Exit, Voice and Loyalty bei Schweizer Volksabstimmungen

Zur Vorbereitung auf die Berichterstattung zu den SRG-Umfragen 2012 bis 2015 haben wir unser Wissen über die Meinungsbildung vor Volksabstimmungen einer systematischen Ueberprüfung unterzogen. Herausgekommen sind dabei einige neue oder konkretisierte Thesen, vor allem zur Mobilisierung. Hier ein erster Einblick.

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Die Beteiligungsabsichten zu Volksabstimmungen steigen in der Regel während Abstimmungskämpfen an. Zwar endet der Wert, am Abstimmungstag, präzise mit der amtlich verkündeten Teilnahme. Er beginnt, mit Einsetzen der Kampagnen aber nicht bei 0.

40 bis 45 Tage vor dem Abstimmungswochenende wissen im Schnitt gegen 40 Prozent der Stimmberechtigten schon, dass sie sich äussern wollen. Der grössere Teil von ihnen 25-30 Prozent, macht das immer, also vorlagenunabhängig; beim kleineren Teil ist das genau umgekehrt, denn er will sich beteiligen, weil ihm (mindestens) eine Vorlage wichtig ist.

Während des Abstimmungskampfes erhöht sich der Anteil, der sich aus einem spezifischen Interesse meldet. Erzielt wird letzteres durch Kontroversen. Dafür braucht es klar gegensätzliche Standpunkte bei einer, besser noch bei mehreren Vorlagen. Und die Gegensätze müssen mediengerecht vorgetragen werden, denn die Involvierung durch sie ist der wichtigste Mobilisierungsfaktor unterwegs. Mit mediengerecht meine ich das dynamische Moment in Kampagnen und Gegenkampagnen, das Ereignishafte und das Unwägsame, das einen Spannungsaufbau zulässt.
5 Prozentpunkte ist der Mittelwert der Beteiligungssteigerung durch einen Abstimmungskampf – ausser es kommt, meist gegen das Ende, zu eigentlichen Wutausbrüchen und/oder Mobilisierungskampagnen. Diese müssen nicht unbedingt über Massenmedien verlaufen. Immer mehr benutzen sie auch die neuen Medien, die sich direkter und emotionaler an Zielgruppen wenden. In solchen Fällen ist die Steigerung der Beteiligung bis zu 10 Prozent der Stimmberechtigten nachweislich möglich.

In der deutschsprachigen Schweiz sind längere Kampagnen, zum Beispiel während 6 bis 8 Wochen, üblicher als in den anderen Sprachregionen. Zuerst beteiligungsbereit sind hier die Parteianhängerschaften, je nach allgemeinem Politklima eher die rechten oder linken, meist die Anhängerschaften grosser Polparteien vor denen der Zentrums und der kleineren Parteien. Die Dynamiken in der Romandie und im Tessin kennen die gleiche Struktur, sind aber meist von kürzerer Dauer. Vor allem im Tessin dauern Kampagnen zu eidgenössischen Volksabstimmung nicht selten nur 3 Wochen, und fallen die Beteiligungsentscheidungen häufig auch erst dann.

Generell sind ältere Menschen früher entschieden, ob sie teilnehmen wollen oder nicht; bei jüngeren entwickelt sich diese Entscheidung häufiger erst themenspezifisch mit dem Abstimmungskampf. Unterschiede kennen wir auch nach dem Schulabschluss. Tiefere Bildungsschichten klinken sich meist später in Kampagnen ein, und sie lassen sich in Opposition zur Regierungspolitik besser mobilisieren, während höhere genau ein gegenteiliges Verhalten zeigen.

Albert O. Hirschman hat für solche Prozesse eine treffende Typologie entwickelt: Politisch konstant Aktive (und Passive) zeigen eine höhere Vertrauen in den Staat und neigen zu Loyalität. Derweil mischt sich die misstrauische Bürgerschaft punktuell ein – oder sie bleibt aussen vor. Macht sie letzteres, wählt sie den politischen exit-Pfad, schreibt der Sozioökonom dazu. Machen sie ersters, nennt er das voice: der eigenen Befindlichkeit eine politische Stimme geben. Was der deutsch-amerikanische Wissenschafter im Grossen fand, kann man auch im Kleinen der Schweizer Politik beobachten.

Claude Longchamp

Wer im Parlament wieviel Kapital vertritt.

FDP und CVP konzentrieren 92 Prozent des Kapitals, das via Firmen und Stiftungen im Parlament vertreten ist, auf sich. Sie machen auch die Mehrheit der Mandate aus, obwohl sie nur eine Minderheit der ParlamentarierInnen stellen.

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Die 246 eidgenössischen ParlamentarierInnen vertreten zusammen 2045 Verwaltungs- und Stiftungsratsmandat. Trend: um rund 7 Prozent pro Jahr wachsend. Das berichtet die Firma Credita aufgrund einer aktuellen Zusammenstellung der relevanten Daten aus dem Parlament.

Die FDP-ParlamentarierInnen vereinigen 583 der Mandate auf sich. Es folgt die Zentrumsfraktion aus CVP, EVP und GLP mit 565 Mandaten. Mit deutlichem Abstand reihen sich die SVP (389 Mandate) und SP (310 Mandate) ein. gefolgt von der GPS (139 Mandate) und der BDP (59 Mandate).

Bezogen auf das Kapitel liegt die Zentrumsfraktion einsam an der Spitze. 62 Prozent der kapitalisierten Mandat sind in ihren Händen. Die FDP bringt es auf 29 Prozent, gefolgt von SVP und BDP mit je 4 Prozent. Die rotgrünen ParlamentarierInnen kommen vereint auf 1 Prozent

Spitzenreiterin bei den Mandaten sind im Nationalrat Steuerexperte Paul-André Roux (CVP/VS) und im Ständerat Felix Gutzwiller, Universitätsprofessor für Medizin und Institutsleiter (FDP/ZH). Beim vertretenen Kapital rangiert in der Volksvertretung die Anwältin Gabi Huber (FDP/UR) an der Spitze, während Jean-René Fournier (CVP/VS) in der Kantonsvertretung zuvorderst ist. Letzteres ist auf seine Funktion als Senior Advisor bei der Credit Suisse zurückzuführen.

