Dank Lernprozessen lebensfähig bleiben.

Die Kritik an und in der Schweiz ist beträchtlich. Die Steuerpolitik ist umstritten, Institutionen wie Miliz- und Konkordanzsystem zeigen Erosionserscheinungen. Da weckte Wolf Linders Abschiedsvorlesung an der Uni Bern hohe Erwartungen. Denn sie war dem “Zustand der Republik” gewidmet. Und hielt nur streckenweise, was sie versprach.

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Dank soliden Institutionen blieb die Schweiz bis heute lebenfähig. Fraglich ist aber, ob sie auch in Zukunft eigene Wege gehen kann. (Bildquelle)

Seinen letzten Auftritt als Politologie-Professor in Bern begann Wolf Linder vor einer vollen Aula der Berner Alma mater mit einer Kritik am Zeitgeist-Surfen. Dieses überzeichne in der Regel, sei es wegen der Staatsgläubigkeit der Linken, die jeden Interventionismus gut finde, oder wegen der Staatsdistanz der Rechten, welche jede Privatisierung befürworte. Lange habe ersters überwogen, jetzt dominiere zweiteres.

Gesicherte Befunde!
Die politologische Analyse kommt nach Linder zu deutlich weniger aufgeregten, dafür gesicherten Befunden. Mit schöner Regelmässigkeit hat der Professor für Schweizer Politik diese auch in die Oeffentlichkeit getragen.

Die zentralen Institutionen der schweizerischen Innenpolitik sind nach Linder in der Bevölkerung unverändert gut verankert. Zu direkter Demokratie, Föderalismus, Milizssystem und Konkordanz zeichne sich in der Schweiz keine Alternative ab. Unterschätzt werde aber das Mass an politischer Institutionalisierung der Schweiz, welche im letzten Vierteljahrhundert stattgefunden habe. Das internationale Recht wachse schneller als das Binnenrecht, was einen Anpassungsdruck erzeuge, der Exekutivstaat nehme rasant zu und lasse die politische Entfremdung anwachsen.

Nutzniesser sei ausgerechnet die SVP, welche die Prozesse am wenigsten kontruktiv mitentwickle. Denn sie gewinne mit Abschottungsparolen Wahlen. Doch können sie diese politische Macht nicht umsetzen. In Parlament und Regierung würde unverändert die Kooperationen der Mitte den Ausschlag geben. FDP und CVP setzten mehrheitlich ihre Politik durch, ergänzt durch Mitte/Rechts und Mitte/Links-Allianzen.

Den Wechsel der Mehrheiten hält Politologe Wolf Linder für einen Segen in der Konkordanz. Denn fixe Mehrheitsbildungen, wie sie bis in die 80er Jahre durch die bürgerlichen Parteien gebildet worden seien, schränkten die Lernfähigkeit des politischen Systems ein. Doch gerade diese sei entscheidend, weil kontinuierliche personelle und materielle Erneuerungen der Politik zwingend seien, wenn man nicht auf Machtwechsel setze.

Gesicherte Folgerungen?

So treffend sachlich Linders Beobachtungen zum Zustand der Republik waren, seine Folgerungen für ihre Zukunft blieben vage. Denn die reichhaltige Empirie, die in den zwei Jahrzehnten, während denen Linder die Professur für Schweizer Politik inne hatte, entstand, fand in dieser Zeit keine Krönung in einer erhellenden Theorie der Konkordanz, die politikwissenschaftlich anerkannt Interessierten Möglichkeiten und Grenzen des Staatshandelns à la suisse aufzeigen würde.

So bleibt das Credo Linders, die Schweiz überlebe, wenn sie lernfähig bleibe, letztlich ohne tiefere Gewissheit die Folgerung aus seinem Wirken.

Claude Longchamp

Wo sich Qualifizierung in Politikwissenschaft lohnt.

Die Universitäten von Uppsala, Helsinki und Aarhus schneiden im neueste Excellence Ranking des Centrums für Hochschulentwicklung bezüglich für vertiefende Studien in Politikwissenschaft am besten ab. Bern, Lausanne und Zürich rangieren gemeinsam auf dem 20. Rang.

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Universität Uppsala, beherbergt das besten Angebote, um sich in Politikwissenschaft qualifizieren zu können.

Erstmals veröffentlicht wurde das Universitätsranking für qualifizierende Lehrgänge 2007. Damals beschränkte es sich auf die naturwissenschaftlichen Fächer. Mit der eben publizierten Ausgabe 2009 sind auch die sozialwissenschaftlichen Disziplinen intergriert worden. Vergeben wurden Sterne für relevante Buchpublikationen, Zitierungen von Artikeln aus Forschungsprojekten, Mobilität von Studierenden resp. Dozierenden, die Vernetzung in den Erasmus-Programmen und zitierte Fachbücher.

Politikwissenschaftliche Exzellenz in Europa

Die schwedische Universität Uppsala erhielt fünf der sechs Empfehlungen im Fach Politikwissenschaft. Auf vier Sterne bringen es die Hochschulen von Helskini in Finnland und Aarhus in Dänemark. Damit sind alle drei Top-Universitäten für Qualifizierungslehrgänge in Politikwissenschaften im hohen Norden.

16 weitere Lehrgänge in Politikwissenschaft rangieren gemeinsam auf dem 4. Platz. 7 davon sind in Grossbritannien (LSE, Cardiff, Mnachester, Strathclyde, Warwick, York, Belfast), 3 in Deutschland (FU Berlin, Jena, Potsdam), 2 in Belgien (Louvain, Loewen), je ein Lehrgang befindet sich in Italien (EUI in Florenz), Polen (Warschau), Norwegen (Oslo) und Tschechien (Prag).

Drei schweizerische Universitäten empfohlen
Aus europäischer Sicht werden von den schweizerischen Studiengängen für einen politikwissenschaftlichen Master oder Doktor diejenigen in Bern, Lausanne und Zürich empfohlen. Sie alle befinden sich auf Platz 20 von 51 aufgenommenen Kursen. Aus schweizerischer Sicht überraschend ist Genf nicht dabei.

Das Profil der Ausgezeichneten ist ähnlich: Positiv beurteilt werden jeweils die Zitierungshäufigkeit von Artikeln aus Forschungsprojekte und die Mobilität der Studierenden in Bern und Zürich resp. der Dozierenden in Lausanne. Keine Punkte sammeln die Politikwissenschaften in der Schweiz bei der Vernetzung mit Erasmus-Studiengängen und bei Buchpublikationen aus der Lehre, die andernorts zitiert werden oder Verwendung finden.

Fazit
Insgesamt liegt die Schweiz in Europa an 8. Stelle, wenn es um qualifizierende universitäre Lehrgänge geht. Beschränkt man sich auf die Politikwissenschaft, schneidet die Schweiz noch etwas besser an. Sie rangiert hinter Grossbritannien, Deutschland und Schweden auf dem guten vierten Platz.

Die hiesige politikwissenschaftliche Forschung kann sich demnach europäisch durchaus sehen lassen. Bei der Mobilität ist der Anschluss parziell geschafft, bei der Vernetzung mit Erasmus-Projekten indessen nicht. Schwachpunkt sind politkwissenschaftliche Bücher, die in der Schweiz geschrieben werden. Sie bräuchten klar mehr Support, um auf europäischem Top-Niveau mithalten zu können.

Claude Longchamp

US-Political Science: Bald ohne öffentliche Forschungsgelder?

Tom Coburn, republikanischer Senator aus Oklahoma, sorgt für Aufregung unter amerikanischen Politikwissenschafternen. Denn er will inskünftig sämtliche “öffentlichen Mittel für politologische Forschungsprojekte an wirkliche Wissenschaften umverteilen”.

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Thomas B. Coburn, Arzt, Prediger und Politiker, verlangt, die öffentlichen Forschungsbeiträge für Politikwissenschaften gänzlich zu streichen.

Noch vor Kurzem war die Welt der US-PolitologInnen in bester Ordnung, hatte doch mit Elinor Ostrom eine der ihren den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften gewonnen. Doch nun müssen die Grössen des Fachs amerikanischen Zeitungen Fragen beantworten, wofür ihr Fach gut sei.

