Standpunkte aus Stadt und Land

Mit Guy Morin und Peter Föhn debattiere ich über Ursachen und Folgen des neuerdings viel zitierten Stadt/Land-Grabens. Vor der Kamera redete man viel übereinander, nach Sendeschluss endlich auch miteinander.

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Auf meine kleine, aufreissende Analyse in der Einleitung reagierten die beiden Politikerinnen, der Muotataler Unternehmer Peter Föhn, Nationalrat für die SVP Schwyz, und Guy Morin, der grüne Regierungspräsident des Kantons Basel-Stadt, ablehnend: Der Stadt/Land-Graben existiere nicht wirklich!

Doch dann legten sie mit voller Härte los: Der Städter zitierte den von seinem Siedlungsraum erwirtschafteten Beitrag zur volkswirtschaftlichen Wohl, und der Landschäftler beschwor die schweizerischen Werte, die nur in Tälern wie dem seinen in unverfälschter Form zu haben seien. Oekonomie gegen Kultur, das waren die Stichworte!

Ich sass mitten drin, als die Giftpfeile am meinen beiden Ohren vorbei sausten – bis mir der Kragen passte und ich beiden Kontrahenten sagen musste, ich würde an ihren Standpunkten das Eidgenössische vermisse: das Bewusstsein darüber, dass wir verschieden seien, aber zusammengehörten, und das nur so bleibe, wenn wir den willen dazu regelmässig aufbrächten!

Das verlagerte die Diskussion von der Polarisierung zum Dialog, befördert von den Journalisten Patrick Rohr und Urs Buess, die im Auftrag der Basler Zeitung die Sendung moderierten. Wer wissen will, wie es ausging, schaue sich die Debatte am Sonntag um 1310 oder 1825 an.

Eines wird man als Zuschauer jedoch nicht sehen. Als die Kameras aus waren und wir auf Glas Weisswein zusammen sassen, machten die beiden Politiker bald schon Duzis und tauschten Einladungen aus, um nicht nur übereinander, sondern auch miteinander zu sprechen.

Michèle Rothen schreibt dazu im heutigen “Magazin”: Es bringt nichts, mit dem Auto aufs Land zu fahren oder mit dem S-Bahn in die Stadt zu reiten, um Theater zu sehen oder Bauernferien zu geniessen. Man muss auch miteinander reden, um Verständnis zu entwickeln, nicht Feindbilder schüren.

Dem habe ich nichts mehr beizufügen!

Claude Longchamp

Waffen-Initiative: Die Trennlinie ging durch die Agglomerationsgürtel der grossen Zentren

Nun liegt sie vor: die Detailanalyse des Bundesamtes für Statistik zu den raumbezogenen Ergebnissen der Abstimmung über die Waffen-Initiative. Sie legt nahe, das Stadt/Land-Kontinuum aufzuteilen, in Kernstädte, Agglomerationen und Landgemeinden.

Die grösste Differenz im Abstimmungsverhalten der Gemeinden gibt es nach BfS zwischen grossen Kernstädten und (semi)agrarischen Landgemeinden. Diese votierten zu 72 Prozent gegen die Initiative, jene zu 65 Prozent dafür. Das hatte man schon am Sonntag.

Im ruralen Raum ist die Ablehnung weitgehend typen-unabhängig. Auch die Landgemeinden mit industrieller oder touristischer Erwerbsstruktur waren dagegen, genauso wie die Pendlergemeinden auf dem Land. Das kommt in der nebenstenden Karte gut zum Ausdruck.

Differenzieren muss man den urbanen Raum. Zunächst hängt der Ja-Anteil von der Grösse der Zentrumgemeinden ab. Die Stimmenden der Grosszentren votierten wie gesagt zu zwei Dritteln dafür, jene der Mittelzentren zu 53 Prozent. In den Kleinzentren (ohne Agglomeration) resultierte ein Ergebnis fast wie gesamtschweizerisch – 58 Prozent dagegen.

Unterscheiden muss man auch zwischen Kernstädten und Agglomerationsgemeinden. Diese waren in ihrer Gesamtheit auf der Nein-Seite, wenn auch teilweise knapp. So erreichte die Initiative in den einkommensstarken Agglomerationsgemeinden im Schnitt eine Zustimmung von 49 Prozent. In den Agglomerationen der fünf Grosszentren resultierte ein mittlerer Ja-Anteil von 47 Prozent. Wer im urbanen Raum eines Mittelzentrums stimmte, war dann aber zu 61 Prozent dagegen.

Das spricht für eine Dreistufung der Abstimmungsergebnisse zur Waffen-Initiative im Raum: Ja-Pol in den Kernstädten, abhängig von der Grösse, mittlere Position mit Ja- und Nein-Gemeinden in den Agglomerationen, abhängig vom Zentrum, und ein flächendeckender Nein-Pol auf dem Land.

Das Interessante ist, dass es eine Bewegung vom Land in die Kleinstädte und Agglos der Mittelzentren gibt, beschränkt auch der Grosszentren. Das jedenfalls kann man schliessen, wenn man die Haupttrends in der Meinunungsbildung mitberücksichtigt. Denn die bewusste Ablehnung baute sich erst mit der Nein-Kampagne auf, war aber so stark, dass sie auch die Zustimmungsbereitschaft reduzierte.