Im Schnitt vertritt ein Ständerat/eine Ständerätin 11 Firmen oder Stiftungen oder 190 Millionen CHF Kapital. Bei Nationalrat liegen die Werte etwas tiefer. Konkret sind es 8 Frmen und knapp 21 Millionen Kapital.

Markant sind die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Ein Mann kommt auf 9 Mandate und 65 Millionen Franken Kapitalvertretung, eine Frau auf 7, mit knapp 14 Millionen CHF Gegenwert. Das bleibt im Wesentlichen so, auch wenn man die Spitzenreiter weg lässt.

Die Credita, welche die Studie durchgeführt hat, schreibt im Kommentar, dass die Nähe zu Unternehmen und Stiftungen ein Phänomen ist, dass nicht ausschliesslich, aber weitgehend bei FDP und CVP vorkommt. Die 41 Prozent ParlamentarierInnen dieser Fraktionen haben 56 Prozent der Mandate in, und sie konzentrieren 92 Prozent der Kaptials in ihren Reihen. Selbst SVP und BDP haben da wenig zu bestellen. Im Vergleich dieser beiden Parteien fällt auf, dass durch die Spaltung 2008 rund die Hälfte der untersuchten Wirtschaftsverbindung weggefallen sind.

Die Verteilungen, über die hier berichtet wird, ist typisch. Zunächst gibt es eine Anziehungskraft auf die gemässigten bürgerlichen Parteien. Dabei liegen je nach Aspekt die CVP resp. die FDP vorne. Die hat mit ihrer Programmatik zu tun. Dann kann man aber festhalten, dass die MedianpolitikerInnen besonders stark vertreten sind, nicht zuletzt, weil sie die MehrheitsbeschafferInnen in umstrittenen Entscheidungen sind.

Mit der vorliegenden Untersuchung ist die Transparenz erhöht und systematisiert worden. Nichts gesagt wird damit über das Stmmverhalten im Parlament. Dieses wurde in Abhängigkeit dieser Unterlagen noch nie untersucht. Und es wäre das einzig interessante. Denn ein Parlament, indem keine Interessen vertreten werden, ist wohl eine Fiktion. Ob es auch eine Fiktion ist, dass die Interessenvertretung keinen Eigennutzen bringt, ist noch zu untersuchen. Ein spannendes Forschungsthema, füge ich da für Studierende der Politiwissenschaft bei.

Claude Longchamp

Ist direkte Demokratie ein Exportprodukt der Schweiz?

Regelmässig werden PolitolgInnen eingeladen, über die direkte Demokratie der Schweiz im Ausland oder vor ausländischen PolitikerInnen zu referieren. Das Interesse ist steigend, namentlich in Deutschland, wo “Stuttgart 21” das Nachdenken über Volksentscheidungen befördert hat. Meine sieben Statements in dieser Sache im Ueberblick.

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Eines ist klar: Nirgends auf der Welt wird so viel abgestimmt wie in der Schweiz. Immer deutlicher wird aber auch, dass das Ausland aufholt. Heute gibt es in einem Durchschnittsjahr bereits mehr Volksentscheidungen im Ausland als in der Schweiz. Und so stellt sich die Frage: Ist direkte Demokratie d a s politischen Exportprodukt aus der Schweiz?

In meinen Ausführungen hierzu merke ich zunehmend, dass politische System nicht einfach übertragen werden können. Auch wenn wir PolitologInnen sie abstrakt-theoretisch nachzeichnen, sie sind gewachsen, aus den gesellschaftlichen Kräften, den zurückliegenden Konflikten und den Lösungen, die sich exemplarisch daraus ergeben haben. Strukturen des Staates, ja selber der Entscheidungsprozesse und der Politikprogramme haben ihre Entsprechungen in den Kulturen.

GegnerInnen der direkten Demokratie gebrauchen diesen Hinweis gerne, um die Nicht-Uebertragbarkeit politischer Institutionen zu betonen. Entweder folgt man dem klassisch parlamentarischen oder bekannten präsidentiellen System, oder aber man entscheidet sich für das direktdemokratische.

Das Argument greift meines Erachtens zu kurz. Denn auch die Schweiz war nicht von Beginn weg ein direktdemokratisches System, sondern hat sich vom parlamentarischen hierzu gewandelt. Aus diesem Prozess des Wandels kann man einiges aus den Schweizer Erfahrungen lernen, ohne fixfertige Antworten zu kriegen.

Erstens, Experimente mit Volksentscheidungen in parlamentarischen Systemen sind in kleinen politischen Einheiten einfacher als in grossen. Daraus folgt, dass direkte Demokratie lokal und in Gliedstaaten eingeführt und erprobt werden sollte, bevor es auf nationalstaatlicher oder gar supranationaler Ebene zur Anwendung kommt.

Zweitens, Volksentscheidungen sind nicht da, um Probleme zu lösen, bei denen der parlamentarische Prozess versagt hat. Sie sind da, um BürgerInnen-Partizipation in der Sache zu fördern. Das ist der Kern einer vorausschauenden Institutionenpolitik, die nicht zur Reparaturwerkstätte verkommen darf. Sonst misst man direkte Demokratie an übertriebenen Einzelerwartungen.

Drittens, namentliche Parteien müssen lernen, mit direkter Demokratie umzugehen. Denn die ausschliessende Macht der Fraktionen wird mit Volksentscheidungen klar relativiert, während der Umgang der Parteien mit BürgerInnen-Anliegen auch ausserhalb von Wahlen gestärkt wird. Das muss parteiintern in eine Balance gebracht werden, was den Oppositionsparteien einfacher fällt als Regierungsparteien.