Denn Senator Coburn hat mächtig provoziert, als er naturwissenschaftlichen Fächer wie Biologie, Chemie, Geologie und Physik mit der Begründung, als förderungswürdig empfahl, die Politikwissenschaft aber ausschloss. Denn sie sei schlicht nicht wissenschaftlich, nicht umsetzbar und nicht innovativ.

Speziell angegriffen wurde das grösste politikwissenschaftliche Projekt, das seit drei Jahrzehnten öffentlichen Mittel erhält. Ueber die bekannten “American National Election Studies” meinte er lakonisch: “The University of Michigan may have some interesting theories about recent elections, but Americans who have an interest in electoral politics can turn to CNN, FOX News, MSNBC, the print media.”

Arthur Lupia, Hauptgesuchsteller für die amerikanische Wahlforschung, widerspricht der Provokation frontal. Die Politikwissenschaft biete Methoden an, mit denen man die Wirkungen staatlicher Institutionen bestimmen könne. 700 Wissenschafter und Tausende von Forschern würde mit den Daten der National Election Studies arbeiten, um zu erfahren, wie Demokratie heute funktioniere. Nicht zuletzt beim Aufbau neuer Demokratien nach dem Fall des Kommunismus sei das ein entscheidender Beitrag gewesen.

Selbstkritischer geben sich prominente Politikwissenschafter wie Joseph Nye. Nach ihm bestehe die Gefahr, “that political science is moving in the direction of saying more and more about less and less.” Kritisch beurteilt er, dass sich die Forschung zu stark von den Möglichkeiten statistischer Techniken leiten lasse. “The motivation to be precise, has overtaken the impulse to be relevant.”

Im Hintergrund schwingt mit, dass seit dem Jahre 2000 in der amerikanischen Politikwissenschaft eine Debatte immer wieder aufflackert. Lanciert wurde sie von einem Kollegen, der anonym bleiben wollte und sich Mr. Perestroika nannte. Anhand angenommener und abgelehnter Beiträge im Flagschiff der Forschung, dem American Political Science Review, wies er nach, dass die Mathematisierung die Entwicklung der Forschung beeinflusse, nicht die Suche nach Antworten auf grosse Probleme.

Seither gibt es Spannungen unter den Politikwissenschaftern selber. Es stehen sich Anhänger harter und weicher Methoden, quantitativer und qualitativer Forschung gegenüber, und es herrscht Uneinigkeit, ob man nah oder fern der Politik Politikwissenschaft betreiben solle, – und erleichtern Angreifern wie Coburn ihr Spielchen.

Claude Longchamp

Politikwissenschafterin gewinnt Wirtschaftsnobelpreis

Mit Elinor Ostrom gewinnt nicht nur erstmals eine Frau den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Es erhält ihn, was selten genug ist, eine Vertreterin der Politikwissenschaft – und eine Forscherin, die sich für die nachhaltige Nutzung der Umwelt interessiert.

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Elinor Ostrom, Professorin für Politikwissenschaft und Trägerin des Nobelpreises für Wirtschaftswissenschaften 2009

Elinor Ostrom habe die übliche Auffassung verändert, wonach Allgemeingüter schlecht verwaltet würden und deshalb entweder durch den Staat verwaltet oder privatisiert werden müssten, schreibt die Akademie der Schwedischen Wissenschaften in ihrer Mitteilung zur Preisverleihung. Gestützt auf zahlreiche Studien zu Alpweiden, Wäldern, Seen und Quellen sei sie zum überzeugenden Schluss gekommen, dass die Leistungen von Korporationen besser seien, als es in den gängigen Theorien vorhergesagt werde, weil sie entwickelte Mechanismen für Entscheidfindungen entwickeln würden, um Interessenkonflikte unter Wahrung der Ressourcen zu regeln. Zu den Beispielen, die Ostrom zur Untermauerung ihrer Theorie beizog, gehört auch die Walliser Gemeinde Törbel (bei Visp).

