“Paradigma”, “turn” oder bloss Mode

Geht man an einen (sozial)wissenschaftlichen Kongress, wähnt man sich normalerweise nicht an einere Mode-Show. Weder die Kleidungen, noch die Frisuren und schon gar nicht die Haltungen der Akteure verleiten einen zu dieser Annahme. Schaut man sich indessen die Beiträge an, die an (sozial)wissenschaftlichen Kongressen präsentiert werden, wird man häufig den Verdacht nicht los, dass da vor allem Modisches vorgestellt wird. Nur versteckt es sich häufig hinter anderen, hochtrabenden Begriffen: turn ist heute besonders in, Paradigma war das mal!

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Immer mehr macht sich das Phänomen der rein modischen Weltdeutungen auch in den Sozialwissenschaften breit. Ich halte mal dagegen!

Paradigmen
Der Philosoph Thomas S. Kuhn hat mit alle dem 1970 angefangen und rasch Furore gemacht. Er untersuchte die Wissenschaftsgeschichte, und er unterstellt, dass sich das wissenschaftliche Wissen diskontinuierlich entwickle, – in Paradigmen eben. Zwar gelang es ihm nie, den Begriff selber verbindlich zu definieren, doch war das Paradigma nach Kuhns Vorstoss auf die philosophische Bühne weit herum bekannt und wurde es vielerorts begeistert aufgenommen.

Paradigma war eigentlich als Beispiel, als Vorbild oder als Muster gedacht. Es umschrieb das, was beobachtet und überprüft wird, die Art der Fragen, welche gestellt und geprüft resp. wie die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchung vorbildlich interpretiert werden sollten. In den Naturwissenschaften machte das noch einigermassen Sinn: die kopernikanische Wende, die Physik Newtons und Einsteins Denkrevolution markierten das, was Kuhn als Paradigmenwechsel vorgeschwebt hatte.

In den Sozialwissenschaften erwies sich der Begriff schlicht als Uebertreibung. Die Entstehung der Oekonomie, der Soziologie oder Psychologie sind allenfalls ein Paradigmenwechsel, – eine Abkehr von geistes- und sozial- und humanwissenschaftlichen Denk- und Forschungsweisen. Innerhalb dieser Wissensgebiete fand man jedoch kaum Paradigmenwechsel.

turns
Die aufstrebenden Revolutionswissenschaften der 70er Jahre reagierten entsprechend: In den Kulturwissenschaften entdeckte man als Erstes die Sprache als Gegenstand der Forschung, sprach im Gefolge von Richard Rorty vom linguistic turn und meinte damit die Entstehung von neuen Fachgebieten wie Linguistik und Semiotik. In den 90er Jahren wandte man sich dem voll von neuen Hoffnungen dem Bild zu, das im Begriff war, die elektronische Welt zu erobern, ohne dass sich schnell genug auch eine Bildwissenschaft etabliert hätte. Schliesslich kam es zum spatial turn, der Entdeckung des Raumes statt der Zeit als wichtigster kultureller Determinante überhaupt.

Für all das kann man noch einiges Verständnis aufbringen. Immerhin entwickelte sich (vor allem die deutschsprachige) Kulturwissenschaft in den letzten 40 Jahrenn sprunghaft, indem sie ihre Betrachtungsweise stufenweise veränderte, und, würde ich beifügen, sich damit auch erweiterte verbesserte.

Moden
Was sich indessen sonst noch alles auf Klippen, Wenden, Kehren und Sprünge in den(Sozial)Wissenschaften überall kapriziert, ist meist nicht mehr als eine Mode unter WissenschafterInnen. Anstatt neue Fakten zu präsentieren, übersehene Argumente zu liefern oder Kombiationen zu entwickeln, die zu wirklich neuen Theorie führen, erhält man nicht selten nur dünne Vermutungen vorgesetzt, bekommt man Botschaften durchgegeben und unbelegte Hypothesen aufgetischt. Damit man die Dürftigkeit der sog. Innovationen übersieht, überziehen die Vorreiter der neuen Moden ihre Produkte mit einem rhetorischen Zuckerguss, die der vermeintlichen Neuerung höhere Bedeutungen zumessen. Revolutionen mindestens im Denken, wohl auch im Wissen, vielleicht sogar im Können, und wenn’s ganz hoch kommt, selbst auch im Handeln begleiten die meist bloss begrifflichen Verschiebungen für einfache Beobachtungen, Aussagen, Zusammenhänge und Modelle, die längst bekannt sind, nun aber neu verpackt daher kommen.

