Sackgasse Bilaterale?

Als Institutsleiter erhalte ich regelmässig die “Unternehmerzeitung” auf meinen Bürotisch. Diesmal erregte sie meine Aufmerksamkeit schnell: Nicht nur, weil mein Mitglied des Verwaltungsrates auf dem Titelblatt war, auch wegen des Themas, denn das Blatt versucht, die Sommer-Debatte über die Vor- und Nachteile der verschiedenen EU-Optionen der Schweiz gerade für Unternehmer fortzusetzen.

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Der Herausgeber der Unternehmerzeitung, Remo Kuhn, macht schon im Editorial deutlich, was er will: Fakt sei, dass die EU keinem Land bessere Zugangsbedingungen zum gemeinsamen Markt bieten könne als den eigenen Mitgliedern; klar sei auch, dass die schweizerischen Unternehmen gleich lange Spiesse wie ihre Konkurrenten haben müssen. Wer darüber diskutieren wolle, werde jedoch verspottet, was der Herausgeber nicht als selbstbewussten Standpunkt taxiert, sondern als Ausdruck von Zukunftsängsten.

Katja, Gentinetta, 42, promovierte Philosophin mit einem Buch zum Verhältnis des globalen Wandels und der helvetischen politischen Kultur, löste im Juli die neue Europa-Debatteaus. Sie griff den EWR-Beitritt, die EU-Mitgliedschaft und eine weltweite Verbindung der Schweiz im Freihandel als Alternativen zu den Bilateralen auf. Im grossen Interview mit der UZ wird sie bezüglich der EU konkreter:

. Erstens, mit den Bilateralen habe sich die Schweiz einen massgeschneiderten Zugang zum EU-Binnenmarkt verschafft.
. Zweitens, wenn wir unsere Anliegen auf diesem Weg nicht mehr durchsetzen könnten, befürworte sie einen EWR-Beitritt der Schweiz.
. Drittens, ein EU-Beitritt unter Beibehaltung des Schweizer Frankens sei dann zu prüfen, wenn sich die Mitsprache im EWR als ungenügend erweise.

In der Analye der stellvertretenden Direktorin des liberalen Think Tanks “Avenir Suisse” hat sich die Lage verändert: Die EU sei seit der Griechenland-Krise unter Druck, werde ihre Integrationsbemühungen forcieren, was den Zugang der Schweiz zum Binnenmarkt erschwere. Zudem hat die Schweiz das Bankgeheimnis nach Aussen aufgegeben; damit sei der Hauptgrund gefallen, im Dienstleistungsbereich nur sektorielle Abkommen abzuschliessen.

Bei einem generellen Dienstleistungsabkommen mit der EU ortet sie ein grosses Marktpotenzial. Der Versicherungsverband habe sich bereits für einen vollen Marktzugang ausgesprochen, und die Banken würden das schrittweise nachvollziehen. Im KMU-Bereich stelle man hingegen weniger Veränderungen fest.

Den EWR sieht Gentinetta nicht als Auslaufmodell. Die EU habe keine solche Absichten, Norwegen als stärkstes Mitglied denke auch nicht über einen Austritt nach, und Nachbar Liechtenstein habe seit 1992 Erfahrungen gesammelt, welche die Auswirkungen auf die Schweiz abschätzen liessen. Gewinner dürften mit den Preissenkungen die KonsumentInnen sein, wohl aber auch die ProduzentInnen. So würde das Cassis-de-Dijon-Prinzip, das die Schweiz einseitig zugunsten der EU eingeführt habe, bei einem EWR-Beitritt auch in die umgekehrte Richtung gelten. Wenn ein EU-Beitritt zur Debatte stehen sollte, empfiehlt Gentinetta, auf den Schweizer Franken nicht zu verzichten. Gemäss Lissaboner Vertrag sei das für neue Mitglieder zwar nicht möglich, doch lasse die EU bei einem Nettozahler wohl auch politische Lösungen zu.

Den grössten Vorteil des EWR-Beitritts im Vergleich zum EU-Beitritt ortet die politische Analystin im Steuerbereich. Beim EWR sei die Einführung der Mehrwertsteuer nach EU-Prinzipien nicht nötig, womit das Steuersystem der Schweiz nicht grundlegend geändert werden müsse. Was den Steuerstreit und das Bankgeheimnis betrifft, redet sie einer raschen Lösung das Wort – und zwar ganz unabhängig davon, welchen Weg die Schweiz in Sachen EU-Verhältnis anstrebe.

Als Hauptproblem in der Schweiz sieht Gentinetta die Angst vor Souveränitätsverlust. Souveränität sei nicht identisch mit nationaler Autonomie, denn heute zeige sich der Souverän nicht nur in der Selbstbestimmung, sondern auch in der Stärke, die man dort habe, wo die Regeln der Zusammenarbeit festgelegt würden. Das sei anders als im eingeübten Denken des Alleingang vorgestellt klar die internationale Ebene. Der autonome Nachvollzug, der nach dem Nein zum EWR dominierend geworden sei, bringe mit jedem Schritt einen Souveränitätsverlust.

Man weiss es: Die von Avenir Suisse angestossene Europa-Debatte löste kontroverse Reaktionen aus. Economiesuisse bevorzugt unverändert den bilateralen Weg. Der Bundesrat ist da gleicher Meinung wie der Dachverband der Schweizer Wirtschaft. Von einer “Sackgasse Bilaterale” mag die offizielle Schweiz nicht sprechen. Dass wird man auch bei den ZukunftsschweizerInnen nicht überhört haben. Das gleich sehen zu müssen, ist indessen nicht die Aufgabe einer Denkfabrik. Avenir Suisse hat sich einen Namen gemacht, über Herausforderungen beispielsweise im Föderalismus oder in der Raumplanung grundsätzlich nachzudenken. Und hat damit auch gepunktet: Genau das tut der Think Tank meines Erachtens zurecht auch in der Europa-Politik. Denn hier hat die EU Ende 2008 umissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass die bilateralen Abkommen mit der Schweiz zunehmend als aufwendig empfunden würden. Das wäre bei einer EWR-Mitgliedschaft der Schweiz nicht der Fall. Doch das hat mit der Schweizer Oeffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen, und sie scheut sich, damit auseinander zu setzen.