Die Geehrte ist 76jährig. Ihr Studium der Politikwissenschaft schloss sie 1954 ab; 11 Jahre später doktorierte sie. Seither wirkt sie als Professorin für Politikwissenschaft an der Indiana University in Bloomington. 1973 begründet Elinor Ostrom gemeinsam mit ihrem Mann Vincent Ostrom einen eigenen Workshop für Politische Theorie und Politikanalyse, der sich zum globalen Netzwerk für Studien zur Nutzung von Allgemeingütern entwickelte. Nach 1980 war sie die erste Frau, die in den USA einem Department für Politikwissenschaft vorstand. 1996/7 präsidierte sie auch die weltweit führende Fachvereinigung, die American Political Science Association.

Vielleicht ist es zeittypisch, dass 2009 nicht nur eine Frau den Nobelpreis gewinnt, sondern auch eine Politikwissenschafterin, welche die nachhaltige Nutzung der Oekologie mehr interessierte als die Möglichkeit des Staates oder des Marktes. Das ist mit Sicherheit sinnvoll!

Claude Longchamp

Ausgewählte Schriften:
Ostrom, Elinor (1990). Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action. New York: Cambridge University Press.
Ostrom, Elinor (1992). Crafting Institutions for Self-Governing Irrigation Systems. San Francisco: Institute for Contemporary Studies.
Ostrom, E., Schroeder, L. & Wynne, S. (1993). Institutional Incentives and Sustainable Development: Infrastructure Policies in Perspective.
Boulder, CO: Westview Press.
Ostrom, E., Walker, J. & Gardner, R. (1994). Rules, Games, and Common-Pool Resources. Ann Arbor: University of Michigan Press.

Angebliche Studentin schreibt Seminararbeit, horcht aber politische Gegner aus: Was tun?

Es ist eine unappetitliche Geschichte, welche die aktuelle Wochenzeitung unter dem Titel “Studentin in fremden Diensten” präsentiert. Den Universitäten kann es nicht egal sein, wenn studentischen Qualifikationsarbeiten für andere als vorgesehene Zwecke missbraucht werden.

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Laut WOZ hat eine Freelancerin der Zürcher PR-Firma Farner AG, seit Jahren gegen armeekritische Volksinitiativen aktiv, an einem Strategieseminar der pazifistischen “Gruppe für eine Schweiz ohne Armee” teilgenommen, bei dem es um die Kampagnenplanung zur anstehenden Volksabstimmung über die Kriegsaterialausfuhr ging.

Seitens der PR-Firma beteuert man, mit der privaten Aktion nichts zu tun zu haben. Die Agentur werte nur aus, was allgemein greifbar ist. Das Initiativkomitee seinerseits wehrt sich gegen den Vorwurf, mit der Ausschreibung der Veranstaltung auf Internet zur Bespitzelung geradezu eingeladen zu haben; Es sei auf die Mitarbeit von vielen Gleichgesinnten angewiesen.

Aus Sicht der Politikwissenschaft als Fach darf die Diskussion nicht dabei stehen bleiben. Vielmehr muss interessieren, dass das unübliche Vorgehen seitens der Freelancerin mit der tatsachenwidrigen Aussage begründet wurde, sie studiere in Bern Politologie und bereite eine Seminararbeit über Abstimmungskämpfe vor.

Es ist fast schon symptomatisch, wie wissenschaftliche Ausbildungsvorschriften zu politischen Zwecken missbraucht werden können. Denn universitären Qualifikationsarbeiten geht der Ruf voraus, ohne Hintergedanken gemacht zu werden. Das verschafft notwendige Freiräume, die es auch für die Zukunft zu schützen gilt.

Angesichts der Vielzahl Seminar- und ähnlicher Arbeiten, die in den Sozialwissenschaften auch zu aktualitätsbezogenen Fragen verfasst werden müssen, entsteht ein kollektives Forschungssystem, das individuell leicht missbraucht werden kann. Letztlich können sich wissenschaftliche Institute nur so schützen, indem sie als Institutionen die bewilligten Arbeiten und deren VerfasserInnen auf Internet publizieren. Damit kann jeder und jede, der oder die Verdacht schöpft, einen einfachen Kontrollckeck machen. Und die Tarnung der Politik als Wissenschaft entfällt.

Claude Longchamp

Berner Lehrstuhl für Schweizer Politik: von Wolf Linder zu Adrian Vatter

So viele PolitologInnen sieht man in Bern nicht immer vereint. Denn alles was in Lehre, Forschung und Praxis des Faches in der Hauptstadt und einiges darüber hinaus Rang und Namen hat, versammelte sich, um Wolf Linder zum 65. Geburtstag zu gratulieren und ihn als Professor zu verabschieden.