Im grossen Ganzen entspricht dies dem Bild bei der Minaretts-, Ausschaffungs- und Steuergerechtigkeitsinitiative. In allen drei Fällen wurde die Position des ruralen Pols zur Mehrheit. Die Grenzlinie bei der Zustimmungs-/Ablehnungsmehrheit ist allerdings nicht immer identisch. Marginalisiert wurden die Grosszentren insbesondere bei der Minarettsfrage. Ansonsten geht die wirkliche Trennlinie wohl durch die Agglos der grossen Zentren.

Claude Longchamp

Die 10 grössten Stadt/Land-Unterschiede

Gestern noch war es ein intuitive Aussage. Heute ist sie zahlenmässig untermauert: In der laufenden Legislatur war der Stadt/Land-Graben nie so gross wie bei der Abstimmung über die Waffen-Initiative. Und historisch gesehen ist der Gegensatz ein Phänomen, das erst in den letzten 25 Jahren aufgetreten.

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Die Erstanalyse des historischen Momentes

Sicher, der Index des BfS zum Stadt/Land-Gegensatz ist stark vereinfachend. Er misst im wesentlichen wie die ruralen und urbanen Gebiete gestimmt haben. Ueber die Differenzierungen im agglomerierten Raum sagt er (vorerst) nichts.

Dennoch ist die Sprache deutlich, die aus den BfS-Unterlagen hervorgeht. Der Indexwert bei der jüngsten Abstimmung liegt bei knapp 17 Punkten. In der auslaufenden Legislatur war er mit 12 Punkten bei der Minarett-Frage am grössten. Nur 3 Mal in den 24 Abstimmungen seit den letzten Wahlen kletterte er über den Wert von 10.

Damit ist die Aussage berechtigt: Der Stdt/Land-Graben war diesmal exemplarisch hoch. Seit den Wahlen 2007 hat man nie eine Polarisierung in diesem Masse erlebt.

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Quelle: Microgis

Das Phänomen kann zudem sprachregional differenziert werden. Den geringsten Unterschied gab es in der italienischsprachigen Schweiz, grösser war er in der französischsprachigen Region und eindeutig am grössten war in der deutschsprachigen.

Hier die Uebersicht der nationalen Indexwerte::
Index Abstimmung (Jahr)
Wert
16,6 Waffen-Initiative (2011), Land mehr dagegen, keine unterschiedlichen Mehrheiten
14,2 UNO-Beitritt (2002), Stadt mehr dafür, Stadt setzt sich durch
13,8 Schwangerschaftsabbruch (2002), Stadt mehr dafür, keine unterschiedlichen Mehrheiten
13,4 EWR (1992), Stadt mehr dafür, Land setzt sich durch
12,9 Abkommen von Schengen/Dublin (2005), Stadt mehr dafür, Stadt setzt sich durch
12,3 Revision Arbeitsgesetz (2006), Stadt mehr dafür, Stadt setzt durch
12,2 Einbürgerung 2. Generation (2004), Stadt mehr dafür, keine unterschiedlichen Mehrheiten
11,8 Partnerschaftsgesetz (2005), Stadt mehr dafür, Stadt setzt sich durch
11,7 Minarett-Initiative (2009), Land mehr dafür, keine unterschiedlichen Mehrheiten
11,5 Mutterschaftsversicherung (2004), Stadt mehr dafür, Stadt setzt sich durch

Neuralgisch sind Themen der Oeffnung der Schweiz. Wir finden den EWR-, den UNO-Beitritt und die Schengen/Dublin-Abkommen auf der Liste. Es geht aber auch um unterschiedliche Lebensweisen, wie das beim Schwangerschaftsabbruch, beim Partnerschaftsgesetz und bei der Mutterschaftsversicherung zum Ausdruck kommt. Die Waffenfrage kann durchaus hierzu gezählt werde. Schliesslich geht es um Entfremdungsthemen, wie die Einbürgerungs- und Minarettsfrage zeigt. All diese Themen korrelieren mit der Achse zwischen Tradition und Moderne, während in einem einzigen Fall, dem Arbeitsgesetz, ein sozialpolitisches Thema auftaucht. Das hat folgen: Nicht die klassische Links/Rechts-Polarität ist entscheidend, sondern die Frage nach der Identität, dem Selbstverständnis, ja dem Wunschbild, das man von sich hat.

In 4 der 10 Fälle gab es trotz grosser Differenz keinen Gegensatz in den Mehrheiten. In übrigen 6 Fällen setzte sich fünf Mal die Stadt durch, einmal das Land.

Die Waffen-Abstimmung zeigte übrigens keinen Gegensatz der Mehrheiten. Das hat viel mit der BfS-Definition zu tun, die auf dem Unterschied von Land und Agglomeration aufbaut. Faktisch werden Unterschiede zwischen Ballungsräumen und Landgegenden gemessen. Erst seit Neuestem unterscheidet das BfS innerhalb der Agglomerationen nach Grösse und Zentralität. Bei der Waffen-Initiative war das Land zu 68 Prozent dagegen, die Agglo zu 52. Die Werte innerhalb der Agglomerationen werden demnächst aufgeschaltet.

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Christian Bolliger, der Berner Polithistoriker, hat solche Befunde zur Aktualität in die Schweizer Abstimmungsgeschichte eingebettet. Dies legt nahe, dass der Stadt/Land-Unterschied in der beschriebenen Form und Intensität ein Phänomen ist, dass erst Ende der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts entstanden ist. Der Konflikt wurde grösser, weil sich die urbane Lebensweise in den 90er Jahren vermehrte, das Pendel jetzt aber in die andere Richtung zu kippen beginnt.

