Das Mittel missbraucht!

Wie selten bin ich irritiert über die gestern veröffentlichte und heute wieder zurückgezogene Volksinitiative zur Wiedereinführung der Todesstrafe in der Schweiz.

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Eines will ich gleich klar stellen: Die bisherige Diskussion über die Einschränkung des Geltungsbereiches von Volksinitiativen verfolge ich mit Skepsis. Zwar wäre es besser, problematische Initiativen zu verbieten, bevor man die Unterschriftensammlung hierzu zulässt. Denn die jetzige Regelung entbehrt nicht der Schlitzorhigkeit. Man lässt Komitees sammeln, in der Hoffnung, sie schaffen es nicht, die nötigen Unterschriften beizubringen, oder der Souverän zeige schon Vernunft und verwerfe das Begehren in der Volksabstimmung. Klar besser als dieses unwürdige Taktieren wäre es, eine vorgängige Prüfung an klare Kriterien für die Zulassung von Volksinitiative zu knüpfen, die juristisch gefasst, allenfalls auch so einklagbar wären, als dass sie versteckter politischer Natur sein. Denn es bleibt der Verdacht, dass mit der Verbotsdiskussion auch politische Absichten verbunden sind. Doch damit erreicht man gar nichts – ausser dass ein Stellvertreterkonflikt herbeigezüchtet wird. Die Minarettsabstimmung lässt grüssen.

Mit dieser absolut nötigen Vorbemerkung ist meines Erachtens alles gesagt, was für das Projekt “Todesstrafe per Volksinitiative” vorgebracht werden kann. Denn in der Sache muss Rachejustiz in einem zivilisierten Staat an sich untersagt bleiben. Und genau um den damit unterdrückten Impuls in uns geht es mit der Verhinderung von Todesstrafen. Einmal ausgelöst, lässt er sich nämlich kaum mehr bremsen.

Die Abschaffung der Todesstrafe gehört zudem zu den eigentlichen Leistungen des Bundesstaates. Schlimm genug, dass man in Phasen der wirtschaftlichen Krise im 19. Jahrhundert von diesem Grundsatz wieder abwich. Denn der Kontext erhellt die Absicht: Wo wirtschaftliche Schwierigkeiten gesellschaftliche Spannungen erzeugen und Blitzableiter zugelassen werden, scheut man die Auseinandersetzung über die Ursachen von Problemen und der Behebung. Genauso wenig gerechtfertigt ist es, angesichts militärischer Bedrohungen, Konformität mit dem Staat ohne Ueberzeugungsarbeit herstellen zu wollen, dafür auf die abschreckende Wirkung, welche Todesstrafen auf labile Typen haben, zu setzen.

Ganz schlimm finde ich, dass die Provokationskultur in der gegenwärtigen Oeffentlichkeit so weit gediehen ist, dass man auch vor dem Abbau von Menschenrechten nicht mehr halt macht und dass dafür auch bedenkenlos Volksrechte missbraucht werden. Anders kann ich das jüngste Volksinitiativen-Projekt in der Schweiz nicht verstehen. Denn das Mittel der Provokation kann in der Werbung eingesetzt werden, es funktioniert auch in dem auf Aufmerksamkeit getrimmten, politischen Ereignismanagement bestens. Denn ein Teil der Medien lässt sich immer dafür bezahlen oder findet den Dreh, das Thema in die redaktionellen Spalten aufzunehmen, um sich selber an der so erzeugten öffentlichen Sichtbarkeit zu erfreuen.

Wenn dafür das institutionelle Verfahren der demokratisch legitimierten Aenderung unserer Verfassung missbraucht wird, ist der Rubicon meines Erachtens definitiv überschritten worden. Begründungen, man habe auf ein verkanntes Problem aufmerksam machen wollen und keinen anderen Weg gefunden, kann ich schlicht nicht glauben. Nicht auszumalen, wie die Kommentare gelautet hätten, wenn wir in Europa wie einzig Weissrussland die Todesstrafe gehabt hätten. Schlimmer noch, wenn wir das per Volksrecht begründete hätten. Die weltweiten GegnerInnen der direkten Demokratie hätten sich in ihrem gängigsten Argument gegen Volksinitiativen bestätigt gefühlt. Anders als das Parlament ist der Mob nicht kontrollierbar und muss deshalb ruhig gehalten werden, skandieren sie mit Vorliebe.

Deshalb schüttelte es mich heute, als ich las: “Das Ziel erreicht”, wie ein bekannter Kommunikationsexperte die Uebung, die uns in den letzten Tages beschäftigte, bewertete. Das kann ich nur noch übles Schein-Werfertum heissen. “Das Mittel missbraucht”, kontere ich deshalb. Denn ausser mit einer Portion überschüssigen Zynismus kann man Phantom-Initiative nicht gutheissen.

