Die Krux mit den Ueberhangmandaten

Nicht-Deutschen muss man das Wort “Ueberhangmandate” erläutern. Denn in Bern ist das unbekannt. Dafür wird in Berlin spekuliert, dass eine bürgerliche Regierung in Deutschland inskünftig alleine dadurch legitimiert sein könnte. Worum geht es?

Die Gesamtzahl der Sitze, die einer Partei in einem Bundesland zustehen, wird zunächst durch die Zweitstimme bestimmt. Hat eine Partei innerhalb eines Bundeslandes mehr Direktmandate, als ihr nach Zweitstimmen Mandate des Landeskontingents zustünden, entstehen Überhangmandate. Die Partei darf die zusätzlichen Sitze aus Überhangmandaten behalten, obwohl sie damit mehr Abgeordnete entsendet, als ihr eigentlich zustehen. Durch diese Überhangmandate erhöht sich die Zahl der Abgeordneten im Bundestag. Noch nie waren es mehr als 16 Mandate, die so zusätzlich zu den 299 Mandaten der Bundesländer und den 299 für Deutschland geschaffen wurden.

Der Friedrichshafener Politologe Joachim Behnke, Verfasser eines Standardwerkes zum deutschen Wahlsystem, gilt als einer der besten Rechner, wenn es um Ueberhangmandate im deutschen Bundestag geht. Demnach kann diesmall alleine die CDU/CSU mit 20 Ueberhangsmandaten rechnen. Forsa-Chef Manfred Güllner ist mit 14-18 etwas zurückhaltender; doch sein Kollege Richard Hilmer von Infratest dimap hält sogar noch mehr Ueberhänger für möglich.

Das kann absurde Folgen haben, insbesondere wenn sich die Volksparteien ungleich stark sind. So könnte die CDU/CSU bei einem Wählendenanteil von 35 Prozent durchaus mehr Direktmandat erringen, als ihr zustehen, während das bei der SPD aufgrund ihres voraussichtlichen Anteils von 25 Prozent weniger wahrscheinlich ist. In der Endabrechung kann es deshalb theoretisch sein, dass SDP, Grüne und Linke mehr Stimmen haben als CDU/CSU und FDP, aber weniger Mandate.

Für diesen Spezialfall hat Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits angekündigt, ohne Rücksicht auf Wähleranteile auf die parlamentarische Mehrheit zu setzen. Sie will Schwarz-Geld, auch wenn die Differenz nur eine parlamentarische Stimme beträgt und diese auf einem Ueberhangmandat basiert.

Unter veränderten Umständen haben die SchweizerInnen gerade eine vergleichbare Diskussion erlebt, deren Ergebnis allgemein umgekehrt gelesen wird. Im Schweizer Bundesrat sollen die Parteien ihre Ansprüche nur entsprechend im WählerInnen-Anteil, nicht aufgrund der Zahl Parlamentsabgeordneter anmelden können, hiess es letzte Woche in Bern. Wahrscheinlich auch, weil es in der Schweiz keine Ueberhangmandate gibt …

Claude Longchamp

Der Machtpoker ist eröffnet

Kaum sind die jüngsten Bundesratswahlen in der Schweiz vorbei, beginnen die Planspiele für den kommenden Machtpoker. Spätestens für das Wahljahr 2011 zeichnen sich verschiedene Angriffe auf die jetzige parteipolitische Zusammensetzung der Bundesregierung ab, denn es gibt 10 Ansprüche, aber nur 7 Sitze.

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Selbstredend fühlt sich die SVP als wählerstärkste politische Partei in der Schweiz untervertreten. Doch steht im Raum, dass sie daran nicht unverschuldet ist, hat sie doch Evelyne Widmer-Schlumpf aus der Partei ausgeschlossen. Mit einer Aufstockung auf zwei Sitze ist deshalb nur zu rechnen, falls sich die beiden zerstrittenen Parteien untereinander arrangieren oder die Bündnerin nicht mehr im Bundesrat ist. Das kann durch Rücktritt oder Abwahl erfolgen. Genau dieses Ziel verfolgt die SVP, braucht dafür aber nicht nur die FDP, sondern eine Mehrheit der Bundesverammlung. Ohne eine Avance zugunsten einer weiteren Partei geht das wohl nicht. Mit einem Angriff der SVP auf die BDP resp. auf Widmer-Schlumpf ist deshalb erst nach den nächsten Parlamentswahlen zu rechnen.

