Sozialwissenschaftliche Handlungstheorien im Vergleich

(zoon politicon) Während der letzten Sitzung des MIA-Kurses in St. Gallen haben wir unter dem Stichwort RREEMM kurz die Entwicklung einer generellen Handlungstheorie für die Sozialwissenschaften diskutiert. Der damit beschriebene und analysierte homo generalis basiert auf den zwei wichtigsten handlungstheoretischen Vorstellungen, dem homo oeconomicus und dem homo sociologicus, die bisher entwickelt worden sind.

Die Einführungsdarstellung von Christian Etzrodt in die sozialwissenschaftlichen Handlungstheorien geht zwar nicht soweit wie die aktuelle RREEMM-Forschung; dafür legt sie eine saubere Basis über die zentralen Handlungstheorien in der Oekonomie wie auch in der Soziologie.

Konkret werden je 3 Ansätze dargestellt: Rational Choice. Spieltheorie und Tauschtheorien, die aus der Oekonomie stammen, sowie Phänomenologie, Symbolischer Interaktionismus und struktur-funktionale Theorie, die alle aus der Soziologie hergeleitet werden.

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Der Vergleich soziologischer und ökonomischer Handlungstheorien im Vergleich (Quelle: Etzrodt, 2003)

Wer sich in diese generellen Fragestellungen einarbeiten will oder muss, der wird hier ganz ordentlich bedient. Geklärt werden insbesondere Dimensionen, die in den verschiedenen Handlungstheorie behandelt, teilweise gleich, teilweise anders konzipiert werden. Namentlich sind dies:

. Was analysiert die jeweilige Handlungstheorie grundsätzlich?
. Welche Annahmen zum Individuum und seinem Verhalten werden gemacht?
. Welche Annahmen zur Gesellschaft werden angenommen?
. Was konkret wird mit dem Ansatz untersucht?
. Was sind die wichtigsten erklärenden Variablen des Handelns?
. Was sind die Selektionskriterien einer Entscheidung?
. Was ist der (idealisierte) Ort der Handlung?

Im Lehrbuch werden die Ergebnisse, die sich darauf aus jeder der sechs besprochenen Handlungstheorien ergeben einzeln dargelegt und in einer nützlichen Synopsis zusammengefasst. Hierzu endet die Einführung mit einem systematischen Vergleich in der Erforschung des menschlichen Handelns.

Das Buch kann allen, die sich mit ökonomischen und soziologischen Handlungsvorstellungen beschäftigen und eine rasche Uebersicht gewinnen müssen, wärmstens empfohlen werden.

Claude Longchamp

Christian Etzrodt: Sozialwissenschaftliche Handlungstheorien. Eine Einführung, Konstanz 2003

Handbuch der Wahlforschung (in Deutschland)

(zoon politicon) Wahlforschung gehört weltweit zu den entwickeltsten Zweigen der Sozialwissenschaften. System- und Akteurstheorien verbinden sich in ihr. GeographInnen, SoziologInnen, OekonomInnen, PsychologInnen, KommunikationswissenschafterInnen und StatistikerInnen lieferten ihre Beiträge, die direkt oder durch die Politikwissenschaft vermittelt in die Wahlforschung einflossen. Doch damit nicht genug: Neben die multi- und interdisziplinären Grundlagenforschung, die weltweit betrieben wird, treten heute global gesehen immer mehr praxisorientierte Forschungsinstitute auf, die angwandte Bevölkerungsuntersuchungen oder Medienanalysen betreiben, und bestrebt sind, Lehre zu, Forschung über und Beratung von Politik miteinander zu betreiben.

Kann man da den Ueberblick bewahren? – Individuell wohl kaum; kollektiv jedoch schon!

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Wer auf Deutsch eine Uebersicht über die Wahlforschung in Theorie und Praxis aus berufener Hand haben will, der greift heute unweigerlich zum “Handbuch Wahlforschung”, das Jürgen Falter und Harald Schoen von der Universität Mainz 2005 herausgegeben haben. Unverändert reflektiert es den Stand der Wahlforschung, mindestens auf Deutschland bezogen.