Mich beschäftigt, dass in Stuttgart zwischenzeitlich fast täglich gegen das S21-Projekte demonstriert werden muss, weil es an legitimierten Verfahren fehlt, um Fehlentscheidung der Stadtplanungspolitik korrigieren zu können, die aus der systematischen Geringschätzung der Bevölkerungsmeinungen entstehen. Denn wo diese mehr als Einzelne betrifft, wird das zu jener politischen Kraft, die steuernd Einfluss auf Entscheidungen haben sollen.

Wir, die das zu unserem grossen Vorteiler kämpft haben, sind uns des Privilegs gar nicht mehr bewusst. Wir beurteilen die Nutzung nicht mehr nach dem damit verbundenen Sinn, sondern nur noch nach der erreichten Plattform.

Das darf sich eigentlich nicht wiederholen! Jetzt sind die JuristInnen gefordert, klare Grenzen des Erlaubten und Sanktionen gegen Unerlaubtes zu formulieren.

Claude Longchamp

Von der Bi- zur Tripolarität der Schweizer Parteienlandschaft

Zwei unterschiedliche Konzepte der politischen Strukturierung haben die Parteien in den letzten Jahr angetrieben: Die breite Zusammenarbeit aller Regierungspartei zerfiel zuerst in eine Blockbildung “Bürgerlichen vs. erstarkte Linke”, dann immer mehr auch in eine “Alle gegen erstarkte SVP”. Beide Bi-Polarisierungen müssen im Politsystem der Schweiz auf die Dauer vermieden werden, wozu ein tripolares Parteiensystem einen Beitrag leistet.

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Mein Kommentar zur laufenden Debatte über die neue “Allianz der Mitte”


Bipolarisierungen in der jüngsten Vergangenheit

Die SVP hat als erste nach ihrem Wahlsieg von 1999 versucht, ihre sachpolitische Isolierung machtpolitisch zu überbrücken. Sie hat der FDP ein Angebot für eine gemeisame Politik von rechts gemacht. 2003 kam es – ganz in diesem Sinne – mit den Stimmen der SVP und FDP zur Doppelwahl von Christoph Blocher und Hans-Rudolf Merz in den Bundesrat, aber auch zu einer Blockade der Gremiums.

Die rechte Bundesratsmehrheit hatte im Parlament keine Entsprechung und erlitt in wichtigen Volksabstimmungen Schiffbruch. Mobilisiert wurde dafür eine rot-grün-schwarze Allianz, die 2007 mit der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bundesrat erfolgreich war. Sachpolitisch zu wenig breit abgestützt, misslang es 2009 indessen, daraus eine Allianz zu bilden, welche der CVP zu Lasten der FDP einen zweiten Bundesratssitz gebracht hätte.

Beide Strategien der Bi-Polarisierung der Parteienlandschaft sind zwischenzeitlich gescheitert. Die FDP konnte ihre Serie von Wahlniederlagen nicht aufhalten, unverändert verliert sie, während die SVP gewinnt. Bei der CVP ist nicht auszuschliessen, dass das Zwischenhoch von 2007 schon vorbei ist, und selbst die letzten treuen nationalkonservativen Wählerinnen noch zur SVP wechseln.

Alte und neue Tripolarisierungen
So überrascht es nicht, dass man erneut über die Tripolarisierung der Parteienlandschaft nachdenkt. Erstmals war das Mitte der 90er Jahre der Fall, als das Nein zum EWR die EU-Beitrittsfrage aufs Tapet brachte. Um scharfe Gegensätze vermeiden zu können, entstand die Politik des Bilateralismus: wirtschaftspolitisch offen, staatspolitisch jedoch ohne Mitgliedschaften mit bindendem Charakter auf EU-Ebene.

Die SVP blieb diesem Projekt gegenüber skeptisch, weil sich die ausgelöste Dynamik nicht mehr aufhalten lässt. Die SP sah darin ihre Chance, gesellschaftlichen Modernisierung mit sozialpolitisch flankierenden Massnahmen durchzusetzen. Unübersehbar ist aber, dass diese Projekt als tragende Brücke über innenpolitischen Gegensätzen an seine eigene Grenze geraten ist.

Der neue Versuch hin zur Tripolarität des Parteiensystems braucht zunächst eine oder einigen Zukunftsvorhaben dieser Art. Deshalb ist es zu begrüssen, dass es sachpolitisch aufgegleist wird und Kerndossiers von FDP und CVP mit einer mittelfristigen Perspektive ins Zentrum gerückt werden. Priorität haben dabei die brüchig gewordenen Aussenbeziehungen der Schweiz, verbunden mit einer koordinierten die Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatspolitik.

Der Bundesrat kann jedoch nicht als übergeordnete Instanz der Parteienkoordination dienen. Das muss von den Parteien selber kommen. Mehrheiten für einen Pol sind nicht gut, vor allem nicht, wenn sie im Parlament nicht abgestützt sind. Das spricht gegen 4 Sitze für die Allianz der Mitte im Bundesrat, zumal eine Mehrheit bei den Parlamentswahlen 2011 nicht in Aussicht ist.

Das politische System als Rahmenbedingung nicht übersehen

Die politische nötige Erweiterung einer Allianz der Mitte kann auch zwei Arten geschehen: mit einem Uebergang zu einem Regierungs- und Oppositionssystem, oder mit wechselsenden Allianzen nach links und rechts, die ihre Zentrum aber in der Mitte und nicht an den Polen hat.

Ersteres wirkt attraktiver, hat aber Tücken: Der Föderalismus zwingt politische Projekte in der Regel politisch in der Mitte anzusiedeln. Die direkte Demokratie verstärkt diesen Effekt, indem politisch aktzentuierte Vorlagen in der Volksabstimmung scheitern.

Allianzen auf Regierungsebene, die nur noch fallweise entstehen, lassen demgegenüber Führung vermissen, fördern Personengerangel in der Regierung, und es mangelt ihnen an politischer Kohärenz, was nicht sinnvoll ist.

Gegenüber dem Status Quo braucht es eine Stärkung der Tripolarität des Parteiensystem könnte dem Abhilfe schaffen, indem es das Zentrum thematisch stärkt. Das wird aber nur mit Partner umsetzbar bleiben, und diese sollten ohne feste Ausgrenzungen nach links oder rechts erfolgen.

Denn das hat die allerjüngste Geschichte uns gelehrt: Selbst Parteien, die in die Opposition gehen, werden im Politsystem Schweiz damit rasch unglücklich und streben deshab bald wieder nach einem neuen Arrangement in Bundesrat.

Professionalisierung der Parlamentsarbeit

58 Prozent der gegenwärtige StandesvertreterInnen in Bern bezeichnen sich als BerufspolitikerInnen. Der Rest politisiert nach eigenen Angaben im Halbamt. Trend: klar steigend in Richtung Berufsparlament. Eine Analyse – und eine Frage.

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Der Milizgedanke prägte das Werden des schweizerischen Staates. Die Feuerwehr bestand aus Freiwilligen, beim Offizierskorps war es so, und die Politiker in den Parlamenten machten davon keine Ausnahme.

Doch nun wird alles anders. Professionalisierung ist das Stichwort: Die Zeitnot vieler Leute, die Leistungserwartungen an öffentliche Dienstleistungen und die Bezahlung von Arbeiten, die als Beruf erbracht werden, sind einige der Gründe.

Simon Hug und Sarah Bütikofer, zwei Politikwissenschaft aus Zürich und Genf, haben diese Veränderung unter der Bundeskuppel aufgrund einer ParlamentarierInnen-Befragung untersucht. Dabei stützten sie sich auf Vorarbeiten der St. Galler Politologen Alois Riklin und Silvano Möckli, die 1975 ähnliches gemacht hatten. Die Befunde im Vergleich lauten:

. StänderätInnen sind heute in ihrer Mehrzahl BerufspolitikerInnen. Der Trend hierzu verläuft in der kleinen Kammer rasant.
. NationalrätInnen politisieren heute in der Mehrheit als HalbberufspolitikerInnen. Auch in der Grossen Kammer nimmt der Anteil zu, aber merklich langsamer.
. Im Schnitt arbeitet ein Ständerat zu 66 Prozent für sein Amt. Etwa mehr ist es bei der FDP, etwas weniger bei der CVP. In den letzten 35 Jahren hat die Belastung klar zugenommen.
. Im Nationalrat sind diese Veränderungen geringer. Hoch sind die zeitlichen Anforderungen vor allem für Mitglieder kleiner Fraktionen. Bei der EVP und der EDU wirkt sich das am starksten aus; ParlamentarierInnen dieser Parteien wenden 4 von 5 Arbeitstagen hierfür auf.

Die Folgerung der AutorInnen: Eine Mehrheit der Schweizer PolitikerInnen betreibt Politik unverändert nicht als Beruf. Bei einer Minderheit ist das heute aber der Fall. Dabei stellt man eine Verlagerung fest, von den Gemeinde- und Kantonsexekutiven hin zu den nationalen ParlamentarierInnen, vor allem zu den VertreterInnen der Kantone. Der Unterschied zur nationalen Parlamentsarbeit im Ausland ist damit weitgehend verschwunden.

Doch das ist nur die eine Seite der Professionalisierungsmedaille, füge ich an. Ausgebaut wurden auch die professionellen Stäbe der PolitikerInnen, der Verbände, der Parteien, der OeffentlichkeitsarbeiterInnen. Und zahlreicher sind die Verwaltungsangestellten der Exekutiven und Legislativen. Davon profitieren nicht zuletzte gut ausgebildete PolitologInnen.

Wann gibt es die erste systematische Untersuchung hierzu?

Landsgemeinde Ja oder Nein: das Beispiel Appenzell-Ausserrhoden

Der Kanton Appenzell Ausserrhoden erwägt, die abgeschaffte Landsgemeinde wieder einzuführen. Am 13. Juni fällt der Grundsatzentscheid an der Urne. Eine Auslegeordnung als Meinungsforscher und Politikwissenschafter.

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Heute präsentierte ich im Café Zäch in Herisau die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung bei 1005 StimmbürgerInnen. Ziel der Studie war es nicht, eine Abstimmung zur Wiedereinführung der Landsgemeinde zu simulieren. Vielmehr ging es darum, den Stand der Meinungsbildung hierzu zu klären.

Auftraggeber war das Komitee, das die Landsgemeinde wieder einführen will. Gewichtige PolitikerInnen sind hier Mitglied. Vertreten war es an der Präsentation durch Hanspeter Spörri, dem Ex-Chefredaktor des „Bund“.

Für die stimmberechtigte Bevölkerung schmerzhaft ist bis heute der Verlust der eigenen Kantonalbank. Die Wirren um die UBS, an die das Unternehmen damals verkauft wurde, hat das alles noch verstärkt. Am besten verkraftet hat man die Aenderung bei der Appenzeller Zeitung, die vom St. Galler Tagblatt übernommen wurde. Bezüglich der Landsgemeinde erscheinen die Verluste als mittel stark. Selbstredend sind die Verlustgefühle in den älteren Generationen grösser als in den jüngeren.

51 Prozent vermissen die Landsgemeinde nicht. Bei 43 Prozent ist das anders. Nebst dem Alter schlägt hier auch die Parteirichtung durch. Freisinnige trauern der Landsgemeinde verstärkt nach; bei den SympathisantInnen der SVP und der SP ist der Anteil unterdurchschnittlich.

Wie aufmerksam Medien und Bevölkerung das Thema “Landsgemeinde” verfolgen, zeigt der Wissenstand. Fast drei Viertel wissen, dass bei einem Ja zur Initiative die Landsgemeinde nicht automatisch wieder eingeführt wird, sondern zuerst über die Form diskutiert wird.

Wissen und Gefühle sind der Entscheidung gegenüber da, besagt die Auslegeordnung also. Das spricht für eine hohe Sensibilität, ohne klare Mehrheiten. Wer wie stimmt, mehr noch, wer an der Volksentscheidung teilnimmt, weiss man nicht. Das entscheidet sich im Lokalen häufig erst aufgrund des Abstimmungskampfes in den letzten drei Wochen. Deshalb kann heute keine verbindliche Aussage über Mobilisierung, Entscheidungen und den Ausgang der Volksabstimmung gemacht werden.

Als Meinungsforscher hätte ich meine Präsentation heute hier aufgehören können. Als Politikwissenschafter musste ich indessen einige Gedanken hinzufügen. Gerade die politische Theorie argumentiert stark damit, dass Identitätsvorstellungen in den Demokratievorstellungen der Schweiz verbreitet vorhanden sind.

So werden Regierende und Regierte vielfach kaum differenziert. Das ist in Kantonen mit Landsgemeinden ganz besonders der Fall. Denn diese gilt als Ereignis, das die Teilnehmenden sozialisiert und unmittelbare Entscheidungen erleichtert. Der gewichtigste Einwand ergibt sich aus der repräsentativen Demokratietheorie. Demnach überdeckt das gemeinschaftliche Denken die Konfliktaustragung. Der Pluralismus in der Meinungsbildung ist unterentwickelt, und die diesbezüglichen Vorteile politischer Entscheidungen in Parlamenten werden gerne übersehen.

Dem Komitee ist zu raten, nicht aus Nostalgie zum Ritual der diskussionslosen Wahlen und Abstimmungen zurückkehren zu wollen. Jüngeren Menschen ziehen die Debatte vor. Auch SVP und SP wollen, dass man klarer Pro Kontra erörtert. Beides gehört heute zur Streitkultur in der Politik – sei es in Parlamenten oder in Landsgemeinden.