Die aktuelle Abstimmung ist damit die Spitze der Spitze der Entwicklung.

Claude Longchamp

Wahrscheinliche Trends in der Meinungsbildung bei Volksinitiativen

Seit 1998 führt das Forschungsinstitut gfs.bern für die SRG Abstimmungsumfragen durch. 2002 wurde das Vorgehen standardisiert, um die Ergebnisse zu den Meinungsverläufen im Vorlagenvergleich beurteilen zu können. Die Befragung zum “Schutz vor Waffengewalt” ist die 15., die nach diesem Muster untersucht worden ist. Das wahrscheinlichste, wenn auch nicht einzige Szenario ist der Aufbau der Ablehnung bei gleichzeitigem Rückgang der Zustimmung.

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Die Anwendung dieser Erkenntnis auf die Meinungsbildung zur Waffen-Initiative

Die Politikwissenschaft weiss über die Funktionen von Volksinitiative einiges. Ueber die Prozesse der Meinungsbildung bestehen dagegen Lücken. Die Untersuchungsreihe unseres Instituts für die SRG SSR Medien bietet deshalb eine willkommene Gelegenheit, einiges davon zu schliessen.

Eine erste Uebersicht über die 15 in den letzten 8 Jahren einheitlich untersuchten Volksinitiativen zeigt:

Erstens, die Meinungsbildung bei Volksinitiative ist häufig schon vor der Hauptphase fortgeschritten. Im Schnitt können 86 Prozent der Teilnahmewilligen BürgerInnen rund 50 Tage vor der Abstimmung eine vorläufige Stimmabsicht äussern. 14 Prozent sind im Schnitt ganz unschlüssig. Dieser Wert ist geringer als bei Behördenvorlagen.

Zweitens, die Stimmabsichten sind jedoch bei weitem nicht überall gefestigt. Das gilt namentlich für die Zustimmungsbereitschaft. Diese nimmt in der Regel während eines Abstimmungskampfes ab, während die Ablehnungstendenz in allen Tests zunahm.

Bei den meisten untersuchten Fällen kommt es also zu einem Meinungswandel. Eigentliche Meinungsumschwünge mit umgekehrten Mehrheiten zwischen erster Umfrage und Abstimmungstag kommen in etwa der Hälfte der Fälle vor.

Bekannt ist das Ausmass des Meinungswandels. Setzt er im beschriebenen Masse ein sind 11 Prozentpunkte Verringerung des Ja-Anteil in 40-50tägigen Kampagnen das Mittel, während sich das Nein im Schnitt um 25 Prozentpunkte erhöht. Die Maximalwerte wurden wurden 2003 bei der SP-Gesundheitsinitiative gemessen, wo sich das Ja um 22 Prozentpunkte reudzierte, und das Nein um 43 Prozent aufbaute.

Das eigentliche Gegenteil resultierte beim Gentech-Moratorium, wo es während der Kampagnen zu einem der seltenen Meinungsumschwünge zum Ja kam. Das Abstimmungsresultat lag im Ja 9 Prozentpunkte höher als in der ersten Umfragen.

Die Gründe hierfür sind noch nicht erforscht; sie müssten mittels Arbeitshypothesen geprüft werden; zu diesen zählen:

. Der Meinungswandel tritt als Folge einer intensivierten Beschäftigung mit der Vorlage ein.
. Der Meinungswandel reflektiert die unterschiedliche Intensität der Kampagnen Pro und Kontra.
. Der Meinungswandel ist eine Folge veränderter Problemdeutungen, die sich im Abstimmungskampf von jenen der Pro zu jene der Kontra-Seite verlagert.
. Initiativen scheitern an ihrer materiellen Schwachstelle.
. Ein klares parteipolitischen Profil erschwert es, eine breite Zustimmung zu halten.

Man kann vorläufig festhalten: Punktgenaue Prognosen lassen sich damit nicht machen. Jedoch ist es möglich, Trends in der Meinungsbildung nach Wahrscheinlichkeiten zu bewerten, und damit Szenarien der Zustimmungs- und Ablehnungsbereitschaften zu formulieren, welche die Unsicherheiten nicht beseitigen, aber einschränken.

Claude Longchamp

Die Stimmbeteiligung im Kanton Genf von Tag zu Tag

Wenn es um die Stimmbeteiligung geht, informiert der Kanton Genf am offensivsten. Auf der Website des Kantons publiziert die Staatskanzlei jeden Tag den Stand der eingegangen Stimmzettel aus der brieflichen Stimmabgabe. Das erlaubt recht zuverlässige Schätzungen zu Mobilisierungskraft von Abstimmungen im Kanton und gesamtschweizerisch.

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In den 2-3 Woche dem jeweiligen Abstimmungstag erfährt man auf der Website von Kanton und Republik Genf täglich, wie hoch die Stimmbeteiligung ist. Mit Blick auf den morgigen Abstimmungssonntag waren gestern nachmittag 43 Prozent der versandten Stimmausweise zurückgekehrt. Zwei Tage vor der Abstimmung vom 26. September waren es nur 34 Prozent gewesen, im gleichen Abstand zu den Volksabstimmungen vom 28. November lag der Wert bei 48 Prozent.

Man kann daraus jetzt schon auf eine überdurchschnittlichen Beteiligung schliessen, obwohl es nur eine nationale Abstimmung gibt und im Kanton Genf keine wichtigen Kantons- und Gemeindeentscheidungen anstehen.

