirtschaft an der Fachhochschule Worms, arbeiten Wirtschaftsakteure ganz bewusst auf Falschinformationen hin, um bessere Geschäfte machen zu können, reagiert die Politik ohnmächtig, weil sie nicht begreift, was uns geschieht, und sind die Medien maximal noch als gekaufte Lakaien erwähnenswert.

Die Symptome der Geschichte, die Otte flüssig erzählt, sind in der Tat ernst. Die heutige Informationsschwemme werde aus drei Gründen zu ihrem Gegenteil, schreibt er:

. Denn wir leiden generell am Ueberfluss an Ueberinformation.
. Deshalb merken wir auch die Nicht-Information in wichtigen Fragen gar nicht.
. Und wir lassen uns durch Pseudoinformationen der Wissenstechnokraten ablenken.

Doch dann kommt eine weit hergeholte Begründung: Angefangen hat nach Otte, einem gefragten Vortragsredner, alles mit dem Lebensmittelvertrieb. McDonald habe gezeigt, wie man unqualifiziertem Personal, das die Waren güstiger denn je unter die Leute bringe, Geschäfte mache. 70 Milliarden Euro Umsatz gehe in der Branche so über den Ladentisch. Und verderbe zunehmend die ganze Gesellschaft – und Kommunikation. Denn formalisierte Vorgaben und systematische Kontrollen in allen Lebenslagen seien es, was uns das Denken abgewöhnt haben und uns alle dumpf machen.

Im Buch des Börsen-Gurus liesst sich das alles wie ein Fortsetzungsroman. Es kommt einem fast vor, die gesammelten Kolumnen vorgeführt zu bekommen, um sie im Schnellgang konsumieren zu können. Das riecht dann fast schon ein wenig wie im McDonald: “Was möchten Sie?” – “Kapitalismuskritik!” – “Hier! Der nächste Bitte!” – “Gute Moral!” – “Gut so, macht 5.50”. Und so fort. Symobolische sprochen ist man im Buch von Otte schnell zuvorderst in der Schlange, hat seinen Burger, isst ihn, und wird doch nicht satt.

Schade!, sage ich da, denn was analytisch ordentlich beginnt, verkommt zur sattsam bekannten pauschalen Mainstream, ohne schlauer zu machen. Er habe noch keine eigentliche Theorie der Informationsüberschwemmung entwickelt, sagt Anlageberater Otte über sich selber, auch keine Rezeptologie dagegen, fügt er am Schluss des Buches bei.

Dem ist eigentlich nichts beizufügen.

Ausser die Frage: Kommt es nun zum Informationscrash, ja oder nein?

Claude Longchamp

Sekundärzitierungen von Umfragen sind so eine Sache …

Wer kennt das nicht: 10, 50 oder 100 Menschen stehen in einer Reihe. Der Erste sagt dem Zweiten etwas, sodass es die anderen nicht hören. Dann ist der Zweite gegenüber dem Dritten dran und so fort. Der Letzte berichtet dann dem Ersten, was er über ihn gehört habe. Zum Staunen aller verändert sich die Botschaft durch ihre Weitergabe bis ins Unkenntliche.

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Kommunikationsprobleme sind auch in der Vermittlung von Studienergebnissen häufig, wenn man mehr aus den Resultaten machen will, als möglich ist.

“24 Heures” publizierte letzte Woche eine Umfrage von MIS zum Verhältnis von SchweizerInnen zu Muslimen. Auf einen Nenner gebracht, lautete das Ergebnis: Ein Muslim kann ein guter Schweizer sein. Dem Islam als Ganzes stehen die BewohnerInnen des Landes aber distanziert gegenüber.

“32 – 38 – 24”, so lauten die Zahlen für ein positives, neutrales oder negatives Verhältnis zu Angehörigen des Islams gemäss MIS Befragung. Entsprechend sind die BewohnerInnen der Schweiz in vielen Frage, die den Islam betreffen, gespalten. In der Minarett-Frage sind 46 Prozent dagegen.

Fachmännisch gesprochen sind das alles Einstellungselemente: Bewertungen von Sachfragen, welche den aktuellen Informationsstand und die momentane Gefühlslage reflektieren. Da Entscheidungen auch Informationen und Stimmungen einer Kampagne reflektieren, können Prädispositionen und Entscheidungen identisch sein, müssen aber nicht.

Journalistisch ist das der Knackpunkt. Nicht selten wird alles mit allem gleichgesetzt! Denn besteht ein Zwang in den Medien, aus allen Umfragen vor Abstimmungen eine Prognose zu machen. Egal, ob auf gesicherter oder ungesicherter Basis.

Das konnte man Ende letzter Woche wieder einmal schön feststellen. Die Meinung zu Minaretten, wie sie “24 Heures” richtig wiedergab, wurde in “20 Minuten” zur unvermittelten Stimmabsicht über die anstehende Initiative. Eine Minderheit sei für Minarette, eine relative Mehrheit für die Initiative. “Rund zwei Wochen vor der Abstimmung seien noch 15 Prozent unentschieden”, lautete die Zusammenfassung der Studie.

In der österreichischen “Kleinen Zeitung” kams dann noch dreister: “Die Anti-Minarett-Initiative in der Schweiz hat gute Erfolgsaussichten”, wird der Artikel eingeleitet; übertitelt ist er mit: “Mehrheit für Anti-Minarett-Initiative”!

Quod erat demonstrandum: Mit jeder Weitergabe ändert sich die ursprüngliche Botschaft!

Claude Longchamp