Initiativprojekt zur Volkswahl des Bundesrates angekündigt

Die Zürcher Sektion der SVP greift mit der Volkswahl des Bundesrates eine Idee auf, welche die Mutterpartei im Jahre 2000 vorbereitet, dann aber fallen gelassen hatte. Sie will eine Volksinitiative, die es bei Annahme ermöglichen würde, dass die WählerInnen inskünftig Parlament und Regierung gleichzeitig wählen könnten.

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Alfred Heer, Zürcher Nationalrat und Präsident der SVP des Kantons Zürich, präsentierte das Projekt für die Initiative “Volkswahl des Bundesrates”

Die Forderung
Das Vorhaben für eine Volksinitiative sieht vor, dass der Bundesrat gleichzeitig mit den Nationalratswahlen von den Wahlberechtigten bestimmt würde. Die direkte Wahl der BundesrätInnen soll nach dem Mehrheitswahlrecht erfolgen und der lateinischen Sprachminderheit fest zwei Sitze garaniteren. Diese sollen nach dem Verfahren vergeben werden, das im Kanton Bern für die Bestimmung der fest gesetzten Vertretung des Berner Juras gilt.

Systemreform im Selbstverständnis der SVP
Das reaktualisierte Initiativprojekt wendet sich deutlich gegen andere Reformversuche des Bundesrates, etwa gegen die Ausweitung der Departementszahl, die unter einem Präsidenten durch MinisterInnen geführt würden, aber auch gegen die Stärkung des Präsidiums im jetzigen Gremium. Denn man möchte bei der knapp ausgestalteten Kollegialregierung bleiben, mit einem Präsidenten oder einer Präsidentin aus der Mitte der Mitglieder, jeweils für ein Jahr bestimmt.

Die SVP versteht ihren Reformvorschlag nicht als Schritt zu einem Präsidialsystem im amerikanischen Sinne. Vielmehr sieht es als Komplettierung des schweizerischen Sonderweges in der Demokratie-Entwicklung, die durch einen analogen Aufbau von unten nach oben bestimmt ist, und überall Volkssouveränität durch die Wahl von Parlament und Regierung, aber auch durch Abstimmungen über Sachfragen garantiert. Die jetzige Abhängigkeit der Regierung vom Parlament und nicht vom Volk betrachten die Gutachter für schlicht systemwidrig.

Recht offen kritisiert wird der Proporzgedanke für die Zusammensetzung der Bundesrates, weil er die Wahlfreiheit einschränke. Das hält man mit demokratischen Grundsätzen für unvereinbar. In solche Sätzen kommt denn auch der angestrebte Systemwechsel hin zu einer Konkurrenzdemokratie am klarsten zum Ausdruck.

Pikantes im Kleingedruckten
Etwas unbedacht wirkt in der gegenwärtigen Debatte über “Romand(e)s” das Kleingedruckte. Zur Regelung des Minderheitenschutzes hat man nämlich die lateinischen Gebiete der Schweiz aufgezählt. Dabei wird eine Zuordnung ganzer Kantone zu den Sprachregionen postuliert. Der Kanton Freiburg gilt demnach integral als Kanton der Romandie.

Das dürfte Urs Schwaller, möglicher Kandidat der CVP bei der anstehenden Bundesratswahl, freuen. In der Oeffentlichkeit wird bestritten, dass der deutschfreiburger Ständerat die Romandie vertreten können. Der diskutierte Initiativtext sähe hier keine Probleme. Ich werde mich umschauen, wie sich die SVP im Fall seiner Nomination verhält.

Claude Longchamp

Spaltungen der Schweiz bei Volksabstimmungen systematisch untersucht

Ein Forschungsprojekt von Berner PolikwissenschafterInnen hilft, die Vielfalt von Gegensätzen in den Abstimmungsergebnissen historisch und typologisch zu überblicken.

Wer erinnert sich nicht an die Volksabstimmung vom 6. Dezember 1992, als die Schweiz in einer denkwürdigen beim Volksmehr knapp, beim Ständemehr deutlich entschied, dem EWR nicht beizutreten. Vom “Röschtigraben” war damals sinnbildlich die Rede, weil die Trennlinie zwischen mehrheitlicher Zustimmung und Ablehnung praktisch mit der Sprachgrenze zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz zusammenfiel, und die Sprachregionen (mit Ausnahme der deutschsprachigen Grossstädte) fast gänzlich gegensätzlich stimmten.

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Cleavages oder Konfliktlinien nennt die Sozialwissenschaft gesellschaftlich bedingte Spaltungen, die historisch zurückliegende Konflikte reflektieren, nachwirken, verschiedenen Interessen oder Identitäten zum Ausdruck bringen und durch entschprechende Organisationen immer wieder mobilisiert werden. Das kann man erfolgreich für die Entstehung der Parteiensysteme verwenden, aber auch für Analyse von Volksabstimmungsergebnisse verwenden.

Ein Forschungteam der Universität Bern, geleitet von Wolf Linder, hat sich dieses Raster auf alle Volksabstimmungen seit 1874 angewendet und die raumbezogenen Resultate erstmals eine systematischen statistischen Analyse über die Zeit unterzogen. Die Ergebnisse ihrer Studie wurde vor kurzer Zeit im Band “Gespaltene Schweiz – Geeinte Schweiz. Gesellschaftliche Spaltungen und Konkordanz bei den Volksabstimmungen seit 1874″veröffentlicht (und ist teilweise auf via Web abrufbar).