In den letzten 48 Stunden gehen in Genf nochmals 7 Prozent der Stimmcouverts ein, war für eine kantonale Beteiligungsquote von rund 50 Prozent spricht. Der Kanton Genf liegt erfahrungsgemäss leicht über dem nationalen Mittel, sodass die national mit einer Beteiligung knapp unter der Hälfte gerechnet werden kann.

Der zeitliche Vergleich der Entwicklungen dies- und das letzte Mal offenbart eine unterschiedliche Dynamik in der letzten Woche. Denn eine Woche vor der Abstimmung unterschieden sich die vorläufigen Teilnahmewerte nur um 1 Prozentpunkt; nach den Ausschlägen in der Woche vor der Abstimmung sind es jetzt 5 Prozentpunkte.

Das spricht für eine schwächer Schlussmobilisierung in Sachen Waffen-Initiative, als es bei der Ausschaffungs- und Steuergerechtigkeitsthematik vor zweieinhalb Monaten der Fall war.

Claude Longchamp

Kurzanalyse zum Stand der Meinungsbildung bei der Waffen-Initaitive

Am 13. Februar 2011 wird gesamtschweizerisch einzig über die Volksinitiative “Für den Schutz gegen Waffengewalt” abgestimmt. Hier wird der Stand der Meinungsbildung aufgrund der ersten von zwei SRG SSR Befragungen analysiert.

Tagesschau vom 14.01.2011

Die InitiantInnen werten ihren Vorstoss als Beleg, dass die politische Linke die veränderten Sicherheitsbedürfnisse der BürgerInnen aufnehmen. Ihre bürgerlichen Widersacher sehen darin nicht mehr als die Fortsetzung linker Politik zur Entwaffnung der Schweiz. Entsprechend klar ist der Abstimmungskampf gestartet, wobei sich starke Plakate zu Schussopfern im familiären Umfeld einerseits, Verrat an Schweizer Traditionen anderseits gegenüberstehen. Umstritten sind wie heute fast schon üblich, welches die Fakten sind. Das Bundesamt für Statistik nennt rückläufige Zahlung für Selbsttötungen mit der .Armeewaffe, während die Ärzte von einem Europarekord an Selbstmorden in der Schweiz sprechen.

Unsere erste von zwei Umfragen legt für die Anfangsphase des Abstimmungskampfes nahe, dass die Ja- gegenüber der Nein-Seite führt. Die momentanen Stimmabsichten lauten 52 zu 39 zugunsten der BefürworterInnen. Zudem zeigt die Erhebung, dass die Meinungsbildung trotz des frühen Zeitpunktes der Datenerhebung schon fortgeschritten ist. Sie ist allerdings noch nicht abgeschlossen. Dafür stehen 9 Prozent ohne Stimmabsichten und weitere 22 Prozent der teilnahmewilligen BürgerInnen, die sich erst tendenziell festgelegt haben. Zudem steigt mit dem Abstimmungskampf die Beteiligung erfahrungsgemäss um 5 bis 10 Prozentpunkte, sodass Effekte der Mobilisierung auf das Endergebnis nicht ausgeschlossen werden können.

Nimmt man die Erfahrungen mit Vorbefragungen bei Volksinitiativen zu Rate, kann man die denkbaren Szenarien auf ein übliches und ein unübliches reduzieren: auf den Meinungswandel vom Ja ins Nein und auf den konstanten Ja-Anteil. Im ersten Fall ist mit einer mehr oder weniger knappen Ablehnung zur rechnen, im zweiten Fall eine knappe Zustimmung möglich.

Vom Konfliktmuster, das sich in der Repräsentativ-Befragung abzeichnet, kann man mit einem recht klaren Links/Rechts-Gegensatz rechnen. Aktuell bilden die Grünen auf der Ja-, die SVP auf der Nein-Seite die Pole. Das zustimmende Lager wird durch die WählerInnen der SP, mehrheitlich auch durch jene ohne Parteibindung verstärkt, derweil relative Mehrheiten von FDP und CVP die anlehnende Seite ergänzen. Für den weiteren Verlauf der Meinungsbildung entscheidend wird sein, in welche Richtung sich die BürgerInnen ohne eindeutige Parteibindung entwickeln, beschränkt auch, wie geschlossen die bürgerlichen Parteien auf der Nein-Seite stehen werden.

Anders als bei Links/Rechts-Polarisierung wegen materiellen Interessen prallen diesmal eher wertemässige Weltbilder aufeinander. Entsprechend ist sind die sonst üblichen Differenzierungen zwischen der Romandie und dem Rest respektive den Städten und dem Land diesmal wenigstens in der Ausgangslage nicht erheblich. Dafür gibt es zwei andere Phänomene: Belegt ist ein grosser Gegensatz in den vorläufigen Stimmabsichten nach Geschlechtern. Noch unbekannter ist der Sachverhalt, dass die Behörden, welche die Vorlage bekämpfen, durch die BürgerInnen mit ausgesprochenem Regierungsmisstrauen verstärkt werden.