Mode ist, so ihre eigentliche Definition, die Art Dinge zu tun, zu nutzen und zu schaffen, die für einen bestimmten, meist kurzen Zeitraum und für eine bestimmte, meist unwichtige Gruppe von Menschen typisch ist. Deren einzige Sicherheit darin besteht, durch die nächste Mode abgelöst zu werden.

Bei Kleidung, Frisur und Auftritt finde ich das, selbst an wissenschaftlichen Kongressen, gelegentlich noch amüsant; in der Wissenschaft selber jedoch fehl am Platz!

Claude Longchamp

Die Evolution des Wissens durch Theoriebildung und Informationsgewinnung

(zoon politicon) Die Falsifikation oder Verifikation einer Hypothese ist das A und O der Theorie emprischer Wissenschaften nach Karl R. Popper. Denn so kann man Fehler in den theoretischen Annahmen entdecken und vermeiden, und sich so der Wahrheit annähern.

Der evolutionäre Prozess von Information-Theorie-Information
Aus verifizierten Hypthesen entsteht aber keine Theorie von selbst. Der Prozess der Entwicklung empirische gesättigter Theorien in der Wissenschaft ist komplexer. Der Soziologe Volker Dreier hat für die Evolution in der Theoriebildung und Informationsgewinnung in den Sozialwissenschaften ein sinnvolles, aber noch wenig gebräuchliches Schema vorgeschlagen.

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Die Operationen: Induktion, Konstruktion, Deduktion, Reduktion
Das Modell unterscheidet zunächst zwischen Theorie und Information, dann zwischen Hypothese und Prognose. Der klassisch deduktive Weg der Wissenschaften, die Deduktion oder Ableitung von Prognosen aus der Theorie setzt Beweistheorie vor aus. Es sind begrifflich, logisch und datenmässig geprüfte Aussagen zu einem Gegenstand. Der Weg hierzu setzt Hypothesen voraus, die sich bewährt haben und nicht mehr modifiziert werden müssen. Dreier nennt ihn Konstruktion. Die Herstellung von Theorien geschieht, indem Aussagen, die aus der Hypothese entstehen, miteinander verknüpft in eine grösseres Ganzes überführt werden, und das meist abstrakt, aber verbal beschrieben werden.

Der Kreislauf ist damit noch nicht geschlossen. Prognosen, die stimmen, führen zu neuen, relevante Informationen. Dreier nennt das die Reduktion. Geleistet wird das durch Bestätigungstheorien. Informationen wiederum stehen nicht nur am Ende des Kreislaufes, sondern am Anfang: Mittels Heuristik werden solche Informationen in Arbeitshypothesen umgewandelt, die anschliessen der oben beschriebenen Prüfung unterzogen werden.

Die theoretischen Schritte sind demnach

. die Heuristik in der Induktion,
. die Begründung in der Konstruktion
. der Beweis in der Deduktion und
. die Bestätigung in der Reduktion.

Dabei bleibt man stets im gleichen Wissenschaftsprogramm. Man entwickelt mit ihm Theorie, und man verwendet die Theorien für die Gewinnung relevanter Informationen, die ihrerseits zu verbesserten Theorie resp. präzisierten Informationen führen können.

Die Anwendung in meiner Vorlesung
Die Wahlforschung ist ein typisches Beispiel hierfür; sie gilt als eine der weitentwickeltsten Teilbereich der Sozialwissenschaften, weshalb man heute überwiegend deduktiv-reduktiv verfährt.
Die Abstimmungsforschung, die ungleich weniger entwickelt ist, verfährt noch überwiegend umgekehrt. Sie verfährt deshalb, wissenschaftstheoretisch gesprochen, induktiv-konstruktiv. Doch dazu nächste Woche mehr.