Viertens, auch Medien müssen für die direkte Demokratie gewonnen werden. Denn ohne ihre anspöruchsvolle Informationsarbeit sind BürgerInnen-Entscheidungen nicht möglich. Medien können davon auch profitieren, enn sie bei Volksabstimmungen in einen direkten Dialog mit ihrer Kundschaft treten. Diese empfängt nicht nur, sondern auch sendet auch, spätestens mit dem Entscheid selber.

Fünftens, in einem grösseren Zusammenhang geklärt werden muss, welche Instrumente der direkten Demokratie unter gegebenen Bedingungen Sinn machen. Der Referendumstyp ist ein Bremse, die je nach Ausgestaltung mehr oder minder stark sein kann, aber immer als Korrektiv zum Parlamentsentscheid wirkt. Der Initiativtyp ist ein Gaspedal, mit dem die Bürgerschaft Ideen im Entscheidungsprozess initiieren oder auch einbringen kann. Eine Kombination von beidem erhöht die Akzeptanz in verschiedenen politischen Lagern.

Sechstens, festgelegt werden müssen die Spielregeln: Ob Bürgerbewegungen, die Volksentscheidungen verlangen, ideell, finanziell und infrastrukturell unterstützt werden sollen oder nicht, muss klar geregelt sein. Denn damit definiert man auch, ob Parteien weitgehend alleine, oder auch Interessenverbände und Bewegungen als TrägerInnen von Volksrechten werden sollen.

Und siebtens, direkte Demokratie kann, einmal eingeführt, kaum mehr zurückgenommen werden. Sie wird zu einem dauerhaften Element in der Entscheidfindung, und sie verändert diese auch – denn keine Regierung, kein Parlament verliert gerne in Volksabstimmungen, weshalb sie mit Volksrechten “responsiver”, aufmerksamer werden, für das was ausserhalb von Parlamenten geschieht.

Oder anders gesagt: Volksrechte kann man nicht einfach verpflanzen. Ihre Instrumente sind keine Exportprodukte. Sie sind aber eine Expertidee. Man kann die Bestrebungen dazu aber befördern, auch mit den guten und weniger guten Erfahrungen, welche die Schweiz hierzu gemacht hat – um Fehler zu vermeiden und schneller zu brauchbaren Lösungen zu kommen.

Claude Longchamp

Das bestgehütetste Parteiengeheimnis.

Innenpolitisch ist das Geld der Parteien kaum ein Thema. Jetzt erhöht der Europarat den Druck auf die Schweiz in dieser Sache.

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Quelle: L’Hébdo via Wahlkampfblog

Vor 5 Jahren ratifizierte die Schweiz das Anti-Korruptions-Abkommen des Europarates. Zwei Länderexamen hat unser Land seither bestanden. Beim dritten dürfte es jedoch scheitern.
Das jedenfalls berichtet die heutige “NZZamSonntag” unter Berufung auf ExpertInnen des Bundes. Denn seit Februar dieses Jahres überprüft der Europarat nicht die Wirkungen des hochgehaltenen Bankgeheimnisses, sondern … des bestgehüteten Parteiengeheimnisses.

“Wer finanziert die Parteien in der Schweiz? Sind es die Mitglieder? Sind es die Lobbyisten, die im Gegenzug verlangen, dass die Parteien ihre Interessen vertreten? Sind es die Schwerreichen, welche in ihrem Sinn steuern?”, sind drei nachollziehbare Erwägungen, die man zwischenzeitlich auch am Zürcher Falkenplatz macht.
Hilmar Gernet, vormals CVP-Generalsekretär und seit neuestem Buchautor in dieser Sache, versuchte den Schleier des Schweigens mit seiner Doktorarbeit ein wenig zu heben, ohne allzu konkret zu werden. Interna auszuplaudern, sei nicht seine Sache, eine Diskussion zu lancieren schon, fasst er seine Absicht zusammen. Selbst das bekam ihm nicht gut: Vor zwei Wochen wurde er aus dem Luzerner Grossen Rat abgewählt – und danach hing er seine Politkarriere ganz an den Nagel.

Die Schweiz hat als eines der wenigen europäischen Länder kein Parteiengesetz. Da sind internationale Diskussionen, europäische Vereinbarungen und unterschriebene Abkommen umso wichtiger. Das weiss auch Bundesrätin Simonetta Sommaruga, die Ende letzten Jahres das federführende Justiz- und Polizeidepartement übernahm. Sie will gar nicht warten, bis die ExpertInnen des Europarates ihren Bericht fertig haben. Noch vor der heissen Phase des diesjährigen Wahlkampfes will sie mit einer eigenen Stellung den Boden für eine schweizerische Regelung vorbereiten.

Um es klar zu sagen: Ich mache mir keine Illusionen, das Parteien kein Geld brauchen würden. Doch gerade deshalb finde ich Transparenz in dieser Sache umso wichtiger. Denn nur das würde zeigen, ob Wahlergebnisse unabhängig vom eingesetzten Geld entstehen. Denn das ist demokratiepolitisch das Entscheidende.

Die Mentalität in der Romandie ist da schon etwas weiter als die übrigen Schweiz. Das Wochenmagazin L’Hébdo publizierte kürzlich ein Dossier über das “Geld der Parteien“; in den deutschsprachigen Massenmedien wurden nicht nur die Ueberlegungen hierzu, nein selbst die grundlegendsten Statistiken totgeschwiegen. Schön, dass es da mit polithink, Wahlkampfblog und zoonpoliticon wenigstens eine kleine Gegenöffentichkeit gibt.

A suivre!