Sowohl die Ja- wie auch die Nein-Seite haben je eine populäre Botschaft und einige mehrheitsfähige oder zielgruppenspezifische Argumente, die sie (noch) vorbringen können. Je zwei Drittel der befragten StimmbürgerInnen finden, dass ein Gewehr im Kleiderschrank eine Gefahr für Familien und Gesellschaft sei respektive auch ein Ja zur Initiative missbräuchliche Verwendungen von Waffen nicht ausschliessen würde. Mehrheiten sind der Auffassung, das Bedrohungsbild der Schweiz habe sich längst soweit verändert, dass keine Gewehr mehr zu Hause Schutz bietet, während auf der anderen Seite ebenso verbreitet begründet werden kann, dass das Gefährlichste an jeder Waffe, die Munition, nicht mehr zu Hause aufbewahrt werde. Etwas umstrittener ist, wie unsere Umfrage zeigt, ob mit einem Ja zur Initiative traditionelle Schweizer Werte aufgegeben würden respektive ob man damit die Selbstmordrate in der Schweiz verringern könnte.

Wenn sich die Zustimmung wie im zweiten Szenario zurückentwickeln sollte, ist mit einem Schwenker der Parteiungebundenen und der bürgerlichen Frauen, namentlich bei der CVP, zu rechnen. Unsere Abklärungen hierzu zeigen, dass es kein optimales Argument gibt, die Summe der Einwände aber entscheidend sein könnte, um Zweifel an einer Zustimmungsneigung zu nähren. Für unausgeschöpft halten wir das meinungsbildende Potenzial der Botschaft, dass es nebst der Ordonanzwaffe zahlreiche andere Waffen gibt, von denen im Alltag eine Bedrohung ausgeht. Die Nein-Seite versucht ganz bewusst mit einem der beiden Plakate darauf anzuspielen, indem wie bei der letzten Volksabstimmung auf Ängste gegenüber ausländisch wirkenden Mitmenschen angespielt wird.

Wie einleitend festgehalten: In der Ausgangslage hat die Ja-Seite einen Vorsprung auf das Nein-Lager. Es ist aber nicht auszuschliessen, dass es zu einem Meinungsumschwung kommt, wie er bei linken Initiativen eigentlich immer beobachtet werden kann, bei dem nicht nur der Nein-Anteil mit dem Abstimmungskampf steigt, sondern auch der Ja-Prozentsatz sinkt. So gesehen ist der Ausgang der Volksabstimmung vom 13. Februar 2011 offen.

Claude Longchamp

Die Dynamik der Stimmbeteiligung im Kanton Genf

Manchenorts spekuliert man über die Entwicklung der Stimmbeteiligung vor einer Volksabstimmung. In Kanton Genf ist alles ziemlich transparent. Interessant, aber auch nicht unbedenklich.

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Die Grafik zeigt, wie sich die Stimmbeteiligung im Kanton Genf vor der aktuellen Volksabstimmung am 28. November 2010 Tag für Tag entwickelte.

Spätestens am Donnerstag abend erhalte ich jeweils Hinweise, wie sich die Stimmbeteiligung in Gemeinde und Städten entwickeln könnte. Viel anfangen kann man damit meist nicht. Denn die Informationen sind in der Regel nicht kontrollierbar, und kommen auch nicht immer aus den gleichen Orten. So hat man zwar ein Kaleidoskop von Eindrücken, aber nicht mehr.

Ganz andere Wege geht seit einiger Zeit der Kanton Genf. Wenn das Wahlmateriale verschickt ist, und die Bulletins zurückkehren, zählt man jeden Tag aus, und die Ergebnisse zur Beteiligung werden alle 24 Stunden auf Internet aufdatiert – ganz offiziell.

Bei der aktuellen Abstimmung haben gestern nachmittag 48 Prozent ihre Stimme abgegeben gehabt. Am letzten Abstimmungswochenende waren es zur vergleichbaren Zeit 39, und beim vorletzten 43. Die Schlussmobilisierung in den beiden letzten Tagen bracht am 7. März noch 7 Prozent an die Urne, am 26. September noch 3. Uebertragen auf das kommende Abstimmungswochenende ergäbe das eine Beteiligung von 51-55 Prozent.

Für Genfer Verhältnisse zeichnet sich damit an diesem Wochenende eine hohe Beteiligung ab, die auch über dem langjährigen Mittel in der Rhone-Republik liegt.

Zudem legt diese Statistik nahe, dass bei Weitem nicht alle, sofort Stimmen gegangen sind, nachdem sie die Stimmunterlagen erhalten haben. In der zweiten Woche gingen am wenigsten, in der ersten etwa ein Drittel, und in der letzten könnte die Wochenbeteiligung die höchste werden.

Ob das verallgemeinert werden kann, ist noch etwas offen. Der Genfer Schnitt liegt seit Jahren über dem schweizerischen. In den beiden letzten Jahren betrug die Differenz 3-4 Prozent. Das wäre das ein Hinweise darauf, dass die Stimmbeteiligung auch gesamtschweizerisch hoch sein dürfte.

So spannend ich diese Datenquelle auch finde: Unproblematisch erscheint sie mir gerade in der letzuten Woche der Mobilisierung nicht. Denn nur solange es keinen Zusammenhang gibt zwischen Mobilisierung und Ausgang der Entscheidungen, sind das neutrale Abstimmungsinformationen. Wenn das aber nicht der Fall ist, gibt es auch Hinweise auf bevor- und benachteilte Akteure bei den einzelnen Entscheidungen.

Claude Longchamp

Ueber Abstimmungskampagnen

Nachstehend einige Auszüge aus dem grossen Interview, das ich dem “Sonntag” von heute zum Thema Politkampagnen der Gegenwart gewährt habe.