Geruhsames Wochenende!

Claude Longchamp

Die Weltuniversitäten für Sozialwissenschaften

Seit 2003 wird der Shanghai-Index publiziert, eine allgemeine Rangliste der Weltuniversitäten.

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Die soeben erschienen Version 2008 gibt nicht mehr nur hierzu eine Uebersicht, sondern untergliedert auch in 5 Fachrichtungen. Erstmals bekommt man so die besten Hochschulen der Welt zu sehen, die sich gegenwärtig in den Sozialwissenschaften ausgezeichnen. Für dieses Jahr sind das weltweit:

1. Harvard (1)
2. Chicago (9)
3. Columbia (7)
4. Stanford (2)
5. Berkeley (3)
6. MIT (5)
7. Princeton (8)
8. Pennsylvania (15)
9. Yale (11)
10. Ann Arbor (21)

Beschränkt man sich auf Europa, steht Cambridge an erster Stelle. Ueberhaupt, 7 der 10 Top-Plätze werden von britischen Universitäten eingenommen; die anderen drei sozialwissenschaftlich führenden Hochschulen kommen alles aus den Niederlanden. Hier die Liste für Europa:

1. Cambridge (world 18/4)
2. Oxford (world 23/10)
3. LSE (world 26/151)
4. Amsterdam (world 51/102)
5. London (world 51/25)
6. Manchester (world 51/48)
7. Warwick (world 51/203)
8. Erasmus (world 77/151)
9. Amsterdam (world 77/151)
10. London Business School (world 77/511)

Uebrigens: Keine Schweizer Universität wird in den Sozialwissenschaften als weltweit führend angesehen. Das ist notabene in allen 4 anderen Fachrichtungen, die im Shanghai-Index neuerdings unterschieden werden, anders!

Claude Longchamp

PS:
Jedes dieser Rankings hat seine Eigenheit aufgrund der Parameterwahl. Im Einzelnen resultieren damit andere Klassierungen; der Gesamteindruck bleibt sich aber weitgehend gleich: Times Higher Education Awards (2007).

Eine stärkere Unterscheidung nach Forschung und Lehre, jedoch nicht nach Fachrichtungen sortiert, nimmt das spanische “Webometrics Ranking of World Universities 2008“.

Sind wir Menschen alle ein RREEMM?

Vilfredo Pareto, der italienische Oekonom, der an der Universität Lausanne lehrte, prägte für 100 Jahren den Begriff des “homo oeconomicus”. Demnach ist der Mensch ein individualistisches Wesen, das vernünftig handelt, und, egal wer der Mensch ist und wo er lebt, nur an seinem eigenen Nutzen interessiert ist. Vor rund 50 Jahren konterte der deutsch-englische Soziologe Ralf Dahrendorf und sprach erstmals vom “homo sociologicus”. Er definitierte den Menschen als gesellschaftliches Wesen, das gegenüber anderen Menschen in Rollen handelt. Erwartungen, Sanktionen, Normen und Werte, die im Umfeld des Menschen entstehen, steuern sein Verhalten.

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Das sozialwissenschaftliche Menschenbild der Gegenwart entspricht dem homo generalis

Und wo steht man heute in der Debatte zwischen dem individualistischen resp. gesellschaftlichen Wesen Mensch? Der deutsche Sozialwissenschafter Siegwart M. Lindenberg, der in Harvard habilitiert hat, im niederländischen Groningen als Soziologe lehrt und Direktor der Interuniversitären Zentrums für sozialwissenschaftliche Theorie und Methodologie ist, kommt zu einer vermittelnden Antwort: Er bestimmt den Menschen als homo generalis, kurz auch als RREEMM. Die Buchstaben sind dabei Abkürzungen für, das in der Definition Lindenbergs entscheidend ist:

R: resourceful
R: restricted
E: evaluation
E: expecting
M: maximizing
M: (wo)man

Aehnlich, wie die rationale Entscheidungstheorie, die sich auf den homo oecomicus stützt, handelt der Mensch nach Lindenberg als individualistisches Wesen, das an der Vermehrung seiner Vorteile interessiert ist. Anders als die ökomische Deutung der rationalen Entscheidung definitiert Lindenberg die Voraussetzung dieses Handelns nicht aufgrund klarer Präferenzen und vollständiger Informationen, die im Handeln kollektiver Akteure Sinn machen, bezogen auf das Individuum aber eine zu starke Vereinfachung darstellen.

Vielmehr führt Lindenberg aufgrund seiner kognitiven Soziologie vier Randbedingungen der Entscheidungen ein: Menschen …
… sind in ihren Entscheidungen nicht frei, sondern unterliegen mannigfaltigen Einschränkungen (“restricted”)
… verfügen über Kompetenzen, die sie in ihren Entscheidungen zu mobilisieren wissen (“ressorceful”)
… handeln nicht aufgrund den Begebenheiten, die sich kennen oder auch annehmen (“expecting”)
… und entscheiden sich, aufgrund ihrer Ziele, für jene Handlungsmöglichkeit, die ihnen am meisten Vorteile verspricht (“evaluating”).

Das Modell ist nicht die einzige Innovation in den sozialwissenschaftlichsten Handlungstheorien der Gegenwart, wohl aber eine der vielversprechendsten. Es ist nicht mehr so elegant und simpel wie die Modelle, die der amerikanische Oekonom Antony Downs in die Entscheidungstheorien eingebracht hat. Aber es ist auch einfacher und verständlicher, als die Diagnosen, welche die früheren Soziologen erstellt haben.

Was heisst das? Die Erwartung, dass sich die Wissenschaft vermehrt für das Handlungsmodell des homo generalis entscheidet, denn die Erwartungen des homo oeconomicus resp. des homo sociologicus haben sich nicht voll erfüllt. Sie sollten sich deshalb von den Restriktionen der Wissenschaftsgeschichte der letzten 100 Jahre befreien, und auf ihre innovative Kraft vertrauen, indem sie vorhandene Weiterentwicklung in ihren Entscheidungen nutzen.

Denn so würde auch sie als generalisierte Menschen handeln!

Claude Longchamp

Weiterführende Lektüre:
Bruno S. Frey: Ökonomie ist Sozialwissenschaft. Die Anwendung der Ökonomie auf neue Gebiete. München 1990.
Hartmut Esser: Soziologie – Allgemeine Grundlagen. 3. Auflage, Frankfurt/New York 1999.

Handbuch der Wahlforschung (in Deutschland)

(zoon politicon) Wahlforschung gehört weltweit zu den entwickeltsten Zweigen der Sozialwissenschaften. System- und Akteurstheorien verbinden sich in ihr. GeographInnen, SoziologInnen, OekonomInnen, PsychologInnen, KommunikationswissenschafterInnen und StatistikerInnen lieferten ihre Beiträge, die direkt oder durch die Politikwissenschaft vermittelt in die Wahlforschung einflossen. Doch damit nicht genug: Neben die multi- und interdisziplinären Grundlagenforschung, die weltweit betrieben wird, treten heute global gesehen immer mehr praxisorientierte Forschungsinstitute auf, die angwandte Bevölkerungsuntersuchungen oder Medienanalysen betreiben, und bestrebt sind, Lehre zu, Forschung über und Beratung von Politik miteinander zu betreiben.

Kann man da den Ueberblick bewahren? – Individuell wohl kaum; kollektiv jedoch schon!

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Wer auf Deutsch eine Uebersicht über die Wahlforschung in Theorie und Praxis aus berufener Hand haben will, der greift heute unweigerlich zum “Handbuch Wahlforschung”, das Jürgen Falter und Harald Schoen von der Universität Mainz 2005 herausgegeben haben. Unverändert reflektiert es den Stand der Wahlforschung, mindestens auf Deutschland bezogen.