Weltmeister der Dezentralisierung

Die Schweiz ist das am stärksten dezentralisierte Staatswesen der Welt, hält ein Bericht des Europarates fest. Doch bringt das nicht nur Vor-, sondern auch Nachteile mit sich.

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Die starke Fragmentierung der Schweiz hat ihre Nachteile: Zahlreiche Gemeinden, vor allem auf dem Land, sind zu klein, um die ihnen zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen. Funktionale und politische Räume, vor allem in Agglomerationen, klaffen auseinander, was zu einer Entdemokratisierung der Entscheidungen führt.

Die Schweiz steuert das Problem namentlich mit Gemeindefusionen und mit interkantonalen Konkordaten. Der Bericht kritisiert das teilweise und schlägt vor, namentlich in Agglomerationen eine zusätzliche, demokratisch besser legitimierte Stufe der staatlichen Gliederung einzuführen.

Bezogen auf den Steuerwettbewerb unter den Kantonen werden Massnahmen wie der neue Finanzausgleich gelobt. Geraten wird, vermehrt Kräfte zu mobilisieren, um die Balance zwischen kompletter Freiheit und einheitlicher Zwangsjacke klarer zu finden.

Erstellt wurde der Bericht von der Kammer der Gemeinden, dem Gremium des Europarates, das die regionalen Körperschaften der 47 Mitgliedstaaten repräsentiert.

Regierungsvertrauen 2009 wieder rückläufig

2009 war nicht das Jahr des Bundesrates. Das zeigt auch der Langzeitvergleich der VOX-Analysen. Erstmals seit 2004 sinkt das Regierungsvertrauen in der Schweiz wieder.

Anfangs 2009 vertrauten noch 53 Prozent der Regierungsarbeit auf Bundesebene. Ende Jahr waren es noch 42 Prozent. Es überwog das Misstrauen mit 44 Prozent (+9%).

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Das wirtschaftliche und politische Umfeld können als Ursachen gelten. Hinzu kommen umstrittene Entscheidungen des Bundesrates, etwa im Fall der UBS, beim Bankgeheimnis und im Steuerstreit. Höhepunkt der medialen Kritik gegen den Bundespräsidenten war die Libyen-Affäre.

Eingebrochen ist vor allem das Regierungsvertrauen der SVP-Wählerschaft. Es ist tiefer als in der Phase, als die Partei in der Opposition war. Zwischenzeitlich ist es dem der parteipolitisch ungebundenen BürgerInnen vergleichbar. Anders verhält es sich bei den Wählerschaften von SP, FDP und CVP. Die Hälfte vertraut dem Bundesrat. Bei der SP ist kein eigentlicher Trend sichtbar. Bei FDP und CVP lässt die Unterstützung nach.

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Bei Volksabstimmungen zeigten sich vorerst keine Auswirkungen. Die Verlängerung der Personenfreizügigkeit anfangs 2009 passiert noch glatt. Knapper war es bei den Biometrischen Pässen und der IV-Zusatzfinanzierung. Beim Minarett-Verbot Ende Jahr kippte dann die Stimmung. Es siegte die Opposition.

Das Ausmass des Misstrauen 2009 muss jedoch relativiert werden. Insbesondere nach der UNO-Beitrittsabstimmung begann es zu sinken. 2004 erreichte es den bisherigen Tiefststand. Bis zu 52 Prozent Misstrauen zeigten die Umfragen damals, während das Vertrauen auf einen Viertel der BürgerInnen zusammenschmolz. Die Stimmungslage verbesserte sich ab 2006 sukzessive. Selbst angesichts der beginnenden Finanzkrise nahm es 2008 unverändert zu.

Das ist wieder passé. Und es gilt nicht nur gegenüber dem Bundespräsidenten. Die Langzeitbetrachtung anhand der VOX-Analyse mit bis zu 4000 BürgerInnen-Interviews jährlich lehrt, dass Wendepunkte im guten wie im schlechten nicht aus der Tagesaktualität entstehen. Vielmehr braucht es eine eigentliche Umkehr in der Politik, um das Grundverhältnis zwischen Bürgerschaft und Behörden zu verändern. Das ist gegenwärtig nicht in Aussicht.

Menschenrechte und Demokratie gehen auseinander hervor.

In die Kontroverse um Demokratie und Menschenrechte greift nun auch der Staats- und Völkerrechtler Walter Kälin ein: weder das eine noch das andere gelte absolut, ist seine These; Menschenrechte und Demokratie bedingen einander vielmehr und müssen gemeinsam weiterentwickelt werden, schreibt er in der heutigen “NZZ am Sonntag”.