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Herr Longchamp, wie ist Ihre persönliche Fieberkurve eine Woche vor den Abstimmungen, schon kribbelig?
Ich mache das jetzt seit 1992 fürs Schweizer Fernsehen. Seit 1998 mit Hochrechungen und Umfragen kombiniert. Das nimmt man eher wie ein Arzt, der jeden Patienten und jeden Fall ernst nimmt, aber keinen persönlich an sich ranlässt.

Sie haben das Bild des Arztes gebracht, der ja auch Prognosen stellt…
…das machen wir eben nicht! Wir machen Trenduntersuchungen. Diese sind 18 Tage vor der Abstimmung abgeschlossen. Für den Fall, dass in den letzten 18 Tagen nichts mehr passieren würde, müsste die damalige Bestandesaufnahme mit dem Ergebnis übereinstimmen. Aber das ist so falsch. Dann könnten Sie und ihre Konkurrenz in den letzten beiden Wochen nichts mehr schreiben.

Aber in diesen 18 Tagen kann noch so viel passieren.
18 Tage vorher ist über die Mobilisierung noch fast nichts entschieden. Also: Wie verhalten sich die Komitees? Was sind die Emotionen im letzten Moment? Wie ist die Polarisierung? Was ist das Hauptthema?

Wie viele Stimmbürger haben sich in diesem Moment schon eine Meinung gebildet?
18 Tage vorher haben 10 bis 20 Prozent schon brieflich gestimmt. 80 Prozent aber noch nicht. Doch es war klar, wer teilnahm und wer nicht. Jetzt gibt es aber in der Schlussphase ganz neue Mobilisierungsphänomene. Denken Sie nur zurück an das Video von Charles Clerc bei der Personenfreizügigkeitsabstimmung. Das wurde in den letzten zehn Tagen 500 000 Mal verschickt! Das war eine der bisher genialsten Mobilisierungskampagnen.

Gibt es weitere Beispiele?
Der 6. Oktober 2007: Die Schlägerei in Bern mit dem Schwarzen Block, die die SVP aufgehalten hat. Der höchste Grad an Emotionalisierung: 5000 SVPler gehen zurück nach Hause und sind hässig wie weiss nicht was und erzählen das jedem weiter. Das ist ein extremes Mobilisierungsmoment.

Hat es sich damit?
Dazu kommt in jeder Umfrage ein Anteil an Unentschlossenen. Da wissen wir nicht, was sie machen. Wir weisen sie auch aus – mit dem Risiko, dass es am Schluss Abweichungen gibt. Wir sind aber der Meinung, dass dies die sauberere und fairere Lösung ist, als sie wegzulassen.

Die SVP kann am besten mobilisieren.
Stimmt. Sie hat die Bürger-zu-Bürger-Kommunikation befördert, das wirkt. Alle anderen versuchen es mit medialer Polarisierung. Das führt aber meistens dazu, dass sie beide Extreme mobilisieren. Auch wenn man das Agenda-Setting – beispielsweise einer Zeitung am Sonntag – besetzen. Dann haben sie zwar ihr Thema in den Medien, aber auch das Risiko, den Gegner so aufregt zu machen, dass er genau so stark mobilisiert wird.

SP-Chef Christian Levrat moniert, seine Seite habe 40-mal weniger Geld als die Gegner. Entscheidet das Geld über Ja oder Nein an der Urne?
Darüber wissen wir leider viel zu wenig, weil niemand wirklich bereit ist, die Transparenz zu gewährleisten. Ich erinnere an den 7. März 2010 und die BVG-Revision: Die gleiche Konstellation wie jetzt: Eine riesige Kampagne über Monate hinweg. Der Kuchen mit den Kerzen, der immer kleiner wird bis am Schluss nur noch Brosamen da sind. Die Botschaft: Es bleibt nichts mehr übrig, wenn man Nein sagt. Was war das Ergebnis? 67 Prozent Nein.

Das heisst: Geld entscheidet doch nicht alles?
Der Politologe Wolf Linder hat gesagt: «Es ist nicht bewiesen, dass man mit Geld Abstimmungen kaufen kann. Aber das Gegenteil auch nicht.» Es gibt jedoch ein wenig diskutiertes Thema in der Schweiz: Es ist das Geld, das in Form von Inseraten in Medien fliesst, und die Positionierung des Medium beeinfluss kann.

Bei der SVP-Ausschaffungsinitiative sind praktisch alle Medien dagegen. Mit welchem Effekt?

Wir wissen spätestens seit dem EWR: Wenn in den Medien ein eindeutiger Meinungsdruck in eine Richtung entsteht, der nicht mit der Grundstimmung in der Bevölkerung übereinstimmt, hat er eine kontraproduktive Wirkung. Es ist auch nicht die Aufgabe der Medien, Position zu beziehen.

Sondern?
Den Diskurs zu befördern und Pro und Contra klar herauszuschaffen. Eigentlich müsste doch der Bürger, die Bürgerin befähigt werden, entscheiden zu können.

Sie schieben die Verantwortung auf die Medien ab, dabei ist der Ton in der politischen Auseinandersetzung rauer geworden. Oder bezweifeln Sie das?
Die EWR-Abstimmung war der Wendepunkt in der politischen Kommunikation in der Schweiz. Vorher gab es klar den Konkordanzstil. Seither haben wir aber eine klare Veränderung. Positiv ist: Wir haben eine Streitkultur bekommen. Die ist neu und hat sich bei den Abstimmungen auch durchgesetzt. Bei nationalen Wahlen auch, bei kantonalen kaum.: Es wird klar gesagt, warum man dafür und warum man dagegen ist. Wir haben auch eine steigende Stimm- und Wahlbeteiligung. Es interessieren sich also wieder mehr Leute für Politik.

Und was gefällt Ihnen daran nicht?

Wir haben eine krude Vereinfachung von Allem. Manchmal ist es gut, schwarz-weiss zu reden. Aber es gibt viele Themen, die sind nicht einfach schwarz-weiss. Ein Beispiel: Seit dem Urnengang über das Krankenversicherungsgesetz am 4. Dezember 1994 gab es sechs Volksabstimmungen. Das KVG wird seit Jahren von den Medien gescholten. Aber in den sechs Abstimmungen gab es sechs Niederlagen. Sechs Niederlagen! Alle mit 70 oder mehr Prozent Ablehnung! Es gibt einfach Bereiche, bei denen das Schwarz-weiss-Denken nicht aufgeht. Das zweite Problem ist die extreme Personalisierung. Das hat ein unerhörtes Mass erreicht. Es führt auch zu einer Politikverdrossenheit, Zynismus und Abwehrreaktionen gegenüber der Politik.

Aber Sie sagen es selber: Mehr Menschen interessieren sich für Politik. Die Personalisierung ist der Preis dafür.

Es gibt aber auch das Gegenphänomen, dass immer weniger Menschen in ein Amt gewählt werden wollen, vor allem auf lokaler Ebene. Diese Leute sagen: Ich habe keine Zeit, bekomme nichts dafür und werde erst noch angepinkelt.

Was ist für Sie ein solch übler Vorfall?

Da muss man nicht weit zurückschauen. Wir hatten bis jetzt eine Faustregel, dass ein Bundesrat 100 Tage Zeit hat, um sich in sein Amt einzuarbeiten. Simonetta Sommaruga musste an ihrem fünften Arbeitstag in die «Arena» und wurde angegriffen … und das ist einfach unwürdig. Das ist nicht gut für die Politik.

“Basels industrielles Erbe macht die Stadt konservativ”

Man nehme: ein Vorurteil. Man widerlege es mit einem Mix an Zahlen. Und man schaffe ein neues Vorurteil. So funktioniert der Journalismus der Basler Zeitung, seit sie mit Markus Somm einen neuen, konservativen Chefredaktor hat.

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Ueber alle Abstimmungsergebnisse hinaus betrachtet ist Basel eindeutig liberal, nicht konservativ

“Im Herzen Europa, trinational und weltoffen”, beginnt der Bericht von Alan Cassidy über das Abstimmungsverhalten Basels, typische Worte des Stadtmarketings zitierend. Stimmt nicht, sagt der Autor. Basels industrielles Erbe habe die Stadt konservativ gemacht, kontert er.

Gestützt wird das Ganze durch Material aus einem Vortrag von Michael Hermann, führender Politgeograph der Schweiz, der jüngst an der Uni Basel referierte. Sein Thema war das Stimmverhalten der fünf Schweizer Grossstädte im internurbanen Vergleich. Untersucht wurden dabei 20 eidgenössische Abstimmungen seit 1970 zur aussenpolitischen Oeffnung und zur einer restriktiveren Migrationspolitik.

Was im Bericht der BaZ folgt, ist ein Verwirrspiel mit zwei Sorten von Vergleichen. Denn Hermanns Aussagen beziehen sich auf die Unterschiede der 5 grossen Städte zum nationalen Mittel. Die BaZ aber interpretiert das als Trend in der Stadt angesichts der Veränderungen durch die Industrialisierung und ihren Folgen.

Fakt ist: Die höchsten Ja-Werte in den genannten Themenbereichen gibt es in den deutschschweizer Grossstädte regelmässig in Bern. Bei der aussenpolitischen Oeffnung ist das seit dem EWR-Entscheid 1992 immer so gewesen. Und in der Migrationsfrage gilt dies seit den Einbügerungsabstimmungen von 1994. Der Schock der Städter, in der ersten Europa-Abstimmung vom 6. Dezember 1992 von den Miteidgenossen in der deutsch- und italienischsprachigen Schweiz zurückbunden worden zu sein, hat nicht nur in der Bundesstadt, sondern weitgehend im grossurbanen Bereich den Stadt/Land-Konflikt in Sachentscheidungen an der Urne ansteigen lassen. Das war noch in den 70er und teilweise in den 80er Jahren ganz anders. Denn die deutschschweizer Grossstädte votierten in den 70er und 80er Jahren konservativer als die gesamte Schweiz, wenn es beispielsweise um Ueberfremdungsfragen ging.

Doch das wäre der Baz keine Schlagzeile Wert gewesen. So spitzte sie zu. Sie macht aus “konservativer” im interurbanen Vergleich (imn Text) schlicht “konservativ” im absoluten Sinne (im Titel) und interpretiert das als Folge der sozialen Entwicklungen in der Stadt. Hinhalten muss dafür die “Verbürgerlichung der Industriearbeiterschaft”, die mit dem Wirtschaftsaufschwung zu Eigentum und Vermögen gekommen sei und seither am Bewahren des Erreichten Interesse. Das alles kann man in anderen Städten auch beobachten, doch passt nicht zur These des Artikel, der alles umkehrt: “Basels industrielles Erbe macht die Stadt konservativ”.

Nun ist das alles nicht ganz falsch, im genannten Zusammenhang aber nicht wirklich erklärend. Denn der Trend in allen urbanen Gebiete geht seit fast 20 Jahren in Richtung Oeffnung und Offenheit – nicht umgekehrt. In Basel ist dieser Trend bei Oeffnungsfragen ein wenig schwächer, aber gleich gerichtet. Dieses Delta der Verönderung ist es, das die Baz hochstiliert, und aus dem Kontext gerissen ins Gegenteil gewendet und in der Schlagzeile gesetzt zu werden.