Claude Longchamp

Von unseren verschiedenen Seelen

Es ist ein höchst bemerkenswerter Artikel, den Hannes Nussbaumer heute im Tages-Anzeiger platziert hat. Selbstredend geht es um die Abstimmungen vom Wochenende, um die politische Kommunikation, und wie deren Macher die Sache sehen.

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Porträtiert wird Alexander Segert, der SVP-Werber und “Vater von Ivan S., dem wir in diesem Abstimmung allgegenwärtig begegnen. Segerts Rezept ist bekannt: “Keep it simple and stupid!” Konstrastiert wird alles durch Aussagen von Guido Weber, dem einzigen Werber, dem es bisher gelungen ist, Segert die Stange zu halten. Sein Rezept: Jeder habe sowohl eine Angst- wie eine Vernunft-Seele in der Brust. Massgeblich sei, welche davon beim Entscheidend dominiere. Die Richtige zu treffen, sei die Aufgabe einer guten Kampagne.

Solche Werberweisheiten hat meines Erachtens von Stephan Dahlem, einem deutschen Kommunikationsforscher, unter dem Titel “Wahlen in der Mediengesellschaft” am treffendsten untersucht. Seine Analyse ist: Bei Wahlen und Abstimmungen unterhalten wir uns sehr wohl über Sachen, die in unserem Alltag real sind: die Probleme in unserem sozialen Umfeld, den Gang der wirtschaftlichen Entwicklung, das allgemeine politische Klima und die öffentliche Meinung. Doch machen wir bei weitem nicht nur aus der persönlichen Erfahrungen heraus, im Zwiegespräch mit Freunden, Arbeitskollegen und Nachbarn, sondern immer mehr aufgrund von Inhalten der Massenmedien. Damit wird unsere Realitäten durch Darstellungen von Realitäten überlagert, was zu einer Erweiterung, aber auch zu einer Standardisierung dessen führt, was kollektiv ist – oder sein soll.

Dahlem nennt das alles die externen Faktoren der Entscheidungen. Zu den internen gehören eigenen Vorstellungen: vom diskutierten Problem, von den angebotenen Lösungen, von den Folgen der Entscheidung, von den Trägern von Politik und Kommunikation. Bewertet wird dies durch unsere Parteibindungen, durch unsere Werte, unsere Ideologien, ja durch die in unserer Persönlichkeit verankerten Weltbilder. Bei Wahlen sind das unsere Bilder der Parteien und KandidatInnen, bei Abstimmungen der Volksinitiativen oder Gesetzesvorschläge.

Dahlems springender Punkt ist nun der: Zwischen der Vorstellung und der Darstellung vermitteln unsere Wahrnehmungsfilter, die nicht eindeutig sind. In der Fachsprache ist von Konationen, Emotionen und Kognitionen die Rede. Oder einfacher gesagt: von unseren Meinungen, unseren Gefühlen, und von unseren Informationen. Was bei der Entscheidung überwiegt, ist gar nicht so einfach vorherzusehen.

Genau da sind sich Kommunikationswissenschafter Stefan Dahlem und die Werber Weber oder Segert einig: Es ist aber die Aufgabe der Vermittlung von Themen der Entscheidung durch die Kommunikation, das in uns anzusprechen, was am klarsten zu einer Entscheidung führt. Wer das besser macht, löst Meinungsbildungsprozesse aus und hat die Chance, mit seiner Kampagne mehr herauszuholen, als von Beginn weg schon da war.

Oder anderes gesagt: Wir sind immer die Gleichen, die sich entscheiden. Wir sind aber immer Verschiedene, wenn wir in einem bestimmten Fall entscheiden. Oder wie es heute im Tagi steht: “Jeder habe sowohl eine Angst- wie eine Vernunft-Seele in der Brust. Entscheidend für den Abstimmungsausgang sei also, ob beim Ausfüllen des Stimmzettels die Angst oder die Vernunft dominiere. Ein Entscheid, den man mit einer guten Kampagne beeinflussen könne”.

Claude Longchamp

NZZ kontert Tamedia

Zuerst war Kurt Imhof mit seiner Diagnose zur niedergehenden Qualität der Schweizer Medien. Dann reagiert Pietro Supino, einer der Kritisierten, im Namen des VRs der Tamedia und verteidigte Gratis- und Online-Medien. Und jetzt kontert die NZZ die Konkurrenz von der Zürcher Werdstrasse, um die Sorgen der Qualitätspresse aufzuzeigen.

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NZZ-Redaktor Rainer Stadler ist Träger des Zürcher Journalistenpreises. In der heutigen NZZ geht er der Entwicklung der Hintergrundsinformationen nach. Denn was mit der digitalen Revolution wachse, sei nur die Unterhaltung. Insofern herrsche Scheinvielfalt. Zitiert werden hierfür der Arbeiten Medienforschers René Grossenbacher: Es werde oft nur nachgeplappert, was Fachleute aus den PR-Abteilungen vorgekaut hätten. Das führe zur Reproduktion des Immergleichen, der Ausformung einer «Mainstream-Themenagenda».

In das Hohelied der wachsende Recherchemöglichkeiten mag Stadler gar nicht einstimmen. Denn der Zeitdruck verhinderte oftmals schon das elementare Nachfragen. Genau so gewinne der PR-Journalismus Ueberhand. Die PR-Abteilungen von Unternehmen und Staat müssten ausgebaut werden, um in der Öffentlichkeit ein Minimum an Informationssicherheit zu gewährleisten, weil die Ressourcen der einzelnen Medientitel auf schon geringem Niveau immer noch schrumpfen würden.

Deshalb bezweifelt die Stimme auf der Medienarbeit, dass Bildung durch Medien vermittelt werde, mit selten geäusserter Deutlichkeit. “Diese Verdienste muss man vielmehr unserem Bildungssystem zuschreiben.” Ein Strukturwandel, wie ihn die Medienbranche derzeit durchlebe, erzeugt unweigerlich Schocks, Irritationen und Frustrationen. Die Aufgabe von Verlegern sei es, die Medienhäuser wieder auf eine langfristig tragfähige Basis bringen – ein unbestritten anspruchsvoller Job.