Spätestens mit der Vorbereitungen der jüngsten Bundesratswahlen wurde offensichtlich, dass die BDP ihre Position zwischen FDP und CVP hat und es sich mit beiden Parteien nicht verderben will. Schafft sie es 2011 nicht, elektoral vor den Grünen zu liegen, dürfte ihr Sitz in der Bundesregierung erheblich wackeln. Aus der ungemütlichen Situation könnte sich die Partei befreien, wenn sie sich an eine der beiden anderen bürgerlichen Regierungsparteien anlehnt. Momentan hat die CVP das grössere Interesse an einer solchen Allianz, könnte diese auf diese Weise das Zentrum verstärken und bei einem späteren Rücktritt Widmer-Schlumpf den frei werdenden Sitz für sich reklamieren. Ganz auszuschliessen sind solche Ueberlegungen aber auch bei der FDP nicht, jedenfalls dann nicht, sollte es zu einem vorzeitigen Rücktritt von Hans-Rudolf Merz kommen und es der FDP misslingen, den Sitz selber zu behalten. Denn dann könnte es auch für die FDP interessant werden, mit der BDP zu koalieren, um sich bei der Nachfolge der Bündner Bundesrätin selber zu empfehlen. Wie auch immer, dieses Planspiel dürfte bis zu den Wahlen 2011 aktuell bleiben. Fast sicher steht es danach zur Debatte.

Sollte Hans-Rudolf Merz als Folge der anstehenden Aufarbeitung der Libyen-Krise zurücktreten, ist mit dem Angriff der Grünen zu rechnen. Ihre 2+1-Strategie lautet, mit der SP die ökologisch-soziale Linke im Siebnergremium zu stärken. Begründet werden kann es mit dem eigenen WählerInnen-Anteil, sind die Grünen nach Nationalratsproporz näher an einem Sitz als die FDP an zwei Sitzen. Die Schwäche der Strategie besteht indessen darin, dass letztlich keine dritte Partei an einem solche Vorgehen Interesse haben dürfte: die FDP sicher nicht, die SVP nicht und die CVP kaum. Bleibt ein grüner Angriff auf die rote SP; das könnte die rechte Seite durchaus freuen, würde links aber kaum verstanden.

Damit eröffnen sich vier Szenarien für die kommenden zweieinhalb Jahre:

Erstens, bis Ende 2011 kommt es angesichts des multiplen Drucks auf die Bundesratszusammensetzung zu keinem Rücktritt und damit auch zu keiner weiteren Bundesratswahl vor den nächsten Parlamentswahlen. Alles bleibt, so wie es ist, selbst wenn viel geredet und geschrieben wird.
Zweitens, bei den kommenden Parlamentswahlen gibt es klare Gewinner und Verlierer, sodass es starke Hinweise gibt, wer im Bundesrat vermehrt oder abgeschwächt vertreten sein sollte. Davon könnten die SVP und die Grünen profitieren, die BDP und die SP jedoch die Zeche bezahlen.
Drittens, die Bundesratswahlen von 2011 verlaufen nicht vorhersehbar; sie bringen das Ende der Konkordanz unter den politisch divergenten Lagern. Das politische System entwickelt sich in Richtung Regierung/Opposition, wobei voraussichtlich die Linke als Erstes in den sauren Apfel beisst.
Viertens, die Zahl der Sitze im Bundesrat wird mit der Regierungs- und Departementsreform erhöht, sodass Platz für eine neue Konkordanzformel entsteht – zum Beispiel so: die drei grösseren Parteien je zwei, die drei kleineren je einen Sitz erhalten.

Und noch etwas: Die zurückliegende Bundesratswahl hat gelehrt, dass es nicht nur um parteipolitischen Ueberlegungen geht, sondern auch um solche der Sprachregionen. Eine Partei kann ihre Chancen, bei einer Wahl zu gewinnen, erhöhen, wenn sie von Beginn weg nicht nur an Sitze, sondern auch an Personen denkt, die dem entsprechen.

Claude Longchamp

Ueber die positiven Zeichen des Entscheids für Burkhalter hinaus Bundesratswahlen neu denken

Drei Tage nach der Wahl von Bundesrat Didier Burkhalter legt der emeritierte Politologie-Professor Wolf Linder eine erste Diagnose zu den Bundesratswahlen der Gegenwart vor, und macht er im newsnetz-Interview auch Vorschläge, wie die bisherigen Strukturen und Prozesse weiter entwickelt werden müssten, um wieder stabile Regierungsverhältnisse zu garantieren.

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Wolf Linder, zwischen 1987 bis 2009 Inhaber des Lehrstuhles für Schweizer Politik in der Bundesstadt Bern

Burkhalters Wahl habe drei positive Zeichen gesetzt, bilanziert Wolf Linder, in jungen Jahren SP-Politiker und Thurgauer Richter: Alle Parteien hätten betont, Konkordanz sei unverändert wichtig. Mehrere hätten auch transparent gemacht, wie sie stimmen werden, um Intrigen zu vermieden. Und der Bundesrat habe in seinem Herzen einen Anhänger der Regierungsreform mehr.

Der Verfasser des Standardwerkes “Schweizerische Demokratie” widerspricht der Auffassung, die Konkordanz sei heute brüchig, betont aber ihren anspruchsvollen Charakter. Jahrelang habe es nur die bürgerliche Konkordanz gegeben. Heute gäbe es wechselnde Mehrheiten aufgrund punktueller Absprachen im Bundesrat. Genau deshalb zieht Linder die arithmetische Konkordanz vor. Sie verhindere Diskriminierungen der politischen Ränder, weil sie sich parteipolitisch neutral auswirke. Dabei bevorzugt der Politologe die Parteistärken als Entscheidungsgrundlage, weil sie dem Demokratie-Prinzip verpflichtet seien.

Um den Handlungsspielraum des Parlaments nicht einzuschränken, wendet sich der emeritierte Berner Professor gegen jede Vorauswahl von KandidatInnen durch ihre Parteien. Ziel der Bestrebungen, Bundesratswahlen wieder berechnbarer zu machen, sei die gegenseitige Sitzgarantie bei freier Personenwahl. Das müsse letztlich auch für Abwahlen gelten.

Wolf Linder erwartet, dass eine Stabilisierung der parteipolitischen Beistzansprüche nicht auf der alten 2:2:2:1-Formel zustande kommt, sondern erst dann, wenn die erstarkten Grünen ihren Platz im Bundesrat gefunden haben. Aus seiner Sicht werde das zu Lasten der Mitte-Parteien gehen. Darüber hinaus schliesst er nicht aus, dass dereinst auch die SVP drei der sieben Sitze beanspruche könnte. Die Ansprüche von Parteien, die sich aus WählerInnen-Gewinnen ergeben, müssten allerdings nicht sofort eingelöst werden, sondern erst, wenn die Parteistärken über mehr als eine Wahl hinaus konsolidiert seien.

Bezogen auf die Regierungsreform fordert Linder eine aktivere Rolle des Bundespräsidenten. Verbessert werden müsse die Kommunikation, Verstärkung brauche auch die Zusammenarbeit. Die Rolle des Vorsitzenden werde inskünftig sein, nicht selber Aussenpolitik zu betreiben, sondern die vielfach mit dem Ausland verbundenen Geschäfte aller Departement besser zu koordinieren. Das Hauptproblem ortet der jüngste Pensionär unter den Politologen im Mangel an Zeit, um aus der departementalen Perspektive heraus eine kohärente Gesamtpolitik des Bundesrates zu entwickeln.

Wolf Linder entwickelt damit über die ersten Kommentare hinaus eine ausgeglichene Gesamtschau auf den Stand und die Perspektiven von Bundesratswahlen. Er ist und bleibt ein Anhänger der (grossen) Konkordanz als System und der wechselnden Mehrheiten, die flexible Politik ermöglichen. Polarisierungen steht er nicht ablehnend gegenüber, erwartet aber eine höhere Koordinationsleistung. Noch nie so pointiert gehört habe ich die Forderung, die Bundesversammlung in ihrer Personenwahl (ausser hinsichtlich des selbstredenden Sprachenproporzes) gar nicht einzuschränken.

Claude Longchamp

Meinungsumschwung gegenüber Bundespräsident Merz bestätigt

Wirklich überrascht ist man nicht, wenn man das heutige Politbarometer von “Sonntagszeitung” und “Le Matin” sieht. Doch hat man nun eine Bestätigung für den geradezu rapiden Meinungsumschwung der SchweizerInnen gegenüber ihrem gegenwärtigen Bundespräsidenten. Eine Rückblick auf die Ursachen.

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Doris Leuthard und Eveline Widmer-Schlumpf sind die gegenwärtigen Zukunftspolitikerinnen im Urteil der Schweizer Stimm- und Wahlberechtigten.

Im Herbst 2008 erlitt FDP-Bundesrat Hans-Rudolf Merz einen Herzstillstand. Doch kehrte er nach einigen Wochen absenz voller Optimismus ins Leben und in die Politik zurück, und wurde er turnusgemäss neuer Bundespräsident für das Jahr 2009.

Trotz Krisensignalen auf den globalen Finanzmärkten, horrenden UBS-Stützzahlungen und Aengsten der SchweizerInnen, ihre Arbeitsstelle zu verlieren, ritt Bundespräsident Merz im ersten Politbarometer des Jahres 2009 auf einer Popularitätswelle. 78 Prozent der repräsentativ ausgewählten Stimm- und Wahlberechtigten fanden im Februar dieses Jahres, er sei ein Politiker, der inskünftig eine wichtige Rolle einnehmen solle.

Die Aushandlung von Doppelbesteuerungsabkommen wegzukommen wie auch die Libyen-Krise wegen der vorübergehenden Verhaftung des Sohnes von Staatschef Moammar al-Qhadafi wären solche Profilierungsmöglichkeiten gewesen. Doch sie missrieten dem Appenzeller gründlich: Das erste Betätigungsfeld galt als reine Notmassnahme, um von der grauen Listen der OECD gestrichen zu werden. Und das zweite geriet zum totalen Fiasko für den unerfahrenen “Aussenpolitiker” Merz.

Genau das zeigt nun auch das Politbarometer, das Isopublic aufgrund einer Befragung in den letzten zwei Wochen bei 1002 repräsentativ ausgewählten Personen erstellt hat. Die Superwerte von Merz im Frühling sind auf 59 Prozent im Juni gesunken und haben zwischenzeitlich einen Tiefststand von 47 Prozent erreicht. Von der ersten Stelle unter den amtierenden Bundesräten wurde er bis an die sechste Stelle durchgereicht. Damit ist er nur noch vor seinem Parteikollegen Pascal Couchepin, der seinen Rücktritt bereits genommen hat.

Claude Longchamp

13 Stimmen zur Lage der Nation: Herzlichen Glückwunsch Schweizerische Eidgenossenschaft zum Geburtstag!

Am 12. September 1848 wurde die erste Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Kraft gesetzt. Das ist unser eigentlicher Geburtstag. Doch: In welcher Verfassung ist die Schweiz? Die “Schweizer Monatshefte” haben bei 13 AutorInnen des Landes nachgefragt. Hier ihre Thesen zur Lage der Nation – quasi als Diskussionsgrundlage zum 161. Geburtstag!

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Peter Ruch: “Standfestigkeit ist von gestern. Gefallenwollen liegt im Trend. Das Gesicht wahren. sich rechtfertigen. So nimmt der Etatismus zu. Und eigenverantwortliches Handeln ab. Einspruch!”

Andreas Rieger: “Die Schweiz hat sich als Land der Rosinenpicker und Profitjäger profiliert. Schade. Denn wir hätten viel mehr zu bieten. Es braucht eine Rückbesinnung auf die bürgerliche Mission von einst aus gewerkschaftlicher Sicht.”

Martin von Orelli: “Die strategische Wende von 1989/90 hat die schweizerische Sicherheitspolitik durcheinandergebracht. Seither wird reformiert. Und debattiert. Was fehlt, ist eine nationaler Konsens über den Auftrag der Schweizer Armee.”

Karin Keller-Sutter: “Die Schweiz konnte sich dank der guten Sicherheitslage lange viele Freiheiten leisten. Doch bröckelt das gesellschaftliche Fundament. Der Staat kann nichts tun. Das können allein die Individuen. Doch wollen sie auch?”

Max Frenkel: “Die Medien sehen sich als Garanten der Demokratie. Angesichts ihres Wandels zur Unterhaltungsindustrie ist dieser Anspruch bloss noch eine Anmassung. Die angeblichen Hüter sind politische Neutren mit etwas Linksdrall und ohne Massstäbe.”

Cédric Wehrmuth: “Die Politik hat in der Schweiz nicht mehr viel zu sagen. Die Wirtschaft triumphiert – auch in der Krise, die sie selber verschuldet hat. Das kann nicht sein. Das darf nicht sein!”

Lukas Reimann: “Wir haben den Staat ausgebaut. Die Bürokratie. Die Gesetze. Die Regulierungen. Dabei wäre weniger mehr. Es ist Zeit für eine Politik, die wieder den Menschen in den Mittelpunkt stellt.”

Matthias Jenny: “Der Staat ist auch in der Schweiz auf dem Vormarsch. Das ist nicht nur der Erfolg der Linken. Auch die Bürgerlichen haben wacker mitgewirkt. Eine Kritik bürgerlicher Politik aus liberaler Sicht tut Not.”

Lena Schneller: “Reagieren geht über studieren: so oder ähnliche könnte das Motto unserer Landesregierung lauten. Die oberste Exekutivbehörde ist sich bloss darin einig, dass sie nicht einig ist. Wir brauchen eine Regierungsreform. Je früher, desto besser.”

Martin Janssen: “UBS; Bankgeheimnis, schwarze Listen: die Landesregierung war nicht vorbereitet. Sie ist es noch immer nicht. Dabei hätte die Schweiz Verhandlungsspielraum. Sie müsste ihn bloss nutzen.”

Katja Gentinetta: “Die Schweizer Wirtschaft handelt global. Die Politik jedoch denkt lokal. Es braucht Führungskräfte, die diese Spannung aushalten. Gibt es sie auch?”