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Generationenwechseln auf dem Lehrstuhl für Schweizer Politik: Adrian Vatter, neue Professor in Bern, übergibt Wolf Linder die Festschrift für dessen 65. Geburtstag

“Demokratie als Leidenschaft” heisst die 500seitige Festschrift, die heute Linder zu Ehren präsentiert wurde. Co-Herausgeber Adrian Vatter würdigte seine akadmischen Lehrer mit der Metapher von Nobert Elias, der das Handeln von SozialwissenschafterInnen zwischen Engagement für und Distanz zum Gegenstand beschrieb. Auf Wolf Linder angewandt bedeutet dies, dass der frühere Kantons- und Bankrat aus dem Thurgau der praktischen Politik als Professor immer mehr aus dem Weg ging, auch wenn er sich als Zeitgenosse nicht scheute, mit bemerkenswerten Zeitungsinterviews ins aktuelle Geschehen einzugreifen, wenn er es für nötig hielt.

Wolf Linders Engagment für das Wachstum der Politologie in Bern blieb heute unbestritten. Aus einem einzigen, fakultätsübergreifenden Ordinariat für Schweizer Politik bei seinem Stellenantritt am 1. August 1987 sind zwischenzeitlich drei politikwissenschaftliche Lehrstühle geworden, und es sind zwei Assistenzprofessuren für die Nachwuchsförderung hinzu gekommen. Dennoch war in den Gesprächen wegen wiederkehrenden personellen Zwistigkeiten eine gewisse Distanz nicht zu überhören.

In der Festschrift spekuliert Dieter Freiburghaus, dass diese Widersprüchlichkeit schon im Namen des Jubilars angelegt sein könnte. Denn der Wolf ist der Harte, der unerbitterlich zubeissen kann, selbst wenn lind sanft heisst und linder eigentlich die Steigerungsform ist. Adrian Vatter, der dies in seiner gefitzten Laudatio für den Geehrten zitierte, ernete an dieser Stelle viel Lachen.

Der 1. August 2009 bietet so auch Gelegenheit für einen Neuanfang. Denn an diesem Tag übernimmt Adrian Vatter nach Professuren in Konstanz und Zürich als Berufener den Berner Lehrstuhl für Schweizer Politik, womit sich der Politikwissenschaft in der Schweizer Hauptstadt erneut eine grosse Chance eröffnet!

Claude Longchamp

FreundIn des Zentrums für Demokratie in Aarau werden

Am Samstag ist es soweit: Das neue Zentrum für Demokratie in Aarau, kurz ZDA, wird offiziell eröffnet. Heute war schon mal die Gründungsversammlung der FreundInnen des ZDA. Ein Kurzbericht aus der neuesten Innovation in der Schweizer Forschungslandschaft.

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Impression von der Gründungsfeier “Freunde des ZDA”, in der Mitte die beiden Initianten im Aarauer Einwohnerrat Stephan Müller, links, Mark Eberhart, rechts.

Die Stadt Aarau, der Kanton Aargau, die Fachhochschule Nordwestschweiz und die Universität Zürich tragen das ZDA gemeinsam, das rechtswissenschaftliche, politikwissenschaftliche und pädagogische Kompetenzen zur Erforschung von Demokratie vereinigt. Andreas Auer, Staatsrechtsprofessor an der Universität Zürich und erster Direktor in Aarau, umriss in einer brilliant vorgetragenen Rede die Absichten, die mit dem ZDA verbunden sind:

Zentrum stehe für Forschungszentrum. Man sei der Wissenschaft verpflichtet. Geleistet werde Grundlagenforschung, die in Politik und Gesellschaft transferiert werden solle. Man fühle sich nicht verpflichtet, missionarisch für Demokratie zu werben, ajedoch ihre Funktionsweise zu analysieren und an ihrer Verbesserung zu arbeiten.

Demokratie, sagte der Jurist, sei zunächst eine Staats- und Regierungsweise, die auf Wahlen, je nachdem auch auf Abstimmungen basiere. Diese wiederum brauchten Institutionen, die verfassungsmässig garantiert sein müssten. Funktionieren kaönne das Ganze nur in einer lebendigen Zivilgesellschaft, die sich aufgrund ihres kulturellen Selbstverständnisses ihrer Möglichkeiten und Grenzen bewusst sei.

Das Alles führte Andreas Auer im Aargauer Grossratsgebäude aus. Und das war symbolisch gemeint, ist doch der klassizistische Bau aus dem Jahre 1823 das erster Parlamentsgebäude in der Schweiz, das nach dem Vorbild der Französischen Revolution mit einem Halbrund und aufsteigenden Sitzreihen angelegt worden war. Besetzt war es heute jedoch nicht durch Revolutionäre, sondern durch 120 Menschen mit verschiedensten Hintergründen, aus denen mit dem Gründungsakt FreundInnen des ZDA wurden.

Die FreundInnen wollen sich für das Gelingen der neugegründeten Demokratiezelle einsetzen, und sie sind überzeugt: Es können auch noch mehr Mitglieder sein, die dem Projekt zum Durchbruch verhelfen wollen.

Unter den Gründungsmitgliedern waren schon auch die beiden Aarauer Einwohnerräte Stephan Müller und Mark Eberhart, welche die Idee im Aarauer Stadtparlament lanciert hatten. Politisch links resp. rechts stehend, stimmen sie in Sachfragen selten überein; wenn es indessen um die Förderung von Demorkatie geht, ziehen beide am gleichen Strick. Ihre politische Seilschaft konnten sie inr Folge durch den Aarauer Stadtrat, insbesondere den Aarauer Stadtammann Marcel Guignard, und den Aargauer Regierungsrat erweitern, sodass man heute in der Kantonshauptstadt über ein respektables Uni-Institut verfügt, dessen Finanzierung für 10 Jahre gesichert ist.

Gearbeitet wird übrigens in der Villa Blumenstein am Rande der Stadt, wo einst Johnann Heinrich Zschokke, der Einwanderer aus Deutschland und Begründer des liberalen Aargaus, wohnte. 38 ForscherInnen und Angestellte des ZDA werden uns aus diesen Gebäulichkeiten heraus hoffentlich schon bald mit neuen, interessanten und verwendbaren Erkenntnissen zur besten aller schlechten Staatsformen überraschen.

Claude Longchamp

Anonyme Beamte, Journalisten und Politologen proben den Regierungssturz

Man kennt sie, die anonymen AlkoholikerInnen. Sie schliessen sich zusammen, um ihre Lebenskrise gemeinsam zu bewältigen. Nun scheinen sie unliebsame Verstärkung zu bekommen: durch anonyme BeamtInnen, JournalistInnen und PolitologInnen, die sich zusammenzuschliessen, um die Regierungskrise weiter anzuheizen.

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Der umgekehrten Reihe nach: In der heutigen BernerZeitung lese ich, “anonyme Politologen” seien “ansatzweise” der Meinung, Bundesrätin Calmy-Rey habe Verrat begangen. Das weiss die BZ jedoch nur, weil sie dem “Blick” abschreibt, der zwei Politexperten befragte hatte. Der eine gab Gas, der andere trat auf die Bremse. Journalistisch gefiel vor allem der Beschleuniger, denn er wurde führte den anonymen Journalisten in der “Blick”-Redaktion, von Landesverrat zu sprechen und die Frage nach dem Rücktritt der Aussenministerin aufzuwerfen.

Doch der war gar nicht der Urheber der Geschichte. Er schrieb nämlich auch dem Kollegen vom Sonntagsblick ab, der am Wochenende aus einem Brief des EDA an die OECD zitierte, der von Aussenminiisterin Calmy-Rey unterschrieben, aber nie abgeschickt worden war. Das reichlich zusammengeschusterte Corpus deliciti darin: “«Die OECD … liefert den Experten der Regierungen … Dialog und …Erfahrungsaustausch … zu sehr spezifischen Bereichen. Der konkrete Beitrag der OECD zuhanden der G-20 ist das beste Beispiel dafür.»