Stadler sieht es ähnlich wie Kurt Imhof. Im Kern geht es um die Ressoucenfrage. Diese sind gerade in der Medienbranchen aus verschiedenen Gründen knapp geworden. Das drückt auf verschiedene Arten auf die Qualität der Medieninhalte, denn sie seien gezwungen, Fremdleistungen, die nicht nach journalistischen Kriterien produziert worden sind, zu übernehmen. Eigenleistungen wieder basieren immer weniger auf eigener Recherche, Kombination und Darstellung, immer mehr auf Âbdrucken des Immergleichen. Damit nimmt die Introversion der Medien als System zu. Dies anstatt die ihnen gebührende Vermittlungsleistungen im pluralistischen Verbund zu gewährleisten, wie es die meisten Demokratietheorien für nötig erachten.

Claude Longchamp

Supinos Konter gegen Imhof

Pietro Supino, Verleger der Tamedia AG, kontert die Kritiken an der Qualität der Medien, wie sie beispielsweise Kurt Imhof diesen Sommer prominent vorgetragen hat.

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Pietro Supino, Verleger der Tamedia AG, antwortet Kurt Imhof, Mediensoziologe an der Uni Zürich, in einer bisweilen persönlich gehaltenen Entgegnung.

“Medien spielen in unserer Gesellschaft eine wichtige Rolle. Es ist deshalb begrüssenswert, wenn über Fragen der Qualität debattiert wird. Die Vorstellungen darüber, was Qualität ausmacht, gehen allerdings weit auseinander”, schreibt Pietro Supino im Magazin seiner Zeitungen in Zürich und Bern. Wahrhaftigkeit, Unabhängigkeit, Eigenständigkeit und Fairness zählen für ihn generell dazu. Darüber hinaus liessen sich die verschiedenen Mediengattungen zurecht von anderen Qualitätskriterien leiten. Diese erarbeiteten sie gemeinsam intern mit ihren Redaktionen, und institutionalisierten externen Vertretern der Qualitätssicherung.

Analysen, wie die von Kurt Imhof und seinen MitarbeiterInnen am fög, die diesen Sommer in Buchform erschienen sind, hält Supino für unnötig. Da wurden namentlich die online-Medien und die Pendlerzeitungen kritisiert. Der Tamedia-Verleger hält nun dagegen: sachlich überzogen und wissenschaftlich fragwürdig ist sein Antwort. Grund: Die Mediennutzung, ihre Konstanten und ihre Veränderungen, seien nicht hinreichend erfasst worden, weshalb man die Neuerungen in der Medienwelt auch nicht richtig verstanden würden.

Deshalb schlägt für Supino auch der lautstarke Alarm ins Leere, Demokratie könne nur funktionieren, wenn in den Medien ein rationaler Diskurs über die gemeinsam zu lösenden Probleme stattfinde. Hier kontert er unmissverständlich: Das sei Unsinn, und ärgerlich dazu, heisst der Gegenschlag. “Für die Gesellschaft entscheidend ist etwas anderes – nämlich die Frage, ob das Angebot insgesamt genügt, damit die Medien ihre Forums-, Kontroll- und Integrationsfunktion erfüllen können.” Und genau das sieht Supino, mit Verweis auf politologische Studien (unter anderem auch von mir) nicht in Frage gestellt.

Selber plädiert der Verleger für mehr Gelassenheit gegenüber neuen Medien, denen gebildete Oberschichten seit jeher zu skeptisch begegnet seien. Selbstkritisch merkt er an, dem Aktualitätsdruck sollte man nicht immer gleich alles unterordnen. Bei der Auswahl von Themen und Köpfen könnte man mutiger werden. Personalisierung, Skandalisierung und Zuspitzungen ärgerten auch ihn gelegentlich.

Die eigentliche Problematik ortet Supino jedoch weder bei der Gratiskultur der neuen Medien und den Folgen für die etablierten Medien. Vielmehr klagt er die PR-Industrie an, die ihre Mittelgeber und wahren Interessen anonym halten, gleichzeitig aber rasch an Definitionsmacht gewinnen und in unverhältnismässiger Grösse gegen verkleinerte Redaktionen antreten würde.

Immerhin, an dieser Stelle kommen sich Supino und Imhof etwas näher. Der Journalismus brauche wirtschaftlich starke Medienhäuser, heisst es im Magazin – um sich gleich auch wieder vom Widersacher abzusetzen: Qualität sichere man nicht mit mehr Stellen im Journalismus, sondern mit mehr intelligenten Kooperationen, wie sie beispielsweise die Tamedia anstrebe.

Die Auseinandersetzung, die man sich hüben und drüben wünscht, ist eröffnet: über zutreffende Diagnosen, wahrscheinliche Ursachen und geeignete Vorschläge für Verbesserungen – auch via Blogosphäre, die das Magazin einen Ort der Debatte im klassischen Sinne der Aufklärung nennt, auch wenn es nicht immer ganz gelinge. Beweisen sie hier und jetzt das Gegenteil.

Claude Longchamp

Einbinden oder ausgrenzen?

Francesco Benini, Redaktor der NZZ am Sonntag, publiziert heute ein Interview mit Wolfgang Schüssel, von 2000 bis 2007 Bundeskanzler der Republik Oesterreich. Thema des Gesprächs ist der Umgang mit dem Rechtspopulismus, der in zahlreichen europäischen Ländern Westeuropas anwächst. Der Ratschlag des Altkanzlers lautet: Die Populisten durch Einbindung entzaubern. Das sehen in Europa nicht alle gleich.