Peter Gross: “Wir leben in einer freiheitlichen Marktgesellschaft. Das ist gut so. Aber die Freiheit hat ihren Preis. Wir brauchen nicht mehr Führungsstärke. Wir brauchen mehr Herzenschwäche.”

Na denn, happy birthday Switzerland!

Claude Longchamp

Der unverrückbare Kern der Konkordanz

Die Schweiz hatte mal eine Zauberformel zur Besetzung des Bundesrates. Zuerst verflog der Zauber, jetzt schwindet auch die Strahlkraft der Formel. Das ist der Zeitpunkt, Konkordanz neu zu verstehen.

Nach 2003 richteten sich die Parteien mehrheitlich an der arithmetischen Konkordanz aus. Die Parteistärke allein solle den Ausschlag geben, wie sich der Bundesrat zusammensetzt. Wie er dabei funktioniert, sei nicht so wichtig. Die aktuelle Fortsetzung dieser Diskussion steckt im Patt: Die FDP macht die Wählerstärke zum Massstab, und die CVP stützt sich auf die Fraktionsstärke.

Vordergründig klärt das Wahlbarometer der SRG SSR idee suisse, das heute erscheint, diesen Parteienzwist nicht. Denn sowohl WählerInnen-Anteile wie Fraktionsstärken interessieren nur Minderheiten. Selbstredend sind Prozentwerte bei der FDP-Wählerschaft wichtiger, Sitze im CVP-Elektorat. Und es sind auch nur Minderheiten, die sich für eine ganz bestimmte Partei ausprechen. Unter ihnen liegt die FDP vorne.

Hintergründig erhellt die Umfrage unter den Wahlberechtigten aber, in welche Richtung sich das Konkordanzverständnis des Elektorates entwickelt. Das Numerische an der Konkordanz ist keine Richtschnur mehr, eher noch eine negative Schablone: Die vier grösseren Parteien sollen, so die Mehrheit der Befragten, auf jeden Fall im Bundesrat vertreten sein. Ihre Sitzzahl genauso wie die fallweise Berücksichtigung anderer Parteien hängt jedoch von der Person der BewerberInnen ab.

Damit sind wir bei der einen Lehre aus dem aktuellen Wahlbarometer: Gefragt sind heute Persönlichkeiten. Man sehnt sich nach Politiker und Politikerinnen, die aufgrund ihrer Ausstrahlung, ihres Auftritts und ihrer Auffassungen zu überzeugen vermögen. Sie sollen das Land regieren. Die zweite Lektion lautet: Gefordert wird, dass die Parteien, die im Bundesrat vertreten sein wollen, zur Zusammenarbeit gewillt sind und dass sie – gerade unter dem Eindruck weltwirtschaftlichem und aussenpolitischem Druck – bereit sind, gemeinsam ein Programm zu realisieren, das der Schweiz dient. Bundesratsbeteiligungen sind nicht mehr eine Frage des Rechenschiebers, vielmehr eine der vertretenen Inhalte.

Das ist der unverrückbare Kern der Konkordanz, wenn es inskünftig um Bundesratswahlen geht.

Claude Longchamp

Zum Bericht

Was die Schweiz aus der Affäre Merz/Qadhafi lernen muss

Die Schweiz muss lernen, sich auf andere als gewünschte Umwelten einzustellen und ihre Angriffsflächen zu beiseitigen, ohne sich selber aufzugeben, analysiert Luciano Ferrari die gegenwärtige Krise.

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Eine intelligente Diagnose der fortschreitenden Affäre liefert Luciano Ferrari, Auslandchef des Tages-Anzeigers.

Das Vorgehen von Merz sei falsch gewesen, schreibt der Auslandschef des Tages-Anzeigers im heutigen Newsnetz. Denn die Lösung, die der Bundespräsident hinnahm, hätte man auch ohne Aufwand haben können. Dennoch macht er nicht mit im allgemeinen Merz-bashing. Ihm geht es darum, wie ein solches Fehlverhalten inskünftig verhindert werden kann.

Auch Moammar al-Qadhafi beschäftigt sich Ferrari nur kurz. Die Schweiz, so der gelernte Historiker und Politologe Ferrari, erfahre heute gar keine spezielle Behandlung. Grossbritannien und Italien würde viel schlimmer drangsaliert. Doch werde das in der innenpolitischen Debatte nicht erkannt.

Der erste Grund hierfür, sei die Bedeutung der Bürgerrechte für die Existenz der Schweiz, des Volkerrechts für den Schutz des Kleinen gegen die Grossenm, un die Rechtsstaatlichkeit für das friedliche Zusammenleben der Willensnation.

Angriffe auf ihre Rechtsordnung verunsicherten deshalb die Schweiz nachhaltig. Es herrsche der Eindruck vor, man müsse sich dem Ausland beugen. Mit dem Kniefall des Bundespräsidenten gegenüber einem Schurkenstaat sei das für alle SchweizerInnen deutlich geworden.