Und die Moral von der Geschichte? – Ohne anonyme Beamte, die den nicht abgeschickten Brief auf der Schublade holten, ohne anonyme JournmalistInnen, die daraus Landsverrat und Rücktrittsgründe schusterten, und ohne anonyme PolitologInnen, die das Ganze zu rechtfertigen halfen, gäbe es die neuste Kampagne aus dem Hause Ringier und ihren Helfeshelfern nicht.

Und das wäre von Vorteil!

Denn die aktuellen Regierungskrise bedarf ihrer Bewältigung. Ohne dass anonyme Selbsthilfegruppen das aktuelle Feuer gebrauchen, um ihr Süppchen dauf zu kochen, sprich in ihren anonymen Zirkeln schon mal den Regierungsputsch proben.

Claude Longchamp

Rückblick auf den Politologie-Kongress 2009

Der Kongress der Schweizer Politologie ist vorbei. Er war gut organisiert. Doch er hat keine Wellen geworfen. Und er hat mich nur ausnahmsweise inspiriet. Ein Lob auf die Ausnahme!

Das bekannte Ritual
Für Daniele Caramani, dem Gastgeber in St. Gallen, war es wichtig, dass der Kongress gut durchgeführt wurde. Das war er auch. Für das, was bei den Sessions herauskomme, könne er keine Garantie geben, sagte er mir. Zu recht.

Denn eigentliche Durchbrüche der politikwissenschaftlichen Forschung in der Schweiz konnten kaum registriert werden. Das Medienecho war denn auch entsprechend. Vielleicht wurden auch nicht relevante Bemühungen hierzu präsentiert. Denn Kongresse sind auch Rituale. Und je ambitionierter Beitragende sind, eine neue Stelle an einer Uni zu erhalten, um so ritueller verhalten sie sich in der Regel. Das kennt man.


Aussichten aus St. Gallen, wo der Jahreskongress der Schweizer PolitologInnen stattfand.

Die unbekümmerte Ausnahme
Die grosse Ausnahme davon war Deniz Danaci. Der junge Politikwissenschafter aus Zürich hielt in seiner ganzen Unbekümmertheit das für mich anregendste Referat der Tagung. Der Mitarbeiter am IPW der Uni Zürich stützte sich auf seine Recherche für den NF, die den Titel trug: “Der Islam in der Schweiz. Eine empirische Analyse kantonaler Volksabstimmung über die Rechte religiöser Minderheiten”.

Hilfreich erscheinen mir die nachstehenden Thesen, die mir, auch ohne Tabellen zu studieren und Zusammenfassungen zu lesen, aus dem Vortrag geblieben sind:

. Erstens, Grundrechtskataloge in Verfassungen sind dazu da, Gleichheit unter den Menschen zu garantieren. Direkte Demokratie ist dagegen ein Verfahren für politische Entscheidungen, das unter Stimmberechtigten Mehrheiten beschafft, was zu Problemen mit dem Gleichheitsgedanken führen kann.

. Zweitens, Entscheidungen zu Rechten religiöser Minderheiten fallen nicht aufgrund juristisch-sachlicher Ueberlegungen, sondern aufgrund kulturell bestimmter In- und Outgroups in Eliten und Bevölkerung.

. Drittens, Elitekonflikte ist ein nötiger, aber nicht hinreichender Indikator, um den Ausgangs entsprechender Volksabstimmungen voraussagen zu können. Der Elite-Konflikt reflektiert sich in der Regel in den Zustimmungsraten; doch können sie auch ohne grössere Konflikte tief sein, wenn es sich um Outgroups handelt.

. Viertens, in den 15 kantonalen Volksabstimmungen zu den Rechten religiöser Minderheiten der letzten 50 Jahre gingen die Entscheidungen zu jüdischen Minderheiten in der Regel positiv aus. Kritischer waren sie gegenüber gegenüber neue Rechten von Freikirchen, und nicht selten resultierten negative Mehrheiten gegenüber Rechten isalmischer Minderheiten.

Die praktische Relevanz der Ausführungen von Danaci ergab sich für mich aus der anstehenden Volksabstimmung über die Minarett-Initiative. Die Forschungslücken dazu stehen im umgekehrt proportionalen Verhältnis zur politischen Bedeutung der Entscheidung.