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Walter Kälin, seit 1988 Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern, weltweit anerkannter Experte für Menschenrechtspolitik

Man erinnert sich: Nach der Volksabstimmung über die Minarett-Initiative kritisierte namentlich der Club Hélvetique, der Entscheid sei menschenrechtswidrig und müsse rückgängig gemacht werden. Die SVP reagierte harsch und stellte eine Volksinitiative gegen jegliche Einschränkung von Volksrechten in Aussicht. Polarisierung pur!

Gelassener beurteilt Professor Walter Kälin, Schweizer Mitglied des UNO-Menschenrechtsausschuss, die Sache. Seine These: Menschenrechte und Demokratie bedingen einander: Demokratie ohne Menschenrechte bedeutet Diktatur der Mehrheit. Doch Menschenrechte stehen nicht an sich über der Demokratie, denn beides geht auseinander hervor.

Menschenrechte setzen Demokratien zunächst Grenzen. Denn auch Dmokratie bedeutet nicht ungebremste Herrschaft, wenn das Volk es legitimiert. Entsprechend müssen Minderheitsrechte auch vor demokratischen erzwungenen Einschränkungen geschützt werden.

Das gilt für den Kern von Menschenrechten, etwa dem Verbot unmenschlicher Behandlung, dem Diskriminierungsverbot, dem Anspruch auf eine faires Gerichtsverfahren und dem Schutz vor Zwang zu religiösen Handlungen.

Doch sind auch Menschenrechte gerade in Demokratien nicht sakrosankt. Dient ihre Beschränkung einem legitimen Zweck und geht sie dafür nicht weiter als notwendig, geht das für den Juristen in Ordnung. Denn Menschenrechte schreiben nicht vor, was eine Demokratie zu entscheiden habe, nur was sie unterlassen soll.

Im konkreten Fall des Minarettverbots in der Schweiz postuliert Walter Kälin: Sollten die hohen Gerichte in Lausanne oder Strassburg die Zulässigkeit bestreiten, dürften die Initianten weiter für ihr Anliegen kämpfen. Sie müssten aber Vorschläge unterbreiten, die nicht-diskriminierend seien.

Oder allgemein ausgedrückt: “Gefragt sind weder die Diktatur der Mehrheit, noch die Herrschaft der Richter, sondern die richtige Balance zwischen Demokratie und Menschenrechten. Sie zu realisieren, braucht Besonnenheit und Denken in grösseren Zusammenhängen”, sagt der Experte.

Zur Zukunft des Regierungssystems der Schweiz.

Der Aargauische Jugendparlament, Juvenat genannt, lud mich ein, eine Auslegeordnung über die Zukunft des Regierungssystems der Schweiz zu machen.

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Das Referat hatte drei Teile: Eine Herleitung der Konstanten im Regierungssystem der Schweiz, ein summarischer Ueberblick über die aktuelle Kritik, und eine Auslegordnung von Reformvorschlägen für den Bundesrat.

Bei den Vorbereitungen hierzu wurde mir wieder einmal klar, wie deutlich die Schweiz den Weg einer bürgerlichen geprägten Republik gegangen ist, dass diese früh und weitergehend als andere demokratisiert worden ist und dass das in hohem Masse zum heutigen Konkordanzsystem geführt hat.

Von Konsensdemokratie mag ich nicht mehr sprechen. Denn die Polarisierung der Schweizer Politik, namentlich unter dem Eindruck der europa- und aussenpolitischen Oeffnung verträgt sich nicht mehr mit dieser Kennzeichnung. Dennoch sprechen die plurikulturelle Zusammensetzung des Landes und der Referendumsdruck unverändert dafür, das Regierungssystem auch inskünftig nach den Spielregeln der Konkordanz auszugestalten.

Das sehe ich allerdings nur als äusseren Rahmen. Der innere Rahmen sollte durch die aktuellen Herausforderungen bestimmt sein. Und diese leitenden sich aus dem Handlungsbedarf der dauerhaften Interessenvertretung in einer interdependenten Welt ab.

Die aktuellen Reformvorschläge habe ich neutral vorgestellt, sie aber in diese Rahmungen gestellt; konkret habe ich behandelt:

. Veränderungen in der Führung des Bundesrates (gestärktes Präsidium, Einführung einer zweiten Ministerebene für Sachgeschäfte, Erhöhung des Zahl des Bundesrates)
. Veränderungen in der Wahl des Bundesrates (Listenwahl, Volkswahl)
. Veränderungen in der parteipolitischen Zusammensetzung des Bundesrates (Proportionalisierung, kleine Konkordanz).

Klar wurde mir dabei, dass die Focussierung der Reformvorschläge auf arithemtische Konkordanzregeln nicht genügen. Es braucht eine umfassendere Betrachtungsweise und den Einbezug von inhaltlichen Ueberlegungen, wie der Bundesrat strukturiert, konstituiert und bestückt wird.

Die Diskussion mit den VertreterInnen des Jugendrates war ganz anregend. Sie zeigte mit, dass die öffentliche Diskussion gerade bei den Interessierten der kommenden Generationen den Eindruck geweckt hat, dass etwas gehen muss. Bis eine konsolidierte Stossrichtung vorliegt, braucht es aber auch in diesem Bevölkerungsteil noch viele Diskussionen.

Claude Longchamp

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf …

Nur ein bestelltes Gutachten eines ehemaligen VBS-Beamten habe die Publikation des Werkes in einem renommierten Verlag verhindert, behauptet die Judith Barben zu Beginn ihrer Buches “Spin doctors im Bundeshaus”. Manipulation durch Funktionäre, Propaganda aus dem Regeirungsviertel und Gefährdung der direkten Demokratie sind die Themen der Mitstreiterin bei der Initiative für “Volkssouveränität und gegen Behördenpropaganda”.

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Zugegeben, ich bin befangen. Denn ich komme im Buch mindestens drei Mal vor: Zum Beispiel werde ich wegen meiner Büroadresse, die gleich lautet wie die der (früheren) PR-Agentur Trimedia, zwei Stöcke über mir. Womit schon klar ist, dass auch ich meine Umtriebe in den Dienst der Manipulation stelle.

Das ist typisch für das Niveau der Buchrecherche. In weiten Teilen basiert sie auf einem Zeitungs- und Zeitschriftenarchiv, täuscht mit dem Inhaltsverzeichnis und Fussnoten aber vor, Ergebnis einer wissenschaftlich fundierten Arbeit zu sein. Geprüft, was geschrieben wird, wurde wohl nur selten, denn entscheidend war, dass die Belege ins vorfabrizierte Bild passten.

Gleich zu Beginn erfährt man, wie der Bundesrat in den letzten 20 Jahren gestärkt wurde, wie er zwischenzeitlich unter der Bundeskuppel alles bestimmt, was kommuniziert wird, wie Bund und Kanton Abstimmungsfreiheiten verletzen, und wie selbst der Bundesratssprecher Manipulation zugeben würde.

Die These dahinter lautet, dass Manipulation in der Politik Methode habe. Damit man daran nicht zweifelt, bekommt man gleich im Titel zu Kapitel 1 die Uebersetzung von spin doctors (“Meinungsmacher”) mit: “Wahrheitsverdreher”.

Belegt wird das mit amerikanischen Beispielen. Denn die PR ist die heimliche Regierung. Ihre Vorläufer sind Machiavelli, der Schurke, die Stasi, die üble, und die amerikanischen Politologen. Sie sind die schlimmsten, weil sie als soft power ganze Batallione in psychologischer Kriegsführung gegen die Menschheit ausbilden. Und damit ist die Autorin bei ihrem Lieblingsthema, der Manipulation durch Psychotechniken aller Art, die einmal eingeführt dank dem Filz von PR und Journalismus unser öffentliches und individuelles Bewusstsein bestimmen. Auch der Kleinstaat Schweiz ist davor nicht gefeit, beim Bergier-Bericht beispielsweise, oder bei der Totalrevison der Bundesverfassung oder beim Verkauf des Vaterlandes an die NATO sei manipuliert worden!

Gegen all das gibt es aus der Warte Barbens nur eins: das “personale Menschenbild”, das der Jugend vermittelt werden müsse, damit eine solide staatsbürgerliche Bildung darauf aufbauen könne und die Erkenntnisse der Manipulationsmechanismen verstanden werden. Damit das am schnellst möglichen geschieht, wurden in der Bibliografie an den entscheidenden Orten die Telefonnummern für Bestellungen der eigenen Pamphlete eingefügt.

Die Biografie der Autorin ist dem Buch schon mal ausführlich beibelegt. Sie weist sie als Lehrerin und Psychologin aus. Eine einfache Kontrolle via google zeigt, dass ihre x-fach belegten Verbindungen zur frühren Psychosekte VPM indessen systematisch ausgeklammert wurden.

Um es klar und deutlich zu sagen: All das, was Barben aufgreift, gehört beobachtet, untersucht und diskutiert. Denn es ist für das Funktionieren der Demokratie erheblich, und dieses ist in der Mediengesellschaft nicht zweifelsfrei gewährleiste. Doch anders als es die Autorin mit ihrer Verschwörungstheorie glaubhaft machen will, wird es das auch: Die Grundlagenstudie von Ulrike Röttger und anderen ForscherInnen der Universität Zürich über die PR in der Schweiz lässt Barben gleich integral mal aussen vor.

Das ist es, was die Buchlektüre so uninspirierend macht: Das Gute und das Böse sind von Anfang an klar verteilt. Das eine sieht man bei sich selber, das andere bei allen anderen. Würde das Gute die Welt regieren, wäre die eigene Initiative für “Volkssouveränität und gegen Behördenpropaganda” 2006 angenommen worden. Weil sie aber abgelehnt wurde, ist das der Beweis des Bösen. Den Dreh hat die Autorin bestens drauf.

Claude Longchamp

Judith Barben: Spin doctors im Bundeshaus. Gefährungen der direkten Demokratie durch Manipulation und Propaganda, Baden 2009
Ulrike Röttger: Public Relations in der Schweiz. Eine empirische Studie zum Berufsfeld Oeffentlichkeitsarbeit, 2003

Dank Lernprozessen lebensfähig bleiben.

Die Kritik an und in der Schweiz ist beträchtlich. Die Steuerpolitik ist umstritten, Institutionen wie Miliz- und Konkordanzsystem zeigen Erosionserscheinungen. Da weckte Wolf Linders Abschiedsvorlesung an der Uni Bern hohe Erwartungen. Denn sie war dem “Zustand der Republik” gewidmet. Und hielt nur streckenweise, was sie versprach.

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Dank soliden Institutionen blieb die Schweiz bis heute lebenfähig. Fraglich ist aber, ob sie auch in Zukunft eigene Wege gehen kann. (Bildquelle)

Seinen letzten Auftritt als Politologie-Professor in Bern begann Wolf Linder vor einer vollen Aula der Berner Alma mater mit einer Kritik am Zeitgeist-Surfen. Dieses überzeichne in der Regel, sei es wegen der Staatsgläubigkeit der Linken, die jeden Interventionismus gut finde, oder wegen der Staatsdistanz der Rechten, welche jede Privatisierung befürworte. Lange habe ersters überwogen, jetzt dominiere zweiteres.

Gesicherte Befunde!
Die politologische Analyse kommt nach Linder zu deutlich weniger aufgeregten, dafür gesicherten Befunden. Mit schöner Regelmässigkeit hat der Professor für Schweizer Politik diese auch in die Oeffentlichkeit getragen.

Die zentralen Institutionen der schweizerischen Innenpolitik sind nach Linder in der Bevölkerung unverändert gut verankert. Zu direkter Demokratie, Föderalismus, Milizssystem und Konkordanz zeichne sich in der Schweiz keine Alternative ab. Unterschätzt werde aber das Mass an politischer Institutionalisierung der Schweiz, welche im letzten Vierteljahrhundert stattgefunden habe. Das internationale Recht wachse schneller als das Binnenrecht, was einen Anpassungsdruck erzeuge, der Exekutivstaat nehme rasant zu und lasse die politische Entfremdung anwachsen.

Nutzniesser sei ausgerechnet die SVP, welche die Prozesse am wenigsten kontruktiv mitentwickle. Denn sie gewinne mit Abschottungsparolen Wahlen. Doch können sie diese politische Macht nicht umsetzen. In Parlament und Regierung würde unverändert die Kooperationen der Mitte den Ausschlag geben. FDP und CVP setzten mehrheitlich ihre Politik durch, ergänzt durch Mitte/Rechts und Mitte/Links-Allianzen.

Den Wechsel der Mehrheiten hält Politologe Wolf Linder für einen Segen in der Konkordanz. Denn fixe Mehrheitsbildungen, wie sie bis in die 80er Jahre durch die bürgerlichen Parteien gebildet worden seien, schränkten die Lernfähigkeit des politischen Systems ein. Doch gerade diese sei entscheidend, weil kontinuierliche personelle und materielle Erneuerungen der Politik zwingend seien, wenn man nicht auf Machtwechsel setze.

Gesicherte Folgerungen?

So treffend sachlich Linders Beobachtungen zum Zustand der Republik waren, seine Folgerungen für ihre Zukunft blieben vage. Denn die reichhaltige Empirie, die in den zwei Jahrzehnten, während denen Linder die Professur für Schweizer Politik inne hatte, entstand, fand in dieser Zeit keine Krönung in einer erhellenden Theorie der Konkordanz, die politikwissenschaftlich anerkannt Interessierten Möglichkeiten und Grenzen des Staatshandelns à la suisse aufzeigen würde.

So bleibt das Credo Linders, die Schweiz überlebe, wenn sie lernfähig bleibe, letztlich ohne tiefere Gewissheit die Folgerung aus seinem Wirken.

Claude Longchamp