Zur inneren Verunsicherung komme die äussere als zweiter Grund hinzu. Die Globalisierung sei an ihre Grenzen gestossen. Es wachse wieder die Rolle der Nationalstaaten. Die sich so formierende Weltordnung habe keine eindeutige Führung mehr; deshalb müsse man sich auf ein anhaltend fluides Umfeld einstellen.

Nötig sind nach Ferrari zwei andere Lektionen:

Erstens müssten die intern geltenden Gesetze auf die Gepflogenheiten abstimmt werden, die weltweit anerkannt seien. Die Schweiz müsse rechtsstaatlich mit der Welt ins Reine kommen, dann aber auf ihrem Recht beharren.

Zweitens müssten die Aussenbeziehungen auf eine neue Grundlage gestellt werden. Der Bundespräsident, der jedes Jahr wechselt, sei dafür gänzlich ungeeignet, denn Aussenpolitik bedürfe langfristige Kohärenz, garantiert durch hoch vernetzte Profis.

Aus alledem folgert der Tages-Anzeiger von heute, es brauche ein ständiges Vize-Bundespräsidium in Form des Verstehers oder der Vorsteherin des EDAs.

Damit die Schweiz im Ausland wieder ein Gesicht bekommt, und der Bundespräsident nicht ohne ein solches herumlaufen muss, füge ich bei.

Claude Longchamp

Neue Staatsleitungsreform zur richtigen Zeit jedoch mit falschem Vorbild

Die Schweizer Oeffentlichkeit schaut gebannt auf die präsidial angekündigte, aber ausstehende Rückkehr der Geiseln aus Libyen. Derweil fand im Bundesrat eine Grundsatzdebatte über eine Neuauflage der Staatsleitungsreform statt.

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Vorwärts in die Vergangenheit: Der Bundesrat lässt prüfen, die Führung des EDA an das Bundespräsidium zu knüpfen, wie das 1848 schon einmal der Fall war.

Die Vorgeschichte ist bekannt. Als zur Jahrtausendwende die neue Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Kraft gesetzt wurde, beerdigte man die parallel dazu angestrebte Staatleitungsreform.

Auf Initiative von Evelyne Widmer Schlumpf diskutierte der Bundesrat an diesem Mittwoch eine kleine Neuauflage eben dieser Reform. Ihr Departement, das EJPD, wurde beauftragt, bis in einem halben Jahr Vorschläge zu folgenden Punkten zu konkretisieren: häufigere Grundsatzdebatten und Aussprachen zu wichtigen Themen, eine flexiblere Gestaltung der Bundesratssitzungen, vermehrte schriftliche Beschlüsse bei Geschäften ohne Diskussionsbedarf und die Vertretung der Bundesräte im parlamentarischen Geschäftsverkehr.

Das alles kann auf der bestehenden Verfassungs- und Gesetzesgrundlage erreicht werden. Ausdrücklich anders ist die Ausgangslage bei der ebenfalls angestrebten Stärkung des Gremiums durch einen Bundespräsidenten oder eine Bundespräsidentin mit längerer Amtsdauer. Denn diese wird durch die geltende Verfassung auf jeweils ein Jahr beschränkt.

Ohne Zweifel handelt es sich dabei um die wichtigste institutionelle Aenderung, welche der Bundesrat in eigener Sache vorschlägt. Namentlich nimmt sie den weit verbreiteten Ruf auf, die Führung des Bundesrates als Gremium zu verbessern. Das alleine verdient angesichts des aktuellen Zustandes Unterstützung.

Weniger gut in der Landschaft platziert sich allerdings der Zusatz, auf den ältestens Ladenhüter unter den Bundesinstitutionen zurückgreifen zu wollen. Die Koppelung des Bundespräsidiums an die Führung der Geschäfte im Aussendepartement galt schon 1848, wurde aber als erste Massnahme zu Verbesserung der Exekutivarbeit schon im 19. Jahrhundert abgeschafft.

Ausgerechnet das will der jetzige Bundesrat wieder ausarbeiten lassen. Und das in einem Moment, wo wir alle mit bassem Erstauen erleben, wie unsere Regierung (nicht) funktioniert, wenn der Bundespräsident Aussenpolitik mit der eigenen Faust betreibt.

Claude Longchamp

Zur Symbolik der Schulreise unserer BundesrätInnen

Die Schulreise unserer BundesrätInnen ist ein Teil der schweizerischen Politkultur, die gleichzeitig auch immer eine Standortbestimmung vor der Sommerpause der Politik ist.