Die 830 Seiten liesst man kaum in einem Zug. Aber man wird sie auszugsweise verarbeiten. Hierzu offeriert einem das Handbuch fünf unterschiedliche Zugänge:

. die Grundlagen der Wahlforschung (Wahlen und Demokratie, Geschichte der Wahlforschung, Methoden und Daten)

. die Theorien der Wahlforschung (Wahlgeografie, Soziologie, Sozialpsychologie, Oekonomie, Theorievergleiche)

. spezielle Fragestellungen der Wahlforschung (Nichtwahl,Wechselwahl, Wähler extremistischer Parteien, Wertwandel resp. Persönlichkeit und Massenmedien und Wahlverhalten)

. ausgewählte Gebiete der Wahlforschung (Wahlkampfforschung, Historische Wahlforschung, Wahlsystemforschung) und

. eine Kritik der empirischen Wahlforschung in Deutschland

Das Werk ist stark textorientiert, hat aber auch Tabellen und Grafiken zu Verdeutlichung. Abgerundet werden die Beiträge durch ein ausführliches Glossar resp. Literaturverzeichnis.

Interessant sind die Feststellungen der Autoren zum Fortschritt in der Wahlforschung. Die wesentliche Verbesserung sehen sie in der Verlagerung von Erklärung aus dem Umfeld auf das Individuum. In der Einstellungsforschung konkurrieren heute Oekonomie und Sozialpsychologie. Einen weitere Fortschritt vermuten die Herausgeber denn auch in der Erweiterung der ökonomischen Wahltheorie durch sozialpsychologische Erkenntnisse. Das ist wohl eine der treffenden Antworten. Die anderen, im Buch leider unterbewertete, ist die Erweiterung des sozialpsychologischen Theorie durch neue Erkenntnisse aus der Kommunikationswissenschaft.

Vom Anspruch her ist das Buch nicht geeignet, wer sich nicht für Wahlforschung interessiert. Es richtet sich aber auch nicht nur an die Top-Vertreter der Disziplin. Es ist so gemacht, das beispielsweise Studierende, die sich mit Wahlen und ihrer Erforschung auseinandersetzen müssen, mit Bedacht, gründlich und verständlich eingeführt werden.

Vielleicht, könnte man kritisieren, wäre eine Erweiterung des Handbuches auf Oesterreich und die Schweiz angezeigt gewesen, um das Referenzwerk auf Deutsch und für den deutschsprachigen Raum vor sich zu haben.

Claude Longchamp

Jürgen Falter, Harald Schoen (Hg.): Handbuch Wahlforschung, Wiesbaden 2005
Umfassende Buchbesprechung

Lehrbuch der empirischen Politikforschung

(zoon politicon) Volker Dreier ist Privatdozent an der Universität Köln. Er arbeitet am dortigen Forschungsinstitut für Soziologie, und er ist Redaktor der renomierten Zeitschrift “Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie”. Vor allem aber hat Volker Dreier 1997 eine der wenigen, auf Deutsch erschienen, umfassenden Uebersichten über die Forschung in der empirisch ausgerichteten Politikwissenschaft verfasst.

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Volker Dreier, Soziologe mit Forschungsschwerpunkten, die mir durchaus zusagen, hat die massgebliche Einführung in die “Empirische Politikforschung” auf Deutsch verfasst, die soeben in der 2. Auflage erschienen ist.

Dreier versteht sich als unorthodoxer Vertreter der empirisch-analytischen Politikforschung. Diese leitet er aus der allgemeinen wissenschaftlichen Forschung ab, die sich dem wissenschaftlichen Realismus verpflichtet fühlt. Sinnliche Erfahrungen, logische Theoriebildung und empirische Ueberprüfungen sind für ein die massgeblichen wissenschaftstheoretischen Positionen.
Das Lehrbuch, strikte aufgebaut, sorgfältig geschrieben, mit Grafiken aufgearbeitet, sonst aber eher trocken, hat drei Teile:

. erstens, die Orientierungen der empirischen Politikforschung (mit der Begriffsbestimmung, den Grundfragen und den Grundelementen)
. zweitens, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen (mit den formalen Grundlagen, den Begriffen und Aussagen, der logische Struktur einer empirischen Theorie, der Theoriekonstruktion, dem Erklären und/oder dem Verstehen)
. drittens, die Methoden und Modelle (mit dem Messen und der Sklaierung, den Modelle sowei den Abläufen in der Forschung)

In vielen Teilen des Buches gibt es, für sich gesehen, gleichwertige oder bessere Einzelabhandlungen. Was das Werk aber auszeichnet, ist der systematisch durchgehaltene überischtliche Stil über eigentlich alle Fragen, die sich dem/der empirischen PolitikforscherIn bei ihrer Arbeit und deren Kommunikation stellen.

Vielleicht, könnte man als einige Kritik anfügen, hätte man sich nach 586 Seiten noch ein Würdigung des Stand und der Entwicklung des Fachgebieten gewünscht.

Claude Longchamp

Vom Sinn der Tatsachen in der Wissenschaft

(zoon politicon) In der gestrigen Vorlesung “Empirische Politikforschung in der Praxis” stiessen wir kurz auf den Aufklärer David Hume. Er hat den Empirismus als Gegenposition zum Rationalismus von René Desacartes begründet. Dieser liess sich vom Mensch als vernunftbegabtes Wesen leiten, jener vom Mensch, der dank seiner Sinne die Welt erfahren kann. Bis heute sind beide erkenntnistheoretische Positionen, wenn auch in kritisch verarbeiteter und kombinierter Form bestandteil der Philosophie der Wissenschaften.

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Nachdenken über Thomas Huxleys prägnante Aussagen zum Sinn der Tatsachen in der Wissenschaft empfohlen

Per Zufall bin ich heute auf den britischen Agnostiker Thomas Huxley (1825-1895) gestossen, der im 19. Jahrhundert lebte. Nicht weil er der Grossvater des bekannten Aldous Huxley (Schöne, neue Welt 1932) war, behielt ich ihn im Auge. Vielmehr viel mir auf, dass er mit wenige Worten das wissenschaftliche Denken, das Hume (“gegen die Macht der Gewohnheit”) entwickelt hatte, prägnant zusammenfasste; drei Kernsätze seies deshalb hier zum Nachdenken über den Empirismus in den Natur- und Sozialwissenschaften festgehalten:

„Die größte Sünde gegen den menschlichen Geist ist, Dinge ohne Beweis zu glauben.“

„Jede neue Wahrheit beginnt ihren Weg als Ketzerei und beendet ihn als Orthodoxie.“

„Die Tragödie der Wissenschaft – das Erschlagen einer schönen Hypothese durch eine häßliche Tatsache.“

Schönes Wochenende (trotzdem)

Claude Longchamp

Schlüsselwerke der Politikwissenschaft handlich aufgearbeitet

(zoon politicon) Da geht die Praxis der Theoretiker und der Praktiker weit auseinander: Muss man die Klassiker der Politikwissenschaft ausführlich gelesen haben, oder reicht es, wenn man die relevanten Zusammenfassungen kennt? Die Antworten stehen sich da diametral gegenüber: In der wissenschaftlichen Ausbildung sagt man: Ja, man muss sie in extenso gelesen haben. In der ausseruniversitären Praxis wird man Antworten: Unmöglich!

Ich gebe folgende Antwort: Im eigenen Arbeitsgebiet lohne es sich, die grossen Gedankengänge der relevanten Literatur einmal von A bis Z durcharbeitet zu haben. Und es ist sinnvoll, in einzelnen Forschungsgebieten die verzweigten Hinweise auf Neues selber aufgespürt zu haben.
Darüberhinaus mache ich mir nichts vor: Eine Uebersicht über die schnelle Entwicklung des Faches bekommt man so nicht. Doch das ist häufig essenziell. Gerade auch für Nicht-Fachleute.