Claude Longchamp

Schweiz, Oesterreich, Deutschland: politische Kulturen im Forschungsvergleich

Es hat gedauert, bis der Band wirklich erschienen ist. Doch liegt mit dem Buch „Deutschland, Oesterreich und die Schweiz im neuen Europa“ nun ein umfangreicher Sammelband vor, der in der ländervergleichenden politischen Kulturforschung mittels Umfragen neue Massstäbe setzt.

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Oscar Gabriel, Politikprofessor in Stuttgart, hat die Einleitung zu „Citizen Politics“ als wissenschaftliches Konzept verfasst, in der es ihm um eine Neudefinition des Verhältnisses von „Bürger und Politik“ (in der Demokratie) geht. Politische Einstellungen, politische Kommunikation und politisches Verhalten sind seine Grundkonzepte. Damit definiert er den Gegenstand offener, als es die Begründer in den USA taten, aber auch im deutschsprachigen Raum nach Max Kaase üblich war. Auch geht der Kenner der Materie über die individualistischen und funktionalistischen Ansätze der bisherigen Politischen-Kultur-Forschung hinaus, wenn er zwei neue Forschungsperspektiven diskutiert: einerseits die Differenzierung in zentrale und periphere Elemente der Staatsbürgerkultur, anderseits eine stringentere Verknüpfung zwischen Mikro- und Makroebene einschliesslich der damit verbundenen Kausalitätsfragen.

Im Sammelband folgen drei Länderkapitel, je eines zu Deutschland, Oesterreich und der Schweiz. Sie sind im Ansatz gleich aufgebaut, um als Nachschlagewerk über Zeit und Raum die aktuellen Ergebnisse aus der Umfrageforschung. Verfasst wurden Oscar Gabriel und Kajta Neller (Stuttgart) aufgrund deutscher, von Fritz Plasser und Peter Ulram (Innsbruck/Wien) anhand österreichischer und von Bianca Rousselot und mir (beide Bern) mit schweizerischen Daten. Dabei schöpfen alle AutorInnen aus dem Fundus der nationalen Forschungsergebnisse, soweit ihnen diese aus der theoretischen und vergleichenden Perspektive sinnvoll erscheinen. Die Bezüge zu Demokratie, politischer und medialer Involvierung und der Unterstützung nationaler und europäischer System interessieren dabei in allen drei Kapiteln gleichermassen.

Das alles wir im Synthesekapitel der beiden Editoren Gabriel und Plasser in zwei Schritten vereinheitlicht und summarisch mit den Resultaten in Verbindung gebracht, welche ein analoges Unterfangen vor 20 Jahren für die drei (damals noch vier) Länder hervorgebracht hatte. Der wichtigste Befund hierzu ist, dass die nationalen Besonderheiten, die stark aus der Struktur des jeweiligen nationalen politischen Systems abgeleitet werden konnten, zwar nicht verschwunden sind, aber erheblich eingeebnet wurden. Rangierte die Schweiz hinsichtlich der “Citizen Politics” Ende der 80er Jahre überraschender Weise nur auf Rang 3 im Dreiländer-Vergleich, und lag (für mich ebenso erstaunlich) Oesterreich an der Spitze, hat sich, aufgrund der Neudefinition der Kriterien ein Platzwechsel zwischen der Schweiz und Deutschland ergeben.

Konkret sind Demokratieunterstützung und -zufriedenheit in allen drei Ländern vergleichsweise hoch (letzteres kennt in der Schweiz einen Spitzenwert). Das gilt etwas eingeschränkt auch für die politische Einbettung, gemessen am kognitiven Engagement und an der Parteiidentifikation (wobei die Abstriche in Oesterreich und Deutschland etwas grösser ausfallen). Indes erweist sich die mediale Involvierung in politischen Fragen im Vergleich generell tief (ganz besonders in der Schweiz), ohne dass sich das nachteilig auf die politische Partizipation im konventionellen wie auch unkonventionellen Sinne auswirkt, während die Wahlbeteiligung in der Schweiz der direkten Demokratie wegen auffällig tief ist, und es weitgehend auch geblieben ist. Keine Auswirkungen lassen sich jedoch beim Vertrauen nachweisen, das gerade in der Schweiz am höchsten ausfällt – und zwar nicht nur auf die nationale Ebene bezogen, sondern auch auf die europäische. Dabei ist zu erwähnen, dass die Euroskepsis namentlich in Oesterreich, aber auch in Deutschland angesichts unerwarteter Hoffnung mit der EU-Mitgliedschaft am wachsen ist. In den beiden untersuchten EU-Staaten drückt sich das auch in einer mittleren Unzufriedenheit mit der nationalen Regierung und dem Output des politischen Systems aus, was in der Schweiz (noch?) wenig beobachtet werden kann.

Ganz interessant ist der Schluss des Buches, der alle Befunde im grossen europäischen Massstab diskutiert. Er legt nahe, dass die politische Kultur Russland nur mit sich selber verglichen werden kann. Darüber hinaus macht er deutlich, dass ein osteuropäischer, ein nordeuropäischer und westeuropäischer Typ existiert. Deutschland und Oesterreich gehören zum letzteren, während die Schweiz aus der Sicht der empirischen Komparatistik am meisten Gemeinsamkeiten mit Luxemburg (und mit Finnland) kennt und zu keinem Typ passt.

Der grosse Vorteil des übersichtlich gemachten Buches ist, die vergleichende politische Kulturforschung recht systematisch erfasst und ein Stück weit auch vorangetrieben zu haben. Die Länderkapitel können sowohl für die länderspezifische Forschung nützlich werden, wie auch den internationalen Vergleich befruchten. Am innovativsten ist sicher auch die Synthese, die auf den insgesamt 14 Indikatoren beruht, die national und europäisch sinnvoll erscheinen, inskünftig zum Kern der politischen Kulturmessungen gezählt zu werden. Wohl noch am wenigsten eingelöst wurde der Anspruch zu klären, wie politischen Strukturen und politischen Kulturen mehr als über ihre jeweilige Geschichte in ihrer Entstehung zusammenhängen.

Claude Longchamp

Toni Judt, der lebendigste Geist unter den Zeithistorikern, ist nicht mehr

Toni Judt, einer der bedeutendsten Zeitgeschichtler der Gegenwart, ist seiner schweren Krankheit im Alter von 62 Jahren erlegen. Mit ihm verschwindet ein wacher Geist unserer Zeit, der diese kannte und erzählen konnte, wie kaum ein anderer.

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Toni Judt, 1948-2010, verfasser der umfassende Geschichte des “Postwar”

“Aber ist der Vergangenheitscharakter einer Geschichte nicht desto tiefer, vollkommener und märchenhafter, je dichter “vorher” sie spiel?” Mit dieser Frage aus Thomas Manns Zauberberg wandte sich Toni Judt kritisch an seine Historikerkollegen. Denn normalerweise sind die der Auffassung, man könne nur mit der gebührenden Distanz erkennen, was Geschichte sei. Davon grenzte sich der prominente britische Historiker gerade mit seiner “Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart” klar ab, aber auch mit seinen viel beachteten Interventionen in der Aktualität.

Judts Hauptwerk hat vier Teile, die gleichzeitig zum gebräucherlichen Vorschlag wurden, die Nachkriegsepoche zu periodisieren: die eigentliche Nachkriegszeit bis 1953, der Wohlstand und das Aufbegehren bis 1971, die grosse Rezession bis 1989 und die Zeit nach dem Zusammenbruch. Diese Einteilung hat den Vorteil, nicht an die Geschichte eines Staates, sei es Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Spanien oder Polen gebunden zu sein. Am ehesten noch lehnt sie sich an den Aufstieg und Fall der Sowjetunion mit dem Kalten Krieg und seiner Ueberwindung an. Doch auch das war nicht Judts wirkliche Absicht, als er sein wissenschaftliches Hauptwerk schuf. Vielmehr interessierten ihn die Grundzüge der Politik, der Wirtschaft, der Kultur, ja selbst des Alltags, als er begann, die ersten 60 Jahre des alten Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg zu erzählen.

Selbst wenn sich auf die grossen Linien der europäischen Zeitgeschichte beschränkte, resultierte ein Buch von 1000 gut lesbren Seiten. Das hat wohl damit zu tun, dass sich der Historiker gegen die postmodernen Theoretiker der Gegenwart klar abgrenzte und die Reduktion der Geschichte auf eine Dimension ablehnte. Dennoch prägen mindestens fünf Leitideen Judts Sicht auf die Zeitgeschichte des alten Kontinents:

. dem Niedergangs durch den Zweiten Weltkrieg, beschleunigt durch die Distanz zu Europa, auf die sich mit Grossbritannien und der Sowjetunion zwei der Siegermächte begaben,
. dem Verblassen der grossen Fortschrittstheorien des 19. Jahrhunderts wie dem Liberalismus im Westen und dem Kommunismus im Osten,
. der Entwicklung des “Modells Europa” durch die verbindliche Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen und der innergesellschaftlichen Verhältnisse,
. der Amerikanisierung der Kultur, die indessen beschränkt blieb und
. der Homogenisierung des Kontinents, sei es durch Grenzverschiebungen, Vertreibungen und Völkermord, deren weitere Verhinderung dann zum einigenden Band wurde, ohne sie wieder aufzuheben.

Solche Einsichten ergeben sich aus der Gabe Judts, sich sowohl für die Unmittelbarkeit der Jetzt-Zeit zu interessieren, als auch die Zusammenhänge in der historische Dimension treffend zu erkennen. Bei Judt kam hinzu, dass er ein wahrhafter Intellektueller war, aus dem jüdischen Milieu stammend und dennoch anders als so viele seiner Kollegen nicht einfach kritiklos gegenüber Israel. Als junger Wissenschaftler war er auch Marxist, doch löste er sich von dieser Ideologie, um eine uuniversalistische Demokratie als Verteidigerin der sozialen Gerechtigkeit gegenüber der neoliberalen Marktgesellschaft zu vertreten.

Nun ist Toni Judt, der Paneuropäer, der in New York forschte und lehrte, nach einer schweren Krankheit 62jährig gestorben. Die Zeit, die er vorbildlich analysierte, ist die Zeit, in der er selber lebte – und auch ich noch lebe. Genau das macht seine Hauptwerk für Zeitgenossen und nachfolgende Generationen interessant. Das alles ist und bleibt umso spannender, wenn er von dem vorgeführt wird, der, wie der Londoner Guardian nur einen Tag vor dem Tod des Meisters schrieb, “the liveliest mind in New York” war.

Claude Longchamp

Niall Fergusons optimistische Evolution des Geldes

Sicher braucht es Mut, mitten in der jüngsten Finanzkrise ein optimistisches Buch über die Geschichte des Geldes zu schreiben. Denn da kann man sowohl bei HistorikerInnen oder OekonomInnen, als auch im Publikum leicht durchfallen.

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Niall Ferguson wäre nicht Niall Ferguson, würde er sich der grossen Aufgabe nicht stellen. Denn der britische Historiker mit Jahrgang 1964, der meist in den USA an Elite-Universitäten forscht und lehrt, ist dafür bekannt geworden, Geschichte medien- und damit auch publikumsgerecht zu präsentieren – und zwar nicht nur als origineller Fachmann, sondern auch als genialer Kommunikator. Das sichert ihm, was auch immer er in Angriff nimmt, Zustimmung, wie die der Times, die ihn schon mal zum „brilliantesten Historiker seiner Generation“ erklärt hat.

Im Buch zum „Aufstieg des Geldes“ als eigentlicher Währung der Geschichte beginnt Ferguson zwar im Altertum, genauer gesagt bei den Geldverleihern in Mesopotamien, spannt er den Bogen aber auch bis in die Gegenwart, das heisst die Tage des Jahres 2007, als die ersten Anzeichen der Finanzmarktkrise in den USA sichtbar wurden.

Denn es geht dem Tausendsassa der Wirtschaftsgeschichte in dieser Uebersicht nicht wirklich um die Geschichte der Medici i Florenz, nicht um die Aktiengesellschaft der niederländischen Ostindienkompanie und auch nicht Staatsanleihen aus dem Rothschild-Imperium nach dem Ende der napoleonischen Kriege. Er will auch nicht einfach erzählen, wie vielerorts Versicherungen entstanden, die kollektive und private Vorsorge anbieten, oder politische Programme lanciert wurden, die Privathaushalte animieren, sich auf Immobilienbesitz zu spezialisieren.

Denn im Kern des Buches geht es Ferguson um eine Abstammungslehre des Geldes. Das tönt ein wenig darwinistisch – und es ist es bisweilen auch. Denn es hat mit Fergusons Auffassung von Geschichte zu tun.

Aehnlich wie Herbert Spencer sieht Ferguson die Entwicklung der Gesellschaft als Evolution vom Einfachen zum Höheren. Anders als beim britischen Soziologen ist bei ihm das was sich durchsetzt, nicht einfach gut, aber besser. Deshalb ist die jeweilige Gegenwart immer die beste als bisherigen.

Ferguson verfällt nicht in die Falle früherer Fortschrittsoptimisten, von einer linearen Entwicklung der Menschheit, der Gesellschaften und der Wirtschaften zu sprechen. Vielmehr braucht er mit Bezug auf das Geld die eingängige Formel, dass die Finanzgeschichte Zickzack-förmig verlaufe, die Geldentwicklung sich dabei aber wie ein Sägeblatt immer tiefer ins Holz fresse.

Die Verbesserungen des Geldes als Münze, als Papiergeld, als Guthaben entstehen dabei anders als in der Natur nicht durch äussere Schockwellen, welche die Umwelt veränderten und Anpassungen der Organismen verlangten. Vielmehr leiten sie sich aus den Schwächen der bisherigen Finanzorganisationen ab, die in Schüben schöpferischer Zerstörung durch leistungsfähigere ersetzt werden müssen. Was sich dabei in Konkurrenz behaupte, diversifiziere die Angebote und verbreite sich aufgrund einer eigenen Auslese nach Massgabe der Nützlichkeit.

Geld, schliesst der Historiker seine Einsichten in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sei immer nur ein Spiegel, der dem Menschen stets und überall zeige, was man wertschätze. Dass dabei Schönheit und Makel zum Ausdruck komme, liege nicht am Geld, eher am Menschen, der unfähig sei, vorauszusehen und sich vernünftig zu verhalten.

Die Lektüre des Buches ist zu allererst ein Genuss. Denn es schreibt ein Autor, der selber belesen ist, es erzälht ein Historiker, der das Vertrauen der Banker geniesst und deren Welt auch aus den privatesten Archiven kennt, und es spricht in Wort und Bild ein Kommunikator, dessen Bücher längst kein Selbstzweck mehr sind, sondern eher Nachschlagemöglichkeiten für TV-ZuschauerInnen oder KonsumentInnen von Video-Botschaften aus dem „Hause Ferguson“.

Doch dann überfällt einem nach 300 Seiten Gelesenem doch die Frage, ob man nicht nur faktenreich durch die Geldgeschichte geführt, sondern auch geschickt abgelenkt worden ist.

Gerade die Metapher der Evolution des Geldes in Analogie der Evolution der Natur verleitet nämlich zur Vorstellung, dass Alles nur natürliche Auslese sei, vor allem aber keine Interessen den Umgang mit Geld antreibe. Gerne hätte man deshalb auch gelesen, wie gerade auch ausserhalb der Geldinstitute ein Diskurs um das Wesen und die Wirkungen von Banken, Versicherungen, Obligationen, Aktien, Optionen, Derivaten entstand, der durchwegs kritischer ausfällt, als wenn man im Cockpit eines Bulldozers sitzt, der sich durch die Umgebung pflügt, im Einzelnen von schöpferischen Zerstörungen spricht, die für die allgemeine Entwicklung nötig sei.

Oder eben: das Buch ist geschliffen wie ein Brilliant, der leuchtet, ohne dass die Botschaft wirklich einzuleuchtet!

Niall Ferguson: Der Aufstieg des Geldes. Die Währung der Geschichte, 2009 (englisches Original 2008)

Bundesratwahlen und die Politikwissenschaft

Bundesratswahlen sind auch eine Leistungsschau für die Politikwissenschaft. Nötig wäre es, bald einmal ein politologisches Handbuch der Bundesratswahlen zu haben, dass den Wissensstand repräsentieren, die Forschung anregen, und die Politberetatung befruchten würde.

Bundesratswahlen kommen zwischenzeitlich häufiger vor als Parlamentswahlen. Und sie sind für die Politikwissenschaft eine gute Gelegenheit, die eigene Sache zu profilieren.

Iwan Rickenbacher in der deutschsprachigen Schweiz, Pascal Sciarini in der Romandie und Oscar Mazzoleni im italienischsprachigen Landesteil sind die Favoriten der Medien. Hinter ihnen sind Andreas Ladner, Michael Hermann, Regula Stämpfli, Georg Lutz, Hans Hirter und Silvano Möckli in Position.

Den Takt der öffentlichen Diskussion geben die Journalisten vor. Sie treiben die Parteien und KandidatInnen. Sie formulieren auch die Thesen, was ist, und lassen diese durch ExpertInnen deuten, manchmal bewerten – und lassen gelegentlich auch Spekulationen meist zu mehr oder minder aussichtsreichen Personen zu.

Eigentliche sollte es gerade umgekehrt sein: Es wäre die Aufgabe der Wissenschaft(en), die Thesen zu den Herausforderungen der Politik, Leistungen (und Misserfolge) des Regierungssystems zu formulieren resp. die Möglichkeiten und Grenzen der Wahlverfahren aufzuzeigen. Das gäbe dann die Basis, auf der einer wissenschaftlich angeleitete Berichterstattung über Wahlen, Kampagnen, Parteien und KandidatInnen erfolgen könnten.

Der Durchbruch zu einer inspirierteren und faktenreichereen Kommentierung von Bundesratswahlen durch PolitologInnen will indessen nicht. Das hat wohl auch selbstverursachte Gründe, denn die politologische Grundlagenforschung zu Bundesratswahlen hinkt der Realität hinten nach, statt sie zu befruchten!

Was der Wahlforschung bei Legislativwahlen in den letzten 20 Jahren teilweise gelang, und sie in eine gute Position vor, während und nach Nationalratswahlen brachte, blieb bei Exekutivewahlen bisher weitgehend aus,

Konkret: Wir sollten ein verbessertes Rating der politischen Parteien haben, das aufzeigen würde, wie die verschiedenen BewerberInnen organisatorisch, programmatisch und personell unterwegs sind, welche politischen Einflüsse zu erwarten sind, wenn sich Partei A oder B, KandidatIn X oder Y in einer Wahl durchsetzt.

Wir sollten auch vermehrt Wissen, welche Kriterien nebst der Parteizugehörigkeit bei einer Wahl effektiv Ausschlag gebend sind, und ob es Zusammenhänge gibt zwischen diesen und den Erfolgen während der nachfolgenden Regierungsarbeit. Ohne das spekulieren wir nur über die Bedeutung von Exekutiverfahrungen, Kenntnissen des Bundes(rats)mechaniken, erworbenen Kommunikationskompetenzen oder mitgebrachten Netzwerkverbindungen.

In den US beispielsweise hat sich die politologische und historische Präsidentschaftsforschung soweit spezialisiert, dass man Einflussfaktoren der Wahlchancen einzeln recht zuverlässig kennt und dass Heerscharen von ExpertInnen das Wirken der Präsidenten in Vergangenheit und Gegenwart nach explizit begründeten Kriterien beurteilen. Das hilft, objektivierte Bewertungen aufzugeben, gerade auch durch WissenschafterInnen und PolitbeoachterInnen.

In der Schweiz greift man bei solchen Gelegenheiten maximal auf das Standardwerk von Urs Altermatt zurück, dass Wahlen und Leistungen unserer Bundesräte in historischer Zeit zusammengestellt hat. Das Handbuch des politischen Systems der Schweiz bietet für die Gegenwart nichts vergleichbares an, sodass der eben emeritierte Freiburger Historiker angekündigt hat, in den nächsten zwei bis drei Jahren eine vollständig überarbeitete Neufassung herauszugeben.

Wann, frage ich, wagen sich die Politologien an eine Lexikon zu Schweizer Bundesratswahlen aus ihrer Perspektive, das den Forschungsstand abbilden und die mediatisierte Politbeobachtung anleiten würde?

Das ökosoziale Manifest

Roger de Weck kennt den Kapitalismus – und kritisiert ihn. Zum Beispiel in seinem jüngsten Buch “Nach der Krise”, das sich wie ein ökosoziales Manifest liest.

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Roger de Weck, designierter Generaldirektor der SRG

Der St. Galler Oekonom, Sohn des ehemaligen Präsidenten der SBG (heute Teil der UBS) schreibt als Journalist mit Vorliebe über die Rolle der Banken im Kapitalismus – meist auch kritisch. Denn mit der jüngsten Finanzkrise ortet er gerade unter den führenden Geldwirtschafter einen dreifachen Wandel: Nicht mehr weniger Regulierungen, weniger Staat und weniger Rücksichtnahme auf die Verlierer seien angesagt, seit die Banken selber ins Wanken geraten sind. Gefragt sei der Staat Tag und Nacht und Regulierungen sind keine Strangulierungen mehr, sondern Stützen im Konkurrenzkampf. Und wer die Banken nicht stützen wollen, wolle den Untergang der ganzen Wirtschaft.

„Kapitalismus als Religion“ ist eines sieben Kurzessays, die der Freiburger Kulturkatholik in Anlehnung an Walter Benjamin 2009 verfasst und zu einem 100seitigen Band zusammengefasst hat. Darin begründet er, wie die Reformation des Kapitalismus aussehen müsse. Angestrebt wird ein ausgewogener Kapitalismus, der sich vom real existierenden absetzt. Vielmehr skizziert de Weck, wie der Kapitalismus demokratisch, nachhaltig und stabil werden könnte. Auf dieser Basis fragt er sich, was nach der jüngsten Krise ein liberaler Kapitalismus sei, der im globalen Rahmen funktionieren könne.

In seinem Manifest geisselt der vormalige Chefredaktor des Zürcher „Tages-Anzeiger“ resp der Hamburger „Die Zeit“ die Gier der Manager, die sich aus dem Ungleichgewicht von Kapital und Arbeit entwickelt habe, das Marktdenken verabsolutiert und die Funktionen des Staates verniedlicht habe. Die Umkehr, die er fordert, begreift genau das als Macht der Oekonomie, der eine Gegenmacht gegenüber zu stellen sei, damit sich auch nicht-ökonomische Werte behaupten könnten.

Demokratie, schreibt der langjährige Kolumnist der Sonntagszeitung, müsse Vorrang vor der Oekonomie bewahren, und die Politik brauche Unabhängigkeit vor Wirtschaftsinteressen. Eine kompetente und leistungsfähige Verwaltung sei unabdingbar, und dürfe als stabilisierender Garant des Staates nicht einfach verhöhnt werden. Auch die Wirtschaft wird in die Pflicht genommen, wenn es um mehr Stabilität geht. Geldhäuser müssten viel mehr Eigenkapital hinterlegen, um für die Risiken, die sie eingehen, mitzuhaften, Spekulation sei zu verbieten, genauso wie Gehalts- und Bonusexzesse. Nicht die Bereicherung müsse belohnt werden, sondern die Investitionen in Volkswirtschaften und Unternehmen. Staat Eigennutz seien soziale und ökologische Ziele angesagt, die auf Eigentum basierten, das verpflichte.