Meine Bilanz
Das Referat von Danaci, so unvollendet seine Analyse aus der Diplomarbeit auch ist, hat mich aber wie kein anderes angeregt, auf einer geläuterten Basis selber als Forscher aktiv zu werden. Mehr kann man von einem Kongress nicht erwarten!

Danke, Deniz, und danke der Vereinigung, einem Newcomer der Politikwissenschaft in der Schweiz eine Plattform geboten zu haben!

Claude Longchamp

Samuel Huntington, Autor von “Kampf der Kulturen”, verstorben

Symbolischer hätte der Tod von Samuel Huntingtion nicht sein können. Denn der Vordenker des weltlichen Weltherrschaft verstarb am Weihnachtsabend. Dem letzten notabene unter der Bush-Administration, die mit dem Irak-Krieg den empirischen Beleg für den von Huntington prognostizierten “Kampf der Kulturen” gebracht zu haben schien.

Nach 1993 wurde Samuel Huntington zu einem der umstrittensten Politikwissenschafter der Gegenwart, veröffentlichte er doch in “Foreign Affairs” einen Artikel zum “Kampf der Kulturen” – noch mit Fragezeichen versehen -, der die amerikanischen AkademikerInnen provozierte und, 1996 zum Buch ausgearbeitet – und nun ohne Fragezeichen publiziert -, die politische Oeffentlichkeit der USA stark beeinflusste.

Die generelle These Huntingtons postulierte das Ueberdauern der ideologischen Kontroversen aus dem Kalten Krieg in Form eines Kulturkonfliktes. Die zentrale Konfliktlinie sei zwar nicht mehr zwischen Westen und Osten, aber zwischen den 8 Weltkulturen (westliche, lateinamikanische, islamische, chinesische, hinduistische, orthodoxe, japanische und afrikanische).

Relativiert wurde damit die Bedeutung des Nationalstaates in der global ausgerichteten Welt, nicht aber seine Bedeutung als Garant kulturell-religiöser Differenzierung. Huntington warnte, der christlich geprägte, angelsächsische Westen werde seine Vorherrschaft verlieren, wenn er die zentrale Konfliktverlagerung nicht produktiv verarbeite.

Die Vorhersage neuartiger Konflikte schien sich am 11. September 2001 zu bewahrheiten, als die USA von Osama Bin Ladens Terroristen angegriffen wurde. Die Administration von Georges W. Bush nahm dies 2003 zum Anlass, Irak unter Saddam Hussein den Krieg zu erklären. Zwischenzeitlich ist Hussein gestürzt und das amerikanisch-britisch-australische Engagement im Irak neigt sich dem Ende zu. Man weiss heute auch, dass der Irak unter Vorspiegelung falscher Tatsachen eröffnet wurde, dass er über die Folterpraxis der USA die amerikanische Weltherrschaft diskreditiert hat und dass der Skandal den Ausgang der jüngsten Wahlen in den USA mitbeeinflusst hat.

Die Kritik an Huntingtons These in der akademischen wie auch publizistischen Oeffentlichkeit hatte schon früh eingesetzt. Vorgeworfen wurde Huntington, eine Rechtfertigungsstrategie für die aggressive Interessendurchsetzung der USA gegenüber der islamischen wie auch der chinesischen Welt verfasst zu haben. Zu den berühmtesten Kritikern Huntingtons zählt insbesondere der Nobelpreisträger Amartyra Sen, der die Reduktion von Weltpolitik auf religiös definierte Kulturen als vereinseitigende Identitätsfalle zurückwies.

Samuel Huntington, während seiner mehr als 50 Jahre dauernden akademischen Karriere fast ausschliesslich an der Harvard University tätig, hatte viele politische und publizistische Aemter inne und war mehrfach Regierungsberater. 2007 zog er sich 80jährig ganz aus dem öffentlichen Leben zurück. Die reale Krise der Globalisierung und den Niedergang der amerikanischen Wirtschaft unter der Bush-Administration verfolgte er nur noch als Privatmann. Als solcher verstarb er an Weihnachten 2008 bisher fast unbemerkt.

Claude Longchamp

Nachruf der Harvard University
Nachruf des Economist