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Man erinnert sich: Wolfgang Schüssel, designierter Bundeskanzler der OeVP, brach nach den Nationalratswahlen 1999 mit dem üblichen Rot-Schwarz in Oesterreich. Vielmehr ging er 2000 eine Koalition der FPOe ein. Die Legitimierung der Partei Jörg Haiders trug Oesterreich vorerst viel Kritik von der EU ein; die verhängten Sanktionen wurden nach einem halben Jahr jedoch aufgeboben.

In der Folge entwickelte Schüssel seine Umarmungsstrategie gegenüber der FPOe vollumfänglich. Im Rückblick fasst er das wie folgt zusammen: Volksparteien, die mit rechtspopulistischen Parteien koalieren, sollten sich hüten, sich auf das meist einzige Thema ihrer Partner reduzieren zu lassen. Sie sollten ihren eigenen Gesamtentwurf für die Gesellschaft unverändert weiter verfolgen. MinisterInnen rechtspopulistischer Parteien soll man nicht verteufeln, vielmehr ist in einer Regierung Kooperation zum Vorteil des Landes angezeigt. Denn parlamentarische Demokratien sollten sich hüten, von BürgerInnen abgehoben zu funktionieren, weil sie auf die Sensibilitäten von Bürgerbewegungen angewiesen sind. Die Einbindung von Teilen der Rechtspopulisten schwächt, ist sich Schüssel sicher, ihre Attraktivität für Protestwähler. Deshalb können man davon ausgehen, dass rechtspopulistische Parteien in der Regierungsverantwortung Abnützungserscheinungen zeigen – und sich, um Wählerverluste aufzufangen bald schon spalten würden.

Generell müsse man in europäischen Demokratien mit Protestpotenzialen von einem Viertel der WählerInnen rechnen, doziert der Altkanzler in der NZZaSo. Protestpotenziale würden deshalb überall und wiederkehrend auftauchen. Am Anfang solche Zyklen stünden politisierende Ereignisse wie die Ermordnung Pim Fortuyns in den Niederlanden, die brennenden Vorstädte in Frankreich oder die Thesen von Thilo Sarrazin in Deutschland. Das mobilisiere eine Kraft, die einen neuen Diskurs in die etablierte Politik trage. Dem müsse man sich stellen, wenn man Regierungsverantwortung inne habe. Dafür müsse man gelegentlich auch das Unerwartete tun, so der OeVP-Politiker.

Das Erwartbare zeichnet sich für Schüssel in Wien ab. Er rechnet mit einer rot-schwarzen Koalition. Politische und wirtschaftliche Macht vereinige sich so und werde zusammen auch regieren können. Doch bleibe das Unbehagen, etwa mit der Asylpolitik. Denn der Wahlsieger, die FPOe, werde wieder ausgegrenzt. Das würde zwar den Exponenten der Opposition eine Plattform entziehen, sie aber auch nicht fordern. Vor allem aber nehme man so einen wesentlichen Teil der Bevölkerung aus und mit ihm auch das Unbehaben, das zum Wahlentscheid für Rechtspopulisten geführt habe, nicht ernst.

Ohne Zweifel, da argumentiert einer, der als “Drachentöter” in die österreichische Politikgeschichte eingangen ist, in sich kohärent. Für ihn spricht, dass er Jörg Haiser entzaubert hat. Doch stellt sich die Frage, ob das Beispiel Oesterreich wiederholbar, ja verallgemeinerbar ist? Aehnliches wie mit Schüssels Regierung von damals geschieht gegenwärtig in Italien, ohne dass klar ist, wer hier welchen Part spielt und wer von wem entzaubert wird. Das war ja auch in der Schweiz nicht eindeutig, als Christoph Blocher im Bundesrat war.

Ein kleiner Ueberblick über die weitere Länder mit starken rechtspopulistischen Parteien zeigt, dass es auch andere Vorgehensweisen gibt. Beispielsweise nahm Nicolas Sarkozys UMP die Anliegen des aufstrebenden Front National auf, um ihn bei den nächten Wahlen erfolgreich zurückzubinden. Beispielsweise grenzen sich die schwedischen, dänischen und niederländischen Bürgerlichen ab, sind aber bereit, Konzessionen zu machen, damit ihre Minderheitsregierungen von den Rechtspopulisten geduldet werden. Anders verfahren linke Regierungen, wie jene Norwegens, welche die Fortschrittspartei ganz ausgrenzt, auch wenn sie 23 Prozent der WählerInnen-Stimmen hinter sich weiss.

Einschätzungen zum Dilemma im Umgang mit Rechtspopulisten sind erwünscht!

Claude Longchamp

Der Volkswille ist alles andere als einfach widerborstig

“Volk der Widerborste”: Unter diesem Titel setzt sich der Spiegel mit den BürgerInnen-Forderungen auseinander, welchen sich die repräsentative Demokratie unserer Nachbarn vermehrt gegenüber sieht. Ein Wider-Spruch aus meiner Feder!

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Der Berliner Zeithistoriker Paul Nolte hat wohl recht. Seine Analyse ist, dass sich die deutsche Demokratie auffächert. “Es wird immer noch die repräsentative Demokratie geben, daneben aber auch andere Formen. Ich nenne das eine ‘multiple Demokratie'”.

In der Schweiz nennt man das schon längst (halb)direkte Demokratie. Starken Exekutiven mit leistungsfähigen Verwaltungen steht ein mittelmächtiges Parlament gegenüber – und beides wird durch ausgebaute Volksinitiativen und Referenden kontrolliert, allenfalls auch gesteuert. Das gibt eine Balance zwischen den Gewalten, ohne eine eindeutig ins Zentrum zu rücken.