„Liberal“, sagt der führende Intellektuelle in der Schweiz, sei eine Grundhaltung, die es vermeide, staatlicherseits in den Markt zu intervenieren, sich aber nicht scheue, ihn zu regulieren. Oder noch klarer: Wer Staatshilfe beanspruche, müsse mit der Enteignung leben. Denn das was wir heute hätten sei faktischer Staatskapitalismus, verkleidet in neoliberale Ideologie, wenn die Sonne scheine, und Staatsinterventionismus, wenn es regne. Das zu überwinden, werde auf nationalstaatlicher Ebene misslingen, weshalb es eine Weltwirtschafts- verbunden mit einer Weltwährungspolitik brauche, die davon ausgehe, dass alle lebensnotwenigen Ressourcen einen Preis bekämen.

Insbesondere in der Schweiz gilt Roger de Weck als „Linker“. Das rührt daher, dass er einen EU-Beitritt der Schweiz befürwortet. Weltanschaulich trifft das Etikett nicht zu, wie die Lektüre seines Buches „Nach der Krise“ zeigt. Denn der designierte Generaldirektor der SRG sucht nicht die Ueberwindung des Kapitalismus. Vielmehr strebt er einen reformierten Kapitalismus an, der von der Kurzfristigkeit der Bonuskultur und ihrer Implikationen befreit, langfristig ausgerichtet, ökologischen Zielen, sozialen Zwecken und der menschlichen Entwicklung dienlich ist.

Das bringt er in präzisen Worten zu Papier und zwischen zwei Buchdeckel, wie man es sich in der rasch wachsenden Literatur zur jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise wünschen würde. Beim besprochenen Buch hätte man sich gewünscht, dass nicht nur der Ueberbau skizziert worden wäre, sondern auch die Träger der Veränderungen benannt und die Kräfte, die sie stützen, analysiert worden wären.

Immerhin: 1848 verfassten mit den Deutschen Karl Marx und Friedrich Engels ein Philosoph und ein Unternehmer das Kommunistische Manifest. 2009 schrieb mit dem Schweiz Roger de Weck ein Intellektueller das Manifest der ökosozialen Marktwirtschaft.

Was die Wissenschaft in der Praxis aus dem Angriff auf die Klimaforschung lernen sollte

Die Liste der beklagten Fehlleistungen der Klimaforscher und ihrer Vermittler war lang. In Anspielung an den Watergate-Skandal erfand man schon mal den Begriff des “Climategate”. Jetzt liegen erste Untersuchungen über die Forschung und ihre Kommunikation vor, die eher Schwachstellen der heutigen Wissenschaftspraxis erkennen lassen als solche der Forschung.

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klimaforschung der university of east anglia: beklaut, angeklagt und rehabilitiert

Alles begann mit eine Diebstahl: Kurz vor der Klimakonferenz in Kopenhagen tauchten e-mails auf, die aus der Datenbank der University of East Anglia entwendet worden waren. Sie nährten in medialer Windeseile die Vorstellung, die Klimaforscher hätten überzeichnet, ja bewusste Manipulation betrieben. Dies verunsicherte die Verhandlungen der Klimakonferenz in Kopenhagen. Nur kurz darauf musste der UN-Klimarat zugeben, dass sich Fehlangaben zum Rückgang der Gletscher und zu den Folgen der Meeresspiegelerhöhung für die Niederlande in die Berichterstattung eingeschlichen hatten. Das untergrub die Glaubwürdigkeit wissenschaftlich hergestellter Befunde zu Themen, welche politische relevant, sinnlich nicht erfahrbar sind, selbst in namhaften Zeitungen.

Zwischenzeitlich liegen drei Gutachten zur Klimaforschung und ihrer öffentlichen Vermittlung vor. Beteiligt waren das britische Unterhaus, die Royal Society und die East Anglia University selber. Die Forschung selber nehmen sie weitgehend in Schutz. Die Kommunikation ist indessen ein Problem, vor allem dann, wenn sich nicht nur Forschungsergebnisse, sondern auch Berichte von Interessengruppen, die nicht weiter geprüft werden, in die Resultatekommunikation einfliessen. Medial in Fahrt gekommene Kritik entwickelt sich eigengesetzlich, und sie treibt weit herum eigentümliche Blüten.

Empfohlen wird den KlimaforscherInnen, sich offener gegenüber Anfragen zu verhalten und ihre eigenen Resultate offensiver zu kommunizieren. Der Weltklimarat seinerseits muss Qualitätskriterien entwickeln, die klar machen, welche Forschungsberichte berücksichtig werden dürfen und welche nicht. Und an die Adresse der Medien ist gerichtet, dass sie die Unsicherheiten der Forschung ebenso vermitteln müssten wie deren Sicherheiten.

Von aussen betrachtet wird man sagen können: Die Wissenschaft, die sich an die politische Oeffentlichkeit richtet, kann nicht damit rechnen, als reine Expertenstimme wahrgenommen zu werden. Sie muss deshalb neue Wege gehen, ihre eigenen Resultate verständlich und direkt an die Politik heranzutragen. Die Politik ist ihrerseits gehalten, Wissenschaft als eine höchst relevante Stimme zu verstehen, die möglichst unvermittelt in Entscheidungen einfluessen soll. Denn in den Vermittlungsprozess mischen sich zwischenzeitlich Medien, Lobbygruppen, MeinungsmacherInnen und Internetschwärme, welche jede Sache, die wichtig ist, nach ihren Interessen oszillieren lassen, um so auf die Entscheidungfindungen Einfluss zu nehmen.

Eigentlich sollte man angesichts der täglich vermittelten wissenschaftlichen Berichte viel mehr über solche Zusammenhänge wissen und lehren, um Fälle wie die Kritik an der Klimaforschung inskünftig verhindern zu können. Denn das Risiko von Reputationsschäden bleibt unabhängig von Rehabilitationen.