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Bundespräsident Hans-Rudolf Merz im Auslauf der Rodelbahn im appenzellischen Jakobsbad

Für einmal hat der/die BundespräsidentIn mehr zu sagen als die andern Mitglieder der Bundesregierung. Denn er oder sie bestimmt, wohin die ein- bis zweitägige Reise der sieben Weisen in der Schweiz geht. Doch ist er oder sie dabei nicht ganz frei, denn die Tradition verpflichtet, in die Heimat des amtierenden Staatsoberhauptes zu wandern. Das Programm, das er oder sie dabei auswählen darf, lässt jedoch genügend Spielraum für Akzentsetzungen, welche die mitreisenden Medien auch gerne aufnehmen.

Hans-Rudolf Merz, Bundespräsident 2009, konnte so – frei von Sorgen als Finanzminister und höchster Repräsentant der Schweiz – einen Ausflug in “sein” Appenzellerland vorbereiten. Im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit steht heute das Rodeln auf der Bahn beim Jakobsbad.

Für die einen ist es, wie wenn man durch die Gegend rast und damit fehl am Platz; für die andern zeigt sich, dass fast jedes einzelne Mitglied des Bundesrates für sich gut im Schuss ist, daraus aber kein Team wird, wenn einzelne wie Micheline Calmy-Rey aussen vor bleiben.

Nicht ohne Augenzwinkern sind die Kommentare, welche im event die Talfahrt des Bundesrates mit seiner Bankenpolitik gespiegelt sehen.

So oder so, es ist eine Geschichte, die den Uebergang zum politischen Sommerloch in der Schweiz anzeigt. Notabene auch bei mir, denn ich verabschiede mich heute in die Ferien im hohen Norden, von wo aus man die helvetische Politik mit etwas noch grösserer Distanz verfolgen kann, wenn man mag.

Claude Longchamp

Erprobt und entwicklungsfähig, lautet die Bilanz nach 10 Jahren mit der neuen Bundesverfassung

Am 18. April 2009 jährt sich die Entscheidung zur neuen Bundesverfassung der Schweiz zum zehnten Mal. Der Basler Historiker Georg Kreis hat das zum Anlass für eine Standortbestimmung genommen und 8 JuristInnen sowie 2 Sozialwissenschafter zu Bilanzen aufgefordert. Hier die Uebersicht.

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Auslöser für das kleine Büchlein, das es seit einigen Tagen gibt, ist der Stolz, dass es nach jahrelangen Vorarbeiten zu einer eindeutigen Zustimmung in der Volksentscheidung gekommen ist. Der reicht allerdings nicht so weit, um von kritischen Gedanken zum Potenzial der Verfassungsrevision für weitere Reformarbeiten abzulenken.

Die Stimmen der JuristInnen

Magistral eröffnet als Bundesrat Arnold Koller die Uebersicht über die vollbrachten Leistungnen. Die formelle Nachführung des Verfassungsrechts habe mehr als erwartet gebracht, sagt der Vater der Reform. Die neue, übersichtliche Systematik habe die Einfügung weiterer Reformpakete wie die Justizreform, den Finanzausgleich und die Bildungsartikel wesentlich erleichtert. In den Schulen würde die lesbarer gewordene Verfassung vermehrt eingesetzt, und im Ausland habe sie Respekt und Anerkennung gefunden. Heinrich Koller, weiland sein Chefbeamter, doppelt nach: Wenn man bedenke, dass viele der damals am Werk Beteiligten es später in Verwaltung, Gerichten, an Universitäten und im Journalismus zu Ruhm und Ehre gebracht haben, werde deutlich, über welch beeindruckendes Potenzial die Bundesverwaltung während dieses Reformprozesses verfügte (und immer wieder verfüge).

Lob bekommt die Revision der Bundesverfassung Bernhard Ehrenzeller, St. Galler Professor für öffentliches Recht, weil sie die Kantone zu einer starken Vereinheitlichung ihres Verfassungsrechts veranlasst habe. Als Ergebnis der jahrenlangen Reformbemühungen in Bund und Kantonen zeige sich heute das Verfassungsbild eines koordinierten schweizerischen Bundesstaates, der genügend Platz für Experimente in den Kantonen, zwischen ihnen und im Verhältnis zum Bund lasse.

Aehnliches konstatiert auch Thomas Cottier auf dem Gebiet der Integrationspolitik. Deshalb sei die Bundesverfassung kein Hemmschuh, vielmehr die Basis für die Beteiligung der Schweiz am europäischen Grossprojekt. Wenn das nicht auf Anhieb gelinge, sei das eher in der poltischen Kultur der Schweiz begründet als im Verfassungsrecht. Vielleicht, lässt der Berner Europarechtler gelten, habe die neue Bundesverfassung aber zu wenig traditionsorientierten Staatsbildern, politisch motivierte Mythen und Ideologien aufgeräumt.