Die eher nüchterne Analyse des politischen Systems der Schweiz mit Vor- und Nachteilen wird in Deutschland rasch zur hochemotionalen Auseinandersetzung über staatstheoretische Prinzipien. Vordergründig lobt man, dank Bürgerbegehren lebe die Demokratie, die Menschen mischten sich ein, und sie nähmen Einfluss auf die Verhältnisse, die sie bestimmten. Und klatscht! Hintergründig schiesst man dagegen mit dem Hinweis, so entstehe keine bessere Gesellschaft, und die Modernisierung des Staates werde durch verloren gegangenen Bürgersinn blockiert. Die Gegenargumente lassen meist nicht lange auf sich warten: Die Politiker Deutschlands gelten als zu abgeklärt, was sich in mangelnder Sensibilität für das äussere, was in der Bevölkerung vor sich gehe, während die anderen darauf verweisen, einmal losgelassen, lasse sich der Mob der Volksdemokratie nicht mehr stoppen.

Da wirken ohne Zweifel historische Erfahrungen mit: Am Ende des Ersten Weltkrieges wurden die Deutschen direkt aus der fast 1000jährigen Monarchie unvermittelt in die Republik entlassen, in der sich bürgerliche und sozialistische Konzepte der Demokratie gegenüber standen, ohne dass man damit hätte Erfahrungen sammeln können. Die daraus entstandene Polarisierung führte, etwas verkürzt ausgedrückt, zum Aufstieg der Nationalsozialisten und endete in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Dass es nie mehr soweit kommt, ist im Interesse aller.

Das heisst nicht, dass es die deutsche Politik keinen Demokratisierungsbedarf habe. Die 80er Jahre liessen in West, dann vor allem im Osten die Menschen auf die Strasse gehen, um gegen Unrecht zu protestieren. Seit der Widervereinigung stiegt die Zahl der BürgerInnen-Begehren; auf Länderebene sind es zwischenzeitlich rund 20 im Jahr, und in den Kommunen zählt man landauf, landab zwischenzeitlich rund 350 pro Jahr. 2010 waren zwei Volksentscheidungen auf Länderebene erfolgreich: Der Kampf gegen die Schulreform in Hamburg und der Nichtraucherschutz in Bayern, und niemand kann diese Beschlüsse ins Gegenteil umkehren. Das war zu Beginn des Jahrzehnts noch anders, als man mehrere Vorlagen, die in Volksabstimmungen angenommen wurden, durch faktischen Entscheidungen der Behörden ausgehebelte. Alles in allem sind das Demokratisierungsfortschritte, die nicht zu letzt rückläufige Mitgliederzahlen in Parteien, Kirchenaustritte, Gewerkschaftsferne und volatile Mediennutzung ausgleichen.

Gerne verweist man in Deutschland darauf, dass Volksentscheidungen nicht besonders legitimiert seien, weil die Beteiligung oft tief, sprich unter 50 Prozent, sei. Nur sind das nicht selten die Verlierer, die im Nachein so argumentieren; dem haftet auch etwas Opportunistisches an. Zur Etablierung direkter Demokratie gehört, diese nicht zu verhöhnen, auch wenn nicht alle BürgerInnen zu allen Themen und zu jedem Zeitpunkt eine Meinung haben. Das mag zwar ein schönes Ideal sein, ist aber weit von der Realität weg, ohne deshalb schlecht zu sein. Härter trifft meines Erachtens der Einwand der Gegner von Volksrechten, dass ihre Einführung zu einer Bevorteilung von Mittel- und einer Benachteilung von Unterschichten führe. Das Schweizer Beispiel lehrt nämlich, dass die Stimmbeteiligung sozialstrukturell unterschiedlich ist: Mittelständische Gruppe wie Handwerker und Bauern werden bevorteilt, obere Mittelschichten und Oberschichten haben mehr Affinitäten zu aktiver Politikgestaltung, und ältere Semester sind über dem Mittel häufig unter den EntscheiderInnen. Das erschwert es ArbeiterInnen, untere EinkommensbezügerInnen und jüngere Menschen, sich in Frage, die nach der Mehrheitsregel entschieden werden, durchzusetzen.

Doch stehen dem offensichtliche Vorteile der halbdirekten Demokratie gegenüber: Krisen im Regierungslager, Fehler in Parlamentsentscheidungen oder auch Einseitigkeiten in der öffentlichen Debatte können durch Volksentscheidungen korrigiert werden, durch Bürgerengagement kompensiert und durch Protestbewegungen kontrastiert werden. Das Geniale an der direkten Demokratie ist, dass sie dafür einen institutinalisierten Artikulationskanal mit Entscheidungskompetenz anbietet.

Mindestens auf der lokalen Ebene und in kleinen und mittelgrossen politischen Gebilden bringt dies erwünschte Machtverlagerungen, vor allem von den politischen Parteien zur BürgerInnen-Gesellschaft, mit sich und stabilisiert so das das politische System, selbst wenn es hie und da auch umstrittene Entscheidungen gibt. Denn eines ist klar: Die Wahlentscheidungen alle vier Jahre, die meist aufgrund stilisierter Konflikte in zwei oder drei Sachfragen entstehen, sind vielfach zu einfach strukturiert, um mit den reinen Mitteln der repräsentativen Demokratie der Vielfalt von Fragestellungen in der Zwischenzeit zu genügen.

Die direkte Demokratie lebt davon, dass sich die Aktiven oder Betroffenen vermehrt engagieren dürfen, von einer meist pragmatisch urteilenden Mehrheit aber kontrolliert werden. Das ist alles andere als widerborstig wie ein Wildschwein, es ist vielmehr der Wille des aktivierten Volkes, selbstbestimmt besser leben zu wollen.

Claude Longchamp

Direkte Demokratie ist eu-kompatibler als man gemeinhin denkt

Wäre die Schweiz 1992 dem EWR beigetreten, hätte sie 94 Prozent aller Volksabtimmung seither genau gleich durchführen können, und bei einem EU-Beitritt wären es 85 Prozent gewesen. Den Vorteilen im Einzelfall stehen aber Nachteile bei Grundsatzfragen gegenüber, bei denen die Schweiz mit den Bilateralen ausgeschlossen bleibt. Das sagt Thomas Cottier in einem Gutachten, das die Sonntagszeitung gestern veröffentlichte.

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Prof. Thomas Cottier, Verfasser der neuesten Gutachtens zu EU und direkte Demokratie in der Schweiz

Der neue Diskussionsstil
In diesem Sommer änderte sch einiges an der Art der Europa-Debatte in der Schweiz: ie Denkfabrik Avenir Suisse publizierte zuerst eine Analyse der Souveränitätswahrung mit dem Status Quo und denkbaren Weiterentwicklungen. Das Ergebnis fiel ausgesprochen nüchtern aus. Der EU-Beitritt hat finanzielle Nachteile, die durch politische Mitsprache kompensiert werden. Der Preis für einen EWR-Beitritt ist deutlicher geringer, allerdings fallen auch die politschen Möglichkeiten der Mitbestimmung entsprechend aus. Der Bilaterale Weg schliesslich ist der für die Schweiz optimale Weg in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, doch droht er in einer Sackgasse zu enden, wenn das Interesse der EU schwindet.

Gestern nun hat die Sonntagszeitung, seit dieser Ausgabe unter Martin Spieler als neuem Chefredaktor, die Frage mit den Plus und Minus einer verstärkten Integration mit Bezug auf die Volksrechte aufgenommen. Das Gutachten erstellte Thomas Cottier, auf einmal Schweizer Koryphäe für Europarecht und EU-Beitrittsbefürworter.

Fact-sheet Volksrechte
Wäre die Schweiz 1992 dem EWR beigetreten, hätten sich die folgenden Aenderungen ergeben: Bei 10 der 163 Vorlagen wäre es zu Problemen verschiedener Art gekommen. Acht davon betreffen Volksinitiativen, von denen 6 verworfen, zwei aber angenommen wurden. Namentlich sind dies die Alpen-Initiative von 1994 einerseits, das Gentech-Moaratorium von 2005 anderseits. Zwei der Abstimmungen aus jüngster Zeit hätten so wie gehabt nicht stattgefunden. Konkret sind dies die Einführung resp. die Erweiterung der Personenfreizügigkeit, bei denen aber auch die Folgen einer Ablehnung für die Bilateralen ein Gegenstand der Diskussionen waren.

Wäre die Schweiz im gleichen Zeitraum bereits EU-Mitglied gewesen, wären die Differenzen grösser, aber auch nicht fundamental gewesen. 3 Abstimmung wären obsolet gewesen und hätten gar nicht stattgefunden. Sie alle betreffen Fragen des EU-Beitritts oder der Teilmitgliedschaft wie den Bilateralen I. Ueber den Beitritt zum Schengenraum hätte man indessen auch bei einem vorgängigen EU-Beitritt abstimmen können. Die Zahl der problematischen Volksinitiativen erhöhte sich auf 14, von denen drei angenommen wurden. Zu den beiden oben erwähnten Fällen käme der Gegenvorschlag zur Landwirtschaftsinitiative von 1996 hinzu.

10 Mal wären Behördenvorlagen nicht ohne Schwierigkeiten zur Abstimmung gelangt. Die Erhöhung der Treibstoffzölle (1993), die Einführung der LSVA (1998) und der Getreideartikel (1998) widersprechen EU-Recht. In sieben weiteren Fällen hätten Folgeabstimmungen nach Grundsatzentscheidungen nicht durchgeführt werden können. Sie betreffen zweimal die Erweiterungen der Personenfreizügigkeit und das Referendum gegen die Biometrischen Pässe, während die Zahlungen an den Kohäsionsfonds in der Form obsolet gewesen wären.

Kommentare
EU-Optimisten und Skeptiker reagieren unterschiedlich auf das Gutachten. Auf der einen Seite hätten sich klar mehr Richtlinien ergeben, die man, einmal angenommen, hätte umsetzen müssen resp. deren Nicht-Realisierung ihren Preis gehabt hätte. Auf der anderen Seite sind die Möglichkeiten zu erwähnen, die uns entgangen sind. So hatte die Schweiz keinen Einfluss auf die Ausarbeitung oder Entscheidfindung bei den Verträgen von Amsterdam oder Nizza, und sie konnte bei den Erweiterungen nicht mitentscheiden, genauso wenig wie sie bei der EU-Verfassung abstimmen durfte.

Eines habe ich an diesem Wochenende gelernt: EU-Integration und direkte Demokratie schliessen sich nicht grundsätzlich aus! Sie haben aber wechselseitige Konsequenzen. Zunächst müsste sich das Verständnis der direkten Demokratie im nationalkonservativen Lager von der selbstbezogenen Souveränitätsdefinition in jeder Einzelfrage zu einem Prinzip der Entscheidfindung weiterentwickeln, das auf einmal getroffenen Beschlüssen aufbaut, ohne diese immer wieder in Frage zu stellen. Doch auch für die Oekokonservativen wäre eine vermehrte EU-Integration eine Herausforderung. Denn die wirklichen Problemfälle unserer Entscheidungen stammen vorwiegend aus ihrem Bereich, seien es Verkehrs-, KonsumentInnen- oder Landwirtschaftsbereich. Am geringsten wären die Auswirkungen wohl für das Parlament, das einige seiner Entscheidungen nicht hätte treffen dürfen oder müssen.

Das Wesentliche aber wurde nicht wirklich gesagt: Dass die Schweiz als Musterland der direkten Demokratie glaubwürdig zeigen könnte, wie diese Form der Entscheidung in einem mittelgrossen Staat Platz hat und damit Vorbild für eine Reihe von Nationalstaaten oder Bundesländern in EU-Mitgliedstaaten werden könnte.

Claude Longchamp