Buchbesprechungen im dialogischen Zeitalter

Er schrieb ein Buch. Ich besprach es. Nun kommentiert Bastien Girod alle Rezensionen zu seinem “Green Change”. Ein Hauch von Internet-Dialog entsteht so.

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Interaktion ist Kommunikation unter Anwesenden, sagte der Soziologe Niklas Luhmann. Dank Interaktionssystemen wie Internet gibt es auch dialogische Kommunikation unter Abwesenden. Neuerdings sogar im Bereich von Büchern und Buchbesprechungen.

Bastien Girod ist als Neuerer bekannt geworden. Kaum war er Nationalrat, mischte er mit seiner Offroader-Initiative vorne mit und fand er selbst bei Automobilfans interessierte Gesprächspartnern. Vor kurzem kam sein erstes Buch auf dem Markt, und schwupps kündigte der erfolgreiche Umweltwissenschafter an, nach Utrecht gehen zu wollen, um dort ungestört forschen zu können. Auf die Politik in der Schweiz will er aber nicht verzichten.

Für die Sessionen als grüner Nationalrat will der Teilzeitauswanderer bald schon regelmässig pendeln. Den Abstimmungskampf zur Initiative will aber aus der Ferne führen – genauso wie den Wahlkampf zu seiner Wiederwahl als Zürcher Volksvertreter in Bern. Dafür will er seinen Auftritt im Internet ausbauen. Dialogisch kommunizieren nennt man das wohl, denn die WählerInnen-Ansprache funktioniert via Internet gleich, ob man in der Schweiz oder in den Niederlanden ist. Denn das Internet ist ein Interaktionssystem, das dialgoeische Kommunikation unter Abwesenden erlaubt.

Konsequent dialogisch ist Girod schon mal, wenn es um seinen Erstling unter den grünen Fachbüchern geht. Die NZZ hat es rezensiert, der Tagi auch. P.M. und P.S. taten das gleiche, wie ich auch. Die meisten lobten das Buch, aus Gründen der Aktualität, aber auch konzeptionell. Insbesondere der Ausbruch aus dem unvollständigen Glück, das sich in entwickelten Gesellschaften ausbreitet und nach einer politischen Befreiungsaktion ruft, fand die Aufmerksamkeit der Rezensenten. Natürlich gab es auch Kritik, vor allem aus dem konkurrierenden SP-Lager. Bemängelt wurde der Unterschied zwischen kollektivem und individuellem Glück.

Nun, Girod wirkt auch hier als Neuerer. Denn auf seiner Webseite bespricht er gegenwärtig die Besprechungen. Und erteilt den Notengebern Noten. Das ist keck, und mediumsgerecht, denn kein anderes Mittel der Kommunikation wurde bei seiner Einführung so für seinen (potenziell) dialogischen Charakter gelobt, wie das Internet. Einen Hauch davon kann man aktuell anhand des “Green Change” erleben.

Bauchentscheidungen

Mehr Information sei immer gut, habe ich in meinem Studium noch gelernt. Das war noch zu Zeiten der kognitiven Revolution. Zwischenzeitlich haben wir schon längst den emotional turn erlebt, auch in der Forschung, und mit ihm wird die Intuition als Entscheidungsprinzip wieder mehr geschätzt.

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“Früher ging man davon aus, möglichst viele Informationen zu sammeln und auszuwerten. Aber das ist nicht immer richtig und sogar häufig irreführend. Wir waren die Ersten, die emprisch nachweisen konnten, dass intuitive Prinzipien bei gewissen Fragestellungen zu besseren Fragestellungen führen als komplexe statstische Softwarepakete.”

Gerd Gigerenzer, der dies sagt, ist Professor für Psychologie. Er gehört zu den meist zitiertesten seines Fachs im deutschsprachigen Raum. Seine Karriere führte ihn von München über Konstanz, Salzburg, Chicago nach Berlin.

Gigerenzers Thema sind Heuristiken. Damit meint man eine menschliche Fähigkeit, Probleme gut zu meistern, auch wenn man wenig Zeit und wenig Informationen hat.

Das Prinzipien sind einfach: Wenn Zukunft verhersagbar ist, sollte man alle verfügbaren Informationen nutzen. Denn es gilt, Fehlschlüsse zu vermeiden. Oekonomische Modelle einerseits, statistische Verfahren andererseits sind dann die leistungsfähigsten Instrument. Wenn die Zukunft indessen aufgrund ihrer Komplexität nicht vorhersagbar ist, schlägt der Professor vor, sich auf seine Intuition zu verlassen. Denn hilft einem zu erkennen, was Wesentlich ist, und danach sollte man handeln, während man den Rest auch ignorieren kann. Die meisten Probleme, so dozierte der Fachmann, liegen aber dazwischen, sodass es durchaus Sinn machem dass sich die Forschung damit beschäftige, wann welches Vorgehen geeigneter ist.

Richter, Aerzte und Manager gehören zu den Gruppen, die am häufigsten bei Gigerenzer Rat suchen. Typischerweise sind das alles Macher, meist eine solide Grundausbildung hinter sich haben, im Alltag aber viel häufiger entscheiden müssen, als sie es gelernt haben. Denn ihre Beruf verlagen sowohl “Wissen” wie “Können”, Analyse wie Anwendung.

“Bauchentscheidungen”, wie es der Psychologe nennt, gibt es aber auch in der Politik. Man verlässt sich auf seine Erfahrung, wenn man abstimmen muss. Immer über alles Bescheid wissen, ist nicht nur aufwendig, es ist gelegentlich auch nicht möglich. Oder führt zur informierten Entscheidungsunfähigkeit, der nicht ganz unbekannten Ueberforderung von Sachverständigen.

Regierungsvertrauen ist eine solche Möglichkeit der Komplexitätsreduktion in der Politik. Parteibindungen ist eine weitere. Genauso, wie darauf achten, was Politiker, die man kennt und schätzt empfehlen.

Machen wir uns nichts vor: Wenn uns etwas interessiert, informieren wir uns ausgiebig, meist auch langfristig. Dann sind wir befähigt, eine gründlich durchdachte Entscheidung zu fällen. Wenn uns dagegen etwas nur mässig anspricht, wollen wir rasch entscheiden können, und meiden wir den Umgang über die Informationsbeschaffung und -verarbeitung.

Gestern habe ich am IPMZ transfer, der Praxisabteilung des Zürcher Uniinstituts für Publizistik und Medienwissenschaft unterrichtet. Und ziemlich genau das für meine Teilnehmenden aus dem Bereich der Behördeninformation empfohlen. Gestern da kannte ich Gerd Gigerenzer noch nicht, denn erst heute habe ich in der Zeitung über ihn gelesen, – und war sofort mit ihm einverstanden!

Doch ist auch das wohl nur eine Bauchentscheidung. Und so erinnere ich mich an die griechische Philosophie zurück, die zwischen Wissen und Meinen unterschied. Letzteres ist das, was man nicht wissen kann. Bei allem, was man wissen kann, ist es die Aufgabe der gerade der Wisenschaften, das Meinen durch Wissen zu ersetzen.

Steckbrief WissenschafterInnen: Braucht es Intellektuelle, Fachleute, Gelehrte oder AkademikerInnen?

Auf scatterplot, einem blog aus der welt der amerikanischen universitäten, habe ich eine interessante Typologie gefunden, was WissenschafterInnen (nicht) sein sollten. Vier Rollen werden unterschieden, die mich angeregt haben, mich in meinem Umfeld umzusehen. Eine kleine Charakteristik an Wissenschaftertypen – mit einem grossen Augenzwinkern!

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Was nur sollen angehende WissenschafterInnen werden?

Intellektuelle
Intellektuelle verstehen es, redend oder schreibend zu intervenieren. Sie rufen dazwischen und beeinflussen so den Gang der Dinge. Ohne Medien würde sie gar nicht gehen. Denn diese bieten Intellektuellen erst den Raum, den sie brauchen, um sich zu entfalten. Intellektuelle erkennt man daran, dass sie sich für ein Projekt einsetzen, eine Idee verfolgen und ein klares Wertemuster haben, und das mit Verve. Deshalb wissen sie auch, wie die Zukunft aussieht – jedenfalls aussehen sollte. Hierfür setzten sie sich unablässig ein. Details interessieren Intellektuelle nicht, vielmehr wollen sie das Ganze verständlich machen oder mit ihrer Kritik das Falsche in der Entwicklung diskreditieren. Intellektuelle haben gelernt zu stören, ohne dass sie das selber wirklichen stören würde. Allerdings, gerade unter den WissenschafterInnen, werden Intellektuelle immer seltener.

ExpertInnen
Kein Experte, keine Expertin ohne Fakten. Wer es mit Fachleuten zu tun hat, begegnet keinen Gesinnungsmenschen. Dafür gelegentlich Datenhubern. Denn ExpertInnen sind von einem überzeugt: Daten sind die neutralste Form der Beschreibung von Realität. Diese hat es den ExpertInnen angetan, sie können es nicht lassen, sie immer wieder zu analysieren. Experten sind Informationsverarbeiter mit klar umgrenztem Sachgebiet. Die besten Fachleute arbeiten am klarsten nach den Regeln der Vernunft. Das verspricht Vorteile – für wen auch immer. Den Managern, den Politikerinnen und den ChefredaktorInnen stellen sie ihr Wissen zur Verfügung. Vertrauen in ihre Arbeit und anerkannte Kompetenz begründen ihre Glaubwürdigkeit – und die ist ihr Kapital, gerade wenn die Logik und die Statistik in der Vermittlung nicht mehr weiterreicht. ExpertIn zu sein, ist heute der verbreiteste Wunsch unter WissenschafterInnen.

Gelehrte
Welches Phänomen auch immer ein Gelehrter (oder eine Gelehrte) aufgreift, ihm oder ihr eröffnet sich damit unverzüglich das ganze Universum unserer Kultur. Gelehrt zu sein heisst, weise zu sein. Dafür braucht es Geduld, die sich meist erst im Alter einstellt. Denn frühestens dann ist man mit der ganzen Geistesgeschichte der Menschen vertraut, bei den antiken Philosophen wirklich zuhause, und hat man die Werke der Kirchenväter ausgiebig studiert. Gelehrte dürfen aber nicht nur in der europäischen Vergangenheit heimisch sein, sie müssen auch eine Hauch der östlichen, ja fernöstlichen Lehren in sich aufgenommen haben. Gelehrte sind immer auch ein bisschen ein Guru. Das Publikum ist ihnen nicht egal, am besten ist es aber nicht zu zahlreich, denn das erlaubt es, sich austauschen und vertiefen zu können. Denn wer Gelehrte wissen: Wer das Glück hat, ihne zu begegnen, will danach inspiriert sein.

AkademikerInnen
AkademikerInnen schliesslich haben vor allem einen Lebenslauf, der ihre bisherige Karriere dokumentiert. Für Akademiker ist es wichtig, viel geschrieben zu haben. Publizieren nennen sie das, ohne dass sie sich wirklich für Publizistik interessieren würden. Denn entscheidend sind nicht die LeserInnen, sondern ist die Bibliographie. Möglichst lang soll sie sein und aufzeigen, wie gut man vernetzt ist. Entsprechend zitiert man auch. Oder auch nicht. Denn AkadmikerInnen wissen eines: Andere AkademikerInnen entscheiden über den weiteren Verlauf ihres Erfolges. Deshalb eifern AkademikerInnen akademischen Vorbildern nach. Und beobachten genauestens, was andere AkadmikerInnen mit vergleichbarem Ruf machen, könnten sie doch dereinst KonkurrentInnen sein, wenn es um eine gute Stelle geht, um Gelder für Forschungen, um Ehrungen, die man so gerne dem eigenen Lebenslauf noch beifügen möchte.

Und nun?
Was nun braucht die Wissenschaft? Nichts davon, von allem etwas oder einen ganzen bestimmten Typen. Sachdienliche Hinweise sind erwünscht.