Da bleibt nur der Griff zu Lexikas, um Begriffe sauber bestimmt zu bekommen, zu Handbüchern, um thematische Zusammenfassungen zu erhalten, oder eben zu diesem Buch:

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Steffen Kailitz: Schlüsselwerke der Politikwissenschaft. Wiesbaden 2007, 499 S.

In diesem Buch bekommt man rasche und knappe Antworten auf herausragende Werke der Politikwissenschaft, etwa zu Klaus von Beymes “Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa”, zu Walter Bagehots “The English Constitution” oder zu Max Webers “Wirtschaft und Gesellschaft”.

In diesem neuartigen Band werden 129 zentrale Werke der Politikwissenschaft handlich besprochen. Das ist verdankenswert, wenn man gezwungen ist, für eine Fragestellung, für ein Projekt oder für eine Vorlesung schnell abzuschätzen, was der Gehalt der Ergebnisse und Erkenntnisse ist.

Gerade dann, wenn man von einem Werk der Politikwissenschaft so angesprochen wird, steht es einem ja frei, bei geweckter Muse mal das ganze Buch zu lesen!

Claude Longchamp

Selbstverständlich bleiben zwei Werke zur Politikwissenschaft unverzichtbar:
Kurzfassung: Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe (2 Bd.). München 2005 (3. Aufl.)
ausführliche Fassung: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik (7 Bde.), München 1995 ff.

Die online Kurzversion kann man hier nachschlagen:
PolitikWissen.de

Politologie für die Zeitungslektüre

Wie die meisten Menschen lesen auch PolitologInnen Zeitungen. Doch sie machen es mit anderen Filtern. Für Sie sind Zeitungsinformationen auch Ausgangslagen für die Schnellanalyse dessen, was politikwissenschaftlich Relevantes berichtet wird. Und das kann auch für Nicht-PolitologInnen ganz nützlich sein.
Werner Patzelt, Politikprofessor in Dresden, der eine erfolgreiche Einführung in die Politikwissenschaft verfasst hat, machte hierfür zwei Vorschläge, die man sich gut merken kann.

Das PPP/MINK-Schema von Werner Patzelt für die rasche Analyse politikwissenschaftlich interessanter Zeitungsberichte

PPP: der dreifach differenzierte Politikbegriff

Im Deutschen haben wir nur einen Begriff für “Politik”; im Englischen sind es drei: “PPP” steht für “policy”, “politics” und “polity”.
“Policy” umschreibt den Inhalt einer Politik, “politics” den Prozess der Entscheidung, und “polity” die strukturellen resp. kulturellen Voraussetzungen, aufgrund derer eine Entscheidung hierzu stattfindet.
In einem Artikel zum Handeln eines politischen Akteures (z.B. Staatspräsident, Ministerin, Parlamentarier, Gerichtvorsteher, Polizeibehörde, ParteivertreterInnen, Quartierverein) stellt sich also zuerst die Frage, um was es geht: um ein Programm, um eine Entscheidung oder um das System.
Meist reicht eine der drei Begriffsbestimmungen, gelegentlich braucht man zwei, selten drei. Das zeigt, wie undifferenziert der deutsche Politikbegriff ist. Es verweist auch darauf, mit Vorteil in den englischen Politik-Kategorien zu denken.

MINK: die vier zentralen Politikdimensionen
Nun sind wir wieder beim Deutschen. Das Wort besteht aus den Anfangsbuchstaben der vier zentralen, politikwissenschaftlichen Dimensionen: der Macht, der Ideologie, den Normen und der Kommunikation.

Ideologie ist die selektive Wahrnehmung oder Schilderung einer Ausgangslage. Es interessiert vor allem, was ausgeblendet wird und bleibt. Denn es gilt: Politische Akteure handeln aufgrund ihrer Ideologie, also ihrer selektiven Definition von Realität. Sie unterscheiden sich von anderen Akteuren aufgrund der Unterschiede im Zugriff auf Situationen und Veränderungen.
Wenn gehandelt wird, steuern Normen jegliche Handlung. Politologisch relevant ist vor allem, wie ein Akteur mit rechtlichen, politischen oder sozialen Normen umgeht, denn so lassen sich seine Absichten bestimmen. Regierungen müssen in der Regel legal und konventionell handeln. Oppositionelle dagegen spielen mit dem Tabubruch, der Normverletzung oder dem Gesetzbruch, um auf ihre speziellen Situation aufmerksam zu machen.
In einer Entscheidung haben jene Akteure Macht, welche die Chancen haben, ihren Willen auch gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen. Macht zeigt sich auch, wenn man Entscheidungen verhindern oder die Voraussetzung von Entscheidungen so gestalten kann, dass der eigene Wille begünstigt wird. Macht zeigt sich in jeder Entscheidung, in der Unterscheidung von Entscheidern und Entscheidbetroffenen.
Schliesslich ist Kommunikation der direkte oder medial vermittelte Austausch von Informationen und Sinndeutungen. Kommunikation ist bei der Konstitution ideologischer Wirklichkeiten massgeblich, Kommunikation zeigt den Umgang mit Normen, und mit Kommunikation propagieren Akteure auch Ziele und Mittel, die in Entscheidungen eingesetzt werden.

Nicht immer sind alle vier Dimensionen werden durch jede politische Handlung angesprochen. Das liegt in der Natur der Sache. Meist kommt in Zeitungsartikeln jedoch die Akteurskommunikation in Kombination mit Ideologien, mit Normen oder mit Macht in Verbindung vor.

Meine Erfahrung
Meine Erfahrung bei der Anwendung des Schemas sagt mir: Das MINK-Schema kann bei der Zeitungslektüre immer dann verwendet werden, wenn ein politische Akteur handelt und man nach den politikwissenschaftlich relevanten Begriffen und Dimensionen dieser Handlung fragt. Das erschliesst einem Zusammenhänge, ob sie im Bericht vorkommen oder nicht. Und genau das hilft, die letztlich meist positionslose Zeitungslektüre, deren Informationen jenseits von Sensationen sofort wieder vergessen werden, politologisch interessanter zu gestalten!

Claude Longchamp

Werner Patzelt: Einführung in die Politikwissenschaft. Grundriss des Faches und studiumbegleitende Orientierung, Passau 1993 resp. eine der Neuauflagen davon

Vorlesung vs. Vortragung

(zoon politicon) Die Vorlesung stammt aus der Zeit der wachsenden Hörerschaft an der Universität, die sich ein Buch nicht leisten konnte. Also liess man sich vorlesen. Der Vorlesende wiederum war sich so sicher, nicht gegen die Zensur zu verstossen. Denn vorgelesen wurde nur aus zugelassenen Bücher.

Das ist heute alles anders.

Aber es werden unverändert Vorlesungen gehalten. Der Dozent spricht, die Studenten hören zu, und schreiben mit, wie wenn sich nie etwas verändert hätte.

Im Idealfall gibt es heute ein vollständiges Skript. Das erleichtert die Nachbereitung der Veranstaltung und die Vorbereitung von Prüfungen. Ersteres ist unverändert löblich, letzteres ist dient meist nur dem Training des Kurzzeitgedächtnisses.

So sind die wenigen Neuerungen zu begrüssen, keine Texte mehr, sondern nur noch Gedankenstützen in Folienformen abzugeben. Sie zwingen zu erhöhter Aufmerksamkeit während den Veranstaltungen. Und so regen sie an, zwischen Nachvollzug bestehender Unterlagen und und Aufnahme des Gesagten zu unterscheiden, denn das muss in den Unterlagen mit eingene Worten und Gedanken ergänzt werden.

Das Beste ist aber immer noch die frei gehaltene Rede während einer Vortragung. Denn sie gelingt nur, wenn der Dozent den Stoff bis auf den Grund beherrscht und ihn mit Ueberzeugung vermitteln kann. Und das ist der Anfang der Bildung und ihrer Vermehrung!

Claude Longchamp