Damit ist man im Sammelband fast nahtlos an die Schwelle der kritischen Betrachtungen geführt worden. Zuerst fällt einem da die von alt Ständerat Rene Rhinow (und Martin Graf) auf. Die anlässlich der Reform ’99 angekündigte Staatsleitungsreform sei bis heute nicht verwirklicht worden; sie scheitere unverändert am nachhaltigen Widerstand des Bundesrates. Die nachgelagerten Bereichsreformen für direkte Demorktie, Justiz und Finanzen seien nur teilweise erfolgreich gewesen, und der Funke der Verfassungspflege aus der Nachführung sei gar nicht institutionalisiert worden. Schlimmer noch, man habe mit der neuen Bundesverfassung nicht vermeiden können, dass die gegenwärtige politische Landschaft bedenkliche Tendenzen eines verminderten rechtsstaatlichen Bewusstseins zeige.

Kritisch stuft auch der Bundesbeamte Luzius Mader das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen ein. Das 2008 geschaffene Haus der Kantone – ein Symbol der gestärkten Bedeutung des Föderalismus – könne nicht darüber hinweg täuschen, dass die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Kantonen unbefriedigend geblieben sei. Höchst umstrittene rechtspolitische Debatten über Massnahmen des Bundes gegen Hooliganismus, gegen gefährliche Hunde oder über Rauchverbote seien beredete Beispiele für den gegenwärtigen Zustand, den man nicht totschweigen könne. Gleiches gelte auch für die Vernachlässigung von Kantonsaufgaben, etwa der inneren Sicherheit, die fast bedenkenlos bisweilen an den Bund, bisweilen an private Schutzorganisationen delegiert werde.

Schliesslich verweist auch die Freiburger Europarechtlerin Astrid Epiney auf ungelöste Probleme im Verhältnis zum Integrationsprozess der Schweiz. Aufzeigen lässt sich das an der Behandlung völkerrechtswidriger Initiativen. Ihr bleibt angesichts verbliebener Lücken vor allem die Hoffnung auf befriedigende Lösungen in der Zukunft, während der vormalige Präsident des Bundesgerichts Giusep Nay konkrete Vorschläge prüft, wie das Rechtsstaatsprinzip unter Achtung der direktdemorkatischen Rechte verwirklicht werden solle.

Die Stimmen der Sozialwissenschafter
Vor diesem spannenden tour d’horizont von Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsreform in der Schweiz übernimmt Georg Kreis die Aufabe, den konkreten Entscheidungsprozess bis 1999 nachzuvollziehen. Kurt Imhof, Soziologe in Zürich, reiht das in die bisherigen Verfassungsrevision auf Bundesebene ein, um die Pfadabhängigkeit der jüngsten Reform im Lichte der Veränderungen von 1848 und 1874, nicht aber von 1935 zu spiegeln.

Die eigentliche Pointe setzt aber der Politologe Leonhard Neidhard im anregenden Band: Dem Palaver über Institutionenreform, wie sie aktuell beim Bundesrat geführt werde, mag er kein weiteres Wort hinzufügen. Viel wichtiger ist ihm, warum es sich ein Land wie die Schweiz leisten könne, Verfassungsrevisionen fast gänzlich ohne das Volk durchzuziehen. Sein Schluss besteht im Hinweis auf eine stabile Metaverfassung, die es in der Schweiz gebe und die auf der kommunalen und kantonalen Ebene auf intensiver Eingrenzung basiere. Sie lasse kleine Veränderungen regelmässig zu und bestimme so das effektive politische Leben. Deshalb würden Reformvorhaben immer mehr versprechen als einhalten.

Die mentale der Verfassung der Schweiz sei in jüngster Zeit auch nicht durch den Nachvollzug des eigenen Verfassungsrechts beeinflusst worden. Vielmehr sei die gut regulierte Willensnation Schweiz zeitgeschichtlich gesehen nur mit der EWR-Entscheidung von 1992 wirklich aufgerüttelt worden. Doch auch da beginne inzwischen jener Bilateralismus zu wirken, der das schweizerische Verhältnis von Kulturräumen und Kantonen zueinander präge. Man sei klein, meist unbedeutend und störe nur selten. Das erlaube es, flexibel mit allen zusammenzuarbeiten. Und so gehöre man faktisch dazu, ohne es zu merken – ganz wie es die Appenzeller in der Eidgenossenschaft schon lang machen würden.

Ein wirklich kunterbuntes Geburtstagsgeschenk, das die Prominenz der Bundesverfassung da gemacht hat!

Claude Longchamp

Georg Kreis (Hg.): Erprobt und entwicklungsfähig. Zehn Jahre neue Bundesverfassung, NZZ-Verlag, Zürich 2009