Um es klar zu sagen: Konservativ ist die Schweiz auf dem Land, nicht aber in den Grossstädten. Doch das passt nicht zur Brille des neuen Chefredaktors, selber vom linksliberalen Schreiberling zum rechtskonservativen Propagandist mutiert. Und da er nun auch in Basel vordenkt, muss ganz Basel alles so lesen werden, wie er es gerne hätte. Auch wenn das Material dazu so gar nicht passen will.

Wie gesagt: Images sind immer vereinfachend, lassen sich fast immer widerlegen, was noch lange kein Grund ist, neue Images kreiieren zu müssen! Besser wäre es, auf Images zu verzichten, und über die Realität zu berichten. Zum Beispiel, dass Basel Oberschicht, der Daig, von Grund auf konservativ ist und solchen Interpretationen ihrer Stadt nachhängt, weil Freisinnige, Linke und Grüne längst andere Schwergewichte gesetzt haben.

Claude Longchamp

Steuergerechtigkeits-Initiative: Auf welcher Nutzen(oder Schadens)erwartung entscheiden wir?

Die Volksabstimmung vom 28. November 2010 über die Steuergerechtigkeit ist auch aus politikwissenschaftlicher Sicht interessant. Denn sie wirft die Frage auf, aufgrund welcher Präferenzen abgestimmt wird.

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Kanton, mit direkter Betroffenheit resp. mit betroffenen Gemeinden durch die SP-Steuergerechtigkeitsinitiative

In der Theorie des rationalen Wählens alles einfach: Beim Wählen und Abstimmung optimieren die BürgerInnen ihren Nutzen. Entsprechend stimmen sie ab. Sie haben eine eindeutige Präferenz und aufgrund informieren sie sich und fällen sie anhand der verfügbaren Informationen ihre Entscheidungen.

Von der Steuergerechtigkeitsinitiative der SP direkt betroffen sind 1-2 Prozent der EinwohnerInnen resp. SchweizerInnen. Käme es zu einer direkten, interessenbezogenen Entscheidung wäre das Ergebnis eindeutig. Die Initiative müsste klar angenommen werden.

Die Ja-Seite argumentiert entsprechend: Betroffen seien wenige Reiche. Das schwäche den sozialen Zusammenhalt in der Schweiz; verhindert werden könne das nur, wenn man die kantonalen und kommunalen Gesetze hinsichtlich der Besteuerung höchster Einkommen und Vermögen einander angleicht.

Die Nein-Seite widerspricht dem, aber nicht direkt. Sie sucht eine andere Entscheidung. Sie will die Problematik auf die generelle Frage des Steuerföderalismus durch Kantone und Gemeinden und auf die indirekten Folgen letztlich für alle SteuerzahlerInnen ausdehnen, wenn die Begüterten abwandern.

Die heute veröffentlichte Repräsentativ-Befragung zu den vorläufigen Stimmabsichten der BürgerInnen in Sachen Steuerinitiative der SP lässt eine erste Beurteilung der vorrangigen Nutzenerwartungen zu: Wäre am 13. Oktober 2010 entscheiden worden, wäre die Initiative aller Voraussicht nach angenommen worden.

Das Spannendste dabei ist, dass die Polarisierung zwischen den Einkommensschichten effektiv gering ausfällt. Die Privilegierung hoher Einkommen führt in breiten Schichten zu Unmut, und die Vereinheitlichung der Steuertarife im Ganzen Land findet Zuspruch. Doch zeigen sich auch Grenzen: Der Steuerföderalismus ist nicht an sich vorbei, und Aengste bezüglich neuer Steuerbelastungen können vor allem im Zusammenhang mit dem Mittelstand thematisiert werden.

Der Konflikt ist zunächst parteipolitisch: Links vs. rechts. Er ist aber auch regional: West vs. Ost. Wie er ausgeht, ist noch offen. Denn zu Beginn einer Kampagnen beurteilen die BürgerInnen das Problem. Das hilft in der Regel der Initiative. Am Ende bewerten sie meist die Lösung des Problems. Das führt bei Volksinitiativen meist zu einem Meinungsumschwung vom Ja ins Nein.

Mit Blick auf die Theorie des rationalen Wählens (und Abstimmens) kann man deshalb folgende Beobachtungen festhalten: Die BürgerInnen haben nicht eine eindeutige Präferenz. Sie haben in der Regel Präferenzordnungen. Auf welche Ebene dieser Hierarchie sie sich entscheiden, ist nicht im Voraus klar. Es hängt davon ab, was ihnen in einer bestimmten Situation am wichtigsten ist, und was in dieser Situation auch am meisten öffentlich verhandelt wird.

Entscheidungen können sehr wohl rational im Sinne der Nutzenoptimierung oder Schadensminimierung interpretiert werden. Die Krux aber ist, was der Nutzen oder Schaden ist. Das sieht anders aus, wenn man sich anhand direkter und indirekte Folgen entscheidet, es sieht auch anders aus, ob man sich als Wirtschaftssubjekt oder als StaatsbürgerIn definiert.

Wie man in diesen Hinsichten hin und her schwankt, kann man ab heute bis zum Abstimmungstag exemplarisch verfolgen.

Claude Longchamp