Konfliktlinie “Stadt vs. Land” bei Volksabstimmungen
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Regula Zürcher und Christian Bolliger, welcher die empirischen Arbeiten geleistet haben, kommen zum Schluss, dass der Stadt/Land-Gegensatz nicht nur der wichtigste über die ganzen Betrachtungsperiode ist. Er nimmt auch klar zu. Oder anders gesagt: In Volksabstimmung der Schweiz ist die Konfliktlinie zwischen Stadt und Land am häufigsten relevant, um Zustimmung und Ablehnung zu kennzeichnen.

Konfliktlinie “Kapital vs. Arbeit” bei Volksabstimmungen
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An zweiter Stelle figuiert bei ihnen die Konfliktlinie “Arbeit/Kapital”; sie war zwischen 1895 und 1925 ausgeprägt wirksam und bei Volksabstimmungen die wichtigste. Seit 1986 ist die wieder zunehmend, bleibt aber hinter der erstgenannten zurück.

Konfliktlinie “deutschsprachige vs. französischsprachige Schweiz” bei Volksabstimmungen
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Damit sind die beiden interessenbezogenen Spaltungen an der Spitze. Die beiden identitätsorientierten Konfliktlinien, die ebenfalls untersucht wurden, folgen danach: Zuerst erwähnt wird der Sprachengegensatz (hier vereinfacht dargestellt durch die Spaltung zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz), während die konfessionelle Teilung der Schweiz (gemessen an der Polarität zwischen Katholizismus und Protestantismus) an letzter Stelle folgt.

Konfliktlinie “Katholisch vs. reformiert” bei Volksabstimmungen
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Der grosse Vorteil dieser Art von Analyse ist, die Uebersicht zu erhalten und zu bewahren, wobei die Aufgeregtheit, mit der einzelne Phänomene gelegentlich kommentiert werden, relativiert wird. Das gilt notabene auch für die “Spaltung” der Schweiz beim EWR, die aus der Sicht der Abstimmungsgeschichte nur eine vorübergehende Episode war: ein Grund mehr, diese Konfliktlinie nicht bei jeder Gelegenheit zu bemühen!

Claude Longchamp

Die neue Form der Referendumsfähigkeit in der Schweiz

Dass die Gewerkschaften referendumsfähig sind, ist keine Ueberraschung. Sie haben es bei der 11. AHV-Revision bewiesen. Dass nun auch der K-Tipp auf dem Weg hierzu ist, kann als symptomatische Neuerung in der politischen Mobilisierung in der Schweiz gesehen werden. Selbst die Politikwissenschaft wird mit ihren gängigen Vorstellungen der politischen Mobilisierung umdenken müssen.

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In der schweizerischen Referendumsdemokratie ist die Fähigkeit, innert 100 Tagen 50’000 Unterschriften zusammen zu bringen, ein wesentliches Kriterium der Konfliktfähigkeit einer Organisation. Wenn diese darüber hinaus beweisen kann, dass sie auch eine Abstimmungskampagne so erfolgreich führen kann, dass das dabei ein Volksmehr resultiert, bezeichnet man einen Akteur als referendumsfähig.

Die Parteien der Schweiz sind das in beschränkter Hinsicht. In Verbindung mit mitgliederstarken Organisationen, die ihnen nahestehen, gelten aber fast alle grösseren politischen Parteien als referendumsfähig. Bei den Grünen machen die Umweltorganisationen die Differenz aus, bei der SP die Gewerkschaften, bei CVP und FDP der Gewerbeverband, bei der SVP zusätzlich die Jungpartei und die AUNS.

Neueren Datums ist, dass nun auch Zeitschriften Referenden lancieren. Das war beispielsweise beim BVG-Umwandlungssatz, den das Parlament beschloss, der K-Tipp, unterstützt von Saldo und Bon à savoir. Auf diese Initiative hin wurde die Unia bei der Unterschriftensammlung aktiv, und es folgten mit etwas Abstand, die PdA, die Grünen und die SP.

Von der rekordverdächtigen Zahl von 205’000 Unterschriften gegen den vom Parlament beschlossenen teiferen Umwandlungssatz sammelt der K-Tipp einen Drittel. Das sind annähernd 70’000 gültige Signaturen. Das alleine hätte gereicht, um die Vorlagen zwingend zur Abstimmung zu bringen.

Der K-Tipp ist damit jedoch noch nicht zwingend referendumsfähig. Aber er ist auf dem besten Weg dahin. Die erste Hürde hat er genommen. Die zweite, die Kampagne, wird er ohne Zweifel auch nehmen, gehört doch die journalistische Kampagne zum Kerngeschäft der Zeitschrift. Die dritten und letzte Stufe steht aber noch aus; die Volksabstimmung über den BVG-Umwandlungssatz wird zeigen, ob der K-Tipp effektive vollumfänglich referendumsfähig wird oder nicht.

Wenn dem dereinst so ist, muss man die klassisch politikwissenschaftliche Denkweise im Zeitalter der Mediengesellschaft umkehren. Demnach sind die Parteien Zentralen der politischen Aktion, die sich auf Verbände als Massenorganisationen stützen, und Massenmedien als Instrumente der Kommunikation einsetzen. Die neue Formel lautete vielmehr: Fachzeitschriften sind die zentralen politischen Akteure, die verwandte Interessenorganisation mobilisieren können und so politische Parteien zum Mitmachen bewegen.

Claude Longchamp