Die 830 Seiten liesst man kaum in einem Zug. Aber man wird sie auszugsweise verarbeiten. Hierzu offeriert einem das Handbuch fünf unterschiedliche Zugänge:

. die Grundlagen der Wahlforschung (Wahlen und Demokratie, Geschichte der Wahlforschung, Methoden und Daten)

. die Theorien der Wahlforschung (Wahlgeografie, Soziologie, Sozialpsychologie, Oekonomie, Theorievergleiche)

. spezielle Fragestellungen der Wahlforschung (Nichtwahl,Wechselwahl, Wähler extremistischer Parteien, Wertwandel resp. Persönlichkeit und Massenmedien und Wahlverhalten)

. ausgewählte Gebiete der Wahlforschung (Wahlkampfforschung, Historische Wahlforschung, Wahlsystemforschung) und

. eine Kritik der empirischen Wahlforschung in Deutschland

Das Werk ist stark textorientiert, hat aber auch Tabellen und Grafiken zu Verdeutlichung. Abgerundet werden die Beiträge durch ein ausführliches Glossar resp. Literaturverzeichnis.

Interessant sind die Feststellungen der Autoren zum Fortschritt in der Wahlforschung. Die wesentliche Verbesserung sehen sie in der Verlagerung von Erklärung aus dem Umfeld auf das Individuum. In der Einstellungsforschung konkurrieren heute Oekonomie und Sozialpsychologie. Einen weitere Fortschritt vermuten die Herausgeber denn auch in der Erweiterung der ökonomischen Wahltheorie durch sozialpsychologische Erkenntnisse. Das ist wohl eine der treffenden Antworten. Die anderen, im Buch leider unterbewertete, ist die Erweiterung des sozialpsychologischen Theorie durch neue Erkenntnisse aus der Kommunikationswissenschaft.

Vom Anspruch her ist das Buch nicht geeignet, wer sich nicht für Wahlforschung interessiert. Es richtet sich aber auch nicht nur an die Top-Vertreter der Disziplin. Es ist so gemacht, das beispielsweise Studierende, die sich mit Wahlen und ihrer Erforschung auseinandersetzen müssen, mit Bedacht, gründlich und verständlich eingeführt werden.

Vielleicht, könnte man kritisieren, wäre eine Erweiterung des Handbuches auf Oesterreich und die Schweiz angezeigt gewesen, um das Referenzwerk auf Deutsch und für den deutschsprachigen Raum vor sich zu haben.

Claude Longchamp

Jürgen Falter, Harald Schoen (Hg.): Handbuch Wahlforschung, Wiesbaden 2005
Umfassende Buchbesprechung

Lehrbuch der empirischen Politikforschung

(zoon politicon) Volker Dreier ist Privatdozent an der Universität Köln. Er arbeitet am dortigen Forschungsinstitut für Soziologie, und er ist Redaktor der renomierten Zeitschrift “Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie”. Vor allem aber hat Volker Dreier 1997 eine der wenigen, auf Deutsch erschienen, umfassenden Uebersichten über die Forschung in der empirisch ausgerichteten Politikwissenschaft verfasst.

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Volker Dreier, Soziologe mit Forschungsschwerpunkten, die mir durchaus zusagen, hat die massgebliche Einführung in die “Empirische Politikforschung” auf Deutsch verfasst, die soeben in der 2. Auflage erschienen ist.

Dreier versteht sich als unorthodoxer Vertreter der empirisch-analytischen Politikforschung. Diese leitet er aus der allgemeinen wissenschaftlichen Forschung ab, die sich dem wissenschaftlichen Realismus verpflichtet fühlt. Sinnliche Erfahrungen, logische Theoriebildung und empirische Ueberprüfungen sind für ein die massgeblichen wissenschaftstheoretischen Positionen.
Das Lehrbuch, strikte aufgebaut, sorgfältig geschrieben, mit Grafiken aufgearbeitet, sonst aber eher trocken, hat drei Teile:

. erstens, die Orientierungen der empirischen Politikforschung (mit der Begriffsbestimmung, den Grundfragen und den Grundelementen)
. zweitens, die wissenschaftstheoretischen Grundlagen (mit den formalen Grundlagen, den Begriffen und Aussagen, der logische Struktur einer empirischen Theorie, der Theoriekonstruktion, dem Erklären und/oder dem Verstehen)
. drittens, die Methoden und Modelle (mit dem Messen und der Sklaierung, den Modelle sowei den Abläufen in der Forschung)

In vielen Teilen des Buches gibt es, für sich gesehen, gleichwertige oder bessere Einzelabhandlungen. Was das Werk aber auszeichnet, ist der systematisch durchgehaltene überischtliche Stil über eigentlich alle Fragen, die sich dem/der empirischen PolitikforscherIn bei ihrer Arbeit und deren Kommunikation stellen.

Vielleicht, könnte man als einige Kritik anfügen, hätte man sich nach 586 Seiten noch ein Würdigung des Stand und der Entwicklung des Fachgebieten gewünscht.

Claude Longchamp

Schlüsselwerke der Politikwissenschaft handlich aufgearbeitet

(zoon politicon) Da geht die Praxis der Theoretiker und der Praktiker weit auseinander: Muss man die Klassiker der Politikwissenschaft ausführlich gelesen haben, oder reicht es, wenn man die relevanten Zusammenfassungen kennt? Die Antworten stehen sich da diametral gegenüber: In der wissenschaftlichen Ausbildung sagt man: Ja, man muss sie in extenso gelesen haben. In der ausseruniversitären Praxis wird man Antworten: Unmöglich!

Ich gebe folgende Antwort: Im eigenen Arbeitsgebiet lohne es sich, die grossen Gedankengänge der relevanten Literatur einmal von A bis Z durcharbeitet zu haben. Und es ist sinnvoll, in einzelnen Forschungsgebieten die verzweigten Hinweise auf Neues selber aufgespürt zu haben.
Darüberhinaus mache ich mir nichts vor: Eine Uebersicht über die schnelle Entwicklung des Faches bekommt man so nicht. Doch das ist häufig essenziell. Gerade auch für Nicht-Fachleute.

Da bleibt nur der Griff zu Lexikas, um Begriffe sauber bestimmt zu bekommen, zu Handbüchern, um thematische Zusammenfassungen zu erhalten, oder eben zu diesem Buch:

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Steffen Kailitz: Schlüsselwerke der Politikwissenschaft. Wiesbaden 2007, 499 S.

In diesem Buch bekommt man rasche und knappe Antworten auf herausragende Werke der Politikwissenschaft, etwa zu Klaus von Beymes “Die parlamentarischen Regierungssysteme in Europa”, zu Walter Bagehots “The English Constitution” oder zu Max Webers “Wirtschaft und Gesellschaft”.

In diesem neuartigen Band werden 129 zentrale Werke der Politikwissenschaft handlich besprochen. Das ist verdankenswert, wenn man gezwungen ist, für eine Fragestellung, für ein Projekt oder für eine Vorlesung schnell abzuschätzen, was der Gehalt der Ergebnisse und Erkenntnisse ist.

Gerade dann, wenn man von einem Werk der Politikwissenschaft so angesprochen wird, steht es einem ja frei, bei geweckter Muse mal das ganze Buch zu lesen!

Claude Longchamp

Selbstverständlich bleiben zwei Werke zur Politikwissenschaft unverzichtbar:
Kurzfassung: Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze (Hrsg.): Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe (2 Bd.). München 2005 (3. Aufl.)
ausführliche Fassung: Dieter Nohlen (Hrsg.): Lexikon der Politik (7 Bde.), München 1995 ff.

Die online Kurzversion kann man hier nachschlagen:
PolitikWissen.de

In welcher Welt leben wir eigentlich?

(zoon politicon) Sicher, der Titel, den die BBC-Journalistin, Jessica Williams, ihrem Buch gegeben hat, ist aus doppeltem Grund reisserisch; er lautet: “50 Fakten, die die Welt verändern sollten”. Einmal gibt er vor, 50 (neue) Fakten zu präsentieren; sodann behauptet er, dass die Titel uns zu Aenderungen bewegen sollten.

Was die Welt verändern sollte, stellte die BBC-Journalistin Jessica Williams zusammen; seit 2004 wird der Beststeller der Wissenschaftsjournalistin diskutiert.

Als Wissenschaftler wird man zunächst antworten: eine fleissige, journalistische Arbeit. Und man wir auch festhalten, dass Anstösse gegeben werden. Gleichzeitig wird man bei so apodiktischen Aufhängern erst recht die wissenschaftliche Skepsis spielen lassen. Sind das Realitäten oder Konstruktionen? Sind es Faktoren oder Zuspitzungen?

Eine der unbestrittenen Aufgabe der Wissenschaft ist es , Richtiges von Falschem zu trennen, um Schlussfolgerungen nur auf gesicherten Wissen ziehen zu können. Die diesbezügliche kritische Diskussion des Buches, das 2007 auch auf deutsch erschienen ist, hat noch nicht stattgefunden. Also sollte sie geführt werden, – auch von WissenschafterInnen.

Nun ist die skeptische Prüfung von Wissen nur die eine Aufgabe des wissenschaftlichen Arbeitens. Zu ihren Qualifikationen, vor allem auch der Forschung gehört die Neugier, denn nur die spornt an, Bekanntes zu hinterfragen, Unbekanntes sichtbar zu und so Neues zu erkunden, oder eben: zu ent-decken.

Und das ist unbestrittene Stärke dieses Buches: Es präsentiert eine Unmenge von Hinweisen auf Sachen, die gegenwärtig geschehen, schief laufen, würde die autorin sagen. Es interessierte sie im wahrsten Sinne des Wortes die Welt, in der wir leben. Und das ist noch immer der beste Aufhänger für jegliches Nachdenken und auch wissenschaftliches Forschen.

Genau deshalb bringe ich hier die 50 Schlagzeilen des Buches, – unkommentiert. Nicht als bewiesen Fakten, aber als inspirierende Hinweise, die uns motivieren sollen, für das wissenschaftliche Arbeiten eigene Fragen zu stellen, Diagnosen zu entwickeln, Dokumentationen anzulegen, Belege zu prüfen und Folgerungen daraus zu ziehen!

1. Eine japanische Frau kann damit rechnen, 84 Jahre alt zu werden, eine Botswanerin wird im Mittel nur 39.
2. Ein Drittel aller übergewichtigen Menschen lebt in Entwicklungsländern.
3. Die Vereinigten Staaten und Grossbritannien haben von allen Industrienationen die meisten Teenagerschwangerschaften zu verzeichnen.
4. China fehlen 44 Millionen Frauen.
5. In Brasilien gibt es mehr Avon-Beraterinnen als Armeeangehörige.
6. Im Jahre 2002 fanden 81 Prozent aller Hinrichtungen weltwelt in nur drei Ländern statt: in China, im Iran und in den Vereinigten Staaten.
7. Britische Supermärkte wissen mehr über ihre Kunden als die britische Regierung.
8. Jede Kuh in der EU wird mit zwei 2,5 Dollar pro Tag subventioniert. Das ist mehr, als 75 Prozent aller Afrikaner zum Leben haben.
9. In über 70 Ländern verstossen gleichgeschlechtliche Beziehungen gegen das Gesetz. In neun Ländern werden sie mit dem Tod bestraft.
10. Einer von fünf menschen auf der Erde lebt von weniger als einem Dollar pro Tag.
11. In Russland sterben jährlich über 12’000 Frauen als Opfer von häuslicher Gewalt.
12. Im Jahre 2003 unterzogen sich 145 Millionen Amerikaner der einen oder anderen Form von plastischer Chirurgie.
13. In jeder Stunde wird mindestens ein Mensch von Landminen getötet oder verstümmelt.
14. In Indien gibt es 44 Millionen Kinderarbeiter.
15. Ein Bewohner der Industrienationen verzehrt jährlich zwischen sechs und sieben Kilogramm an Nahrungsmittelzusatzstoffen.
16. Der Golfspieler Tiger Woods ist der höchstbezahlte Sportler der Welt. Er verdient 78 Millionen Dollar pro Jahr – oder 148 Dollar pro Sekunde.
17. 7 Millionen Amerikanierinnen und eine Million Amerikaner leiden unter einer Essstörung.
18. Fast die Hälfte aller britischen Fünfzehnjährigen hat schon einmal illegale Drogen ausprobiert, und fast ein Viertel gehört zu den Gewohnheitsrauchern.
19. Die Industrielobby beschäftigt in Washington 67’000 Personen – das macht 125 Lobbyisten auf jeden gewählten Kongressabgeordneten.
20. In jeder Minute sterben zwei Menschen durch Autounfälle.
21. Seit 1977 hat es an nordamerikanischen Abtreibungskliniken über 90’000 Fälle von Gewalttaten und Vandalismus gegeben.
22. Mehr Menschen kennen die goldenen Bögen des McDonald’s-Emblems als das Kreuz der Christenheit.
23. In Kenia machen Bestechungsgelder in einem normalen Durchschnittshaushalt einen Drittel der Ausgaben aus.
24. Weltweit werden durch den Handel mit illegalen Drogen etwas 400 Milliarden Dollar umgesetzt – ungefähr genauso viel wie in der gesamten legalen Pharmaindustrie der Welt.
25. Ueber ein Drittel aller Amerikaner glaubt, dass schon einmal Ausserirdische auf der Welt gelandet seien.
26. In über 150 Ländern wird gefoltert.
27. Jeder fünfte Mensch auf der Erde leidet Tag für Tag Hunger – das sind insgesamt mehr als eine Milliarde Menschen.
28. Ein in den Vereinigten Staaten geborener Schwarzer männlichen Geschlechts wird mit einer Wahrscheinlichkeit von eins zu drei mindestens einmal im Leben im Gefängnis landen.
29. Ein Drittel der Weltbevölkerung ist gegenwärtig in einen Krieg verwickelt.
30. Die Oelreserven der Welt könnten im Jahre 2040 erschöpft sein.
31. 82 Prozent aller Raucher leben in Entwicklungsländern.
32. Ueber 70 Prozent der Erdbevölkerung haben noch nie ein Freizeichen gehört.
33. Bei einem Viertel aller bewaffneten Konflikte der Welt in den letzten Jahren hat der Kampf um natürliche Ressourcen eine ursächliche Rolle gespielt.
34. In Afrika sind 30 Millionen Menschen HIV-positiv.
35. Jedes Jahr sterben 10 Sprachen aus.
36. Jahr für Jahr kommen mehr Menschen durch Selbstmord ums Leben als in sämlichten bewaffneten Konflikten der Welt.
37. Jede Woche werden in Amerika im Durchschnitt 88 Kinder der Schule verweisen, weil sie eine Schusswaffe mit in den Unterricht gebracht haben.
38. Es gibt auf der Welt mindestens 300’000 Gesinnungsgefangene.
39. In einem Jahre werden 2 Millionen Mädchen und Frauen Opfer von Genitalverstümmelungen.
40. In den bewaffneten Konflikten der Welt kämpfen gegenwärtig 300’000 Kindersoldaten.
41. An den allgemeinen Wahlen des Jahres 2001 beteiligten sich in de Grossbritannien knapp 26 Millionen Wähler. Bei einer Staffel der Reality-TV-Show Pop Idol wurden über 32 Millionen Stimmen abgegeben.
42. Amerika gibt jährlich 10 Milliarden Dollar für Pornographie aus – denselben Betrag, den es auch in die Auslandhilfe steckt.
43. Im Jahre 2003 gaben die Vereinigten Staaten 396 Milliarden Dollar für die Rüstung aus. Das entspricht dem Dreiunddreissigfachen dessen, was alle sieben “Schurkenstaaaten” zusammen investieren.
44. Gegenwärtig gibt es auf der Welt 27 Millionen Sklaven.
45. In Amerika werden Stunde 2,5 Millionen Plastikflaschen weggeworfen. Das würde ausreichen, um alle drei Monate den Weg zum Mond damit zu pflastern.
46. Ein durchschnittlicher britischer Stadtbewohner wird bis zu dreihundert Mal am Tag von einer Kamera erfasst.
47. Jedes Jahr werden etwa 120’000 Frauen und Mädchen nach Westeuropa verkauft.
48. Eine aus Neuseeland nach Grossbritannien eingeflogene Kiwi produziert das Fünffache ihres Gewichtes an Treibhausgasen.
49. Die Vereinigten Staaten schulden den Vereinten Nationen über eine Milliarde Dollar an Beiträgen.
50. Kinder, die in Armut aufgewachsen sind, erkranken mit einer dreimal so hohen Wahrscheinlichkeit an psychischen Leiden wie Kinder aus wohlhabenden Familien.

Und jetzt?

Jessica Williams würde sagen: Handeln Sie sofort!
Ich schiebe nach: Prüfen Sie zuerst!

Jessica Williams: 50 Fakten, die die Welt verändern sollten, München 2007 (engl. Orginalausgabe: 50 Facts that Should Change the World, Cambridge 2004)

Konkordanz in der Schweiz auf dem Prüfstand

(zoon politicon) Seit die SVP Schweiz sich nicht mehr in der Regierung sieht, ihren Wählerauftrag aus der Opposition zum Bundesrat heraus sichtbarmachen will, an den Bundesratsparteiengesprächen nicht mehr teilnimmt, und in der “Arena” gleich starke Delegationen von Regierung und Opposition fordert, ist die Konkordanz wieder in aller Leute Mund. Seither wird auch viel behauptet, wie man sich in der Konkordanz nicht zu verhalten habe, wer den Rubikon überschritten habe, und welche Institutionen der Konkordanz überflüssig geworden seien.

Die Untersuchung
Gerade recht, um die tagesaktuelle, von parteipolitischen Interessen bestimmte Diskussion zu spiegeln, kommt da die politikwissenschaftliche Dissertation von Christian Bolliger, die 2007 unter dem Titel “Konkordanz und Konfliktlinien in der Schweiz, 1945 bis 2003”, erschienen ist. Bolliger interessiert sich dabei nicht für alles und jedes, was mit der Konkordanz zu tun hat, sondern für eine spezifische, in der Schweiz aber wichtige Fragestellung: “Wie stark entsprach die politische Praxis der schweizerischen Regierungsparteien im Wandel der Zeit dem Modell der Konkordanz, und trug diese Praxis zur Verminderung der gesellschaftlichen Praxis bei?”

akteursbeziehungen
Analyseschema für die parteipolitische Praxis der Konkordanz von Christian Bolliger (anclickbar)

Nach 467 kohärent und flüssig geschriebenen Seiten, die sich den Grundlagen der Fragestellung und dem empirisch anspruchsvollen Test der relevanten Hypothesen zu den Akteursbeziehungen widmen, kommt der Berner Politikwissenschaft zu folgendem bündigen Schluss: “immer weniger”. eigentlich hätte er noch beifügen müssen: ziemlich unberechtigterweise!

Der Analyseansatz
Bolliger denkt nicht streng institutionell. Konkordanz ist für ihn eine Praxis. Begründet sieht er sie, in Anlehnung an die international etablierte Konkordanztheorie, zuerst in der Segmentierung der Schweiz. Diese hat vier starke Konfliktlinien hervorgebracht, die es so kombiniert in andern Gesellschaften nicht gibt: die konfessionelle Konfliktlinie zwischen Katholiken und Reformierten, den Gegensatz von Stadt/Land, die Unterschiede zwischen den Sprachregionen und die Klassenstruktur im Besitzstand. Doch auch die direkte Demokratie, speziell das Referendum, sieht er im Gefolge der schweizerischen Konkordanztheorie, als Rechtfertigung, denn sie hat nach den Erfahrungen in der Zwischenkriegszeit den Zwang zur Zusammenarbeit der politischen Eliten erhöht.

Daraus leitet der Autor sein analytisches Modell der Akteursbeziehungen ab. Zwischen den grösseren Parteien braucht es Kooperation, hier als Parteienkonkordanz beschrieben, denn zwischen den BürgerInnen einer segmentierten Gesellschaft herrscht Polarisierung. Die Parteien wiederum haben die Aufgabe, Bindungen herzustellen zwischen den StimmbürgerInnen und den Eliten, die konfliktmindernd wirken. Sie müssen dabei, eingebunden in die Parteienkonkordanz, ihre innere Geschlossenheit bewahren können.

Wie das genau ausgeprägt ist, interessierte den ehemaligen Doktoranden. Wenn Parteienkooperation und innere Geschlossenheit funktionieren, spricht er von Stabilität der Konkordanz. Gibt es nur Parteikooperation, halten die Parteien die inneren Widersprüche aber nicht aus, redet er von brüchiger Konkordanz. Gekittet ist die Konkordanz, wenn wenn die innere Geschlossenheit tief und die Parteikooperation gering ist. Und schliesslich ist die Parteienkonkordanz gescheitert, wenn es keine Parteienkooperation mehr gibt, dafür die Geschlossenheit der parteilichen Eliten hoch ist. Das jedoch ist nur die horizontale Konkordanz. Die vertikale entsteht aus den alles entscheidenden Bindungen der Parteieliten und den StimmbürgerInnen:

. Wirksam ist die Konkordanz dann, wenn Parteienkooperation und gesellschaftliche Bindungen hoch sind, denn das führt zu einer Verminderung der Polarisierung.
. Unwirksam ist sie, wenn die Parteienkooperation funktioniert, es aber an gesellschaftlichen Bindungen mangelt.
. Ein offener Parteienwettbewerb herrscht vor, wenn die Polarisierung in der Bürgerschaft gering, in den parteilichen Eliten aber stark sind.
. Schliesslich ist von manifesten Konflikten die Rede, wenn sowohl die gesellschaftliche wie auch die parteipolitische Polarisierung ausgeprägt ist.

Die Ergebnisse
Was nun ist, bei der Analyse von Volksabstimmungen, Parteikampagnen und politischer Praxis Sache?

Den gewählten Zeitraum unterteilt der Autor zunäcsht in drei Phasen: die unmittelbare Nachkriegszeit, die er mit Blüte der Konkordanz zusammenfasst, die 70er und 80er Jahre, welche die etablierte Konkordanz herausgefordert haben, und die Jahrtausendwende, in der die schweizerische Konkordanz entwertet worden sei. Vertieft beschäftigen muss man sich also nur mit der letzten Phase.

Den generellen Befund gilt es allerdings hinsichtlich der vier eingeführten Konfliktlinien zu differenzieren:

. Bezogen auf den Religionsfrieden in der Schweiz sieht Bolliger die Konkordanz weiterhin wirken. Die Parteien sind weiterhin in den Konfessionsgruppen verankert, und sie suchen in konfessionellen Fragen das Einvernehmen untereinander.
. Wechselhaft ist die Konkordanz in Sprachfragen geworden. Das hat weniger mit dem Verhalten der Parteien untereinander zu tun, als mit den Aufleben der Sprachgegensätze unter den Stimmberechtigten vor allem angesichts der aussenpolitischen Oeffnung.
. Verringert hat sich die Konkordanz bei den Klassenfragen. Hier ist man zu einem offenen Parteienwettbewerb übergegangen, bei dem man sich auf Eliteebene konkurrenziert, ohne dass in der stimmenden Bevölkerung ein vergleichbarer Konflikt festzustellen sei.
. Wenn das alles die Krisenbefunde der Konkordanz relativiert, so sieht Bolliger diese bei den Stadt/Land-Gegensätzen generell aufgebrochen: Sowohl die Elitekooperation sei um die Jahrtausend-Wende verschwunden, als auch die Bevölkerung in den Zentren und ihren Peripherien würden in unterschiedliche Richtungen tendieren. Das ist denn auch die eigentliche Herausforderung unserer Zeit.

Das alles führt den Autor zu vier Folgerungen für die gegenwärtige Situation:

. Erstens, die innere Geschlossenheit der Parteien bleibt, trotz selbständigen Kantonalparteien und ausdifferenzierten Verbänden, relativ hoch und konstant.
. Zweitens, die Bindungen der Parteien in der stimmberechtigten Bevölkerung sind aber schwach, sie ist aber teilweise im Wandel begriffen.
. Drittens, die gesellschaftlichen Konfliktlinien ihrerseits bestehen oder brechen auf, vor allem in räumlicher Hinsicht bei der Sprache und bei der Siedlungsart.
. Viertens, die Konkordanz ist angesichts dieser Verhältnisse in ihrer Praxis erheblich erschüttert.


Die Würdigung

Vieles von dem, was Christian Bolliger in seiner Doktorarbeit berichtet, dürfte Zustimmung finden. Sein Ansatz ist weitgehend deskriptiv, und seine Beschreibung treffen wohl zu. Allerdings neigt der Autor zu erheblichen Schematisierungen, die im Zeitverlauf, auf Ebene der einzelnen Parteien und bezogen auf die untersuchten Volksabstimmungen differenzierter hätten ausfallen können.

Die eigentliche Leistung der Disseration ist aber, eine Ordnung in die Begriffe der Konkordanzpraxis gebracht zu haben. Diese ist, so darf man folgern, nicht zwangsläufig eine theoretische Grösse, die aus der Gesellschaft, ihren zurückliegenden Konflikten, deren Verabreitungen in institutionellen Regelung entsteht. Vielmehr ist eine gewisse Bandbreiten an verschiedenen Praxen möglich, wie die Akteurskonstellationen zeigen: Wirksame Konkordanz in Konfessionsfrage steht eine offenen Wettbewerb bei Wirtschaftsinteressen gegenüber, brüchige Konkordanz in der Sprachenfrage koexistiert tiefen Konfliktlinien bei den Stadt/Land-Gegensatzen. Die einfache Schematisierung zwischen geeinter und gespaltener Gesellschaft, die Konkordanzdemokratie erfordert oder Wettbewerbsdemokratie zulässt, ist damit aufgehoben.

Die politische Praxis, die sich seit dem 12. Dezember 2007 stellt, erhellt die Studie von Christian Bolliger damit noch nicht. Der wissenschaftliche Praxis zur Konkordanzpraxis , die seit den Arbeiten von Neidhard und Lijphard zementiert erschien, erweitert die Arbeit um eine willkommene Innovation.

Claude Longchamp

Das generelle Forschungsprojekt
Christian Bolliger: Konkordanz und Konfliktlinien in der Schweiz 1945 bis 2003, Diss. Bern 2007
Die Buchreihe

“Public Affairs” – ein Begriff ist im Kommen

(zoon politicon) “Public Affairs” ist als Begriff schwer im Kommen. Als 1998 das damalige Standartwerk “Politische Kommunikation in der demokratischen Gesellschaft” erschien, beschäftigte man sich noch kaum damit. Heute vergeht kein Tag, ohne dass ich mich mit irgend einem Aspekt der Public Affairs konfrontiert sehe.

Symbol der werdenden europäischen Oeffentlichkeit: das European Center of Public Affairs in Brüssel (ECPA)
Das Symbol der werdenen europäischen Oeffentlichkeit: das European Center for Public Affairs (ECPA) in Brüssel

Die enge Definition: Oeffentlichkeitsarbeit von Profit-Organisationen
Folgt man Peter Köppl, der an der Universität Wien als Lehrbeauftragter für Oeffentlichkeitsarbeit ist und Partner in einer renommierten PA-Agentur wirkt, hat in seinem Buch “Power Lobbying” Public Affairs, kurz “PA”, eine eindeutige Aufgabe:

Es ist die Beeinflussung von Regierungen und öffentlicher Meinung, soweit sie als Vertreter der Gesellschaft in oder gegenüber der Politik ein Klima erzeugen, das die Ziele eines Unternehmens tangiert.

PA wächst nach Köppl aus dem politischen Lobbying, dem Versuch der direkten Beeinflussung von politischen Entscheidungen heraus, und kann als indirekte Beeinflussung der Entscheidung durch Oeffentlichkeitsarbeit verstanden werden. PA ist also eine Erweiterung des Lobbying, das sich in PA einerseits und Government Relations (GR) auflöst.

Bezogen auf Firmen ist PA für die Interpretation des Unternehmensumfeldes nach Innen, aber auch für dessen Steuerung nach Aussen zuständig, die professionell nach den Prinzipien des betriebswirtschaftlichen und marktingmässigen Managements betrieben wird.

PA ist damit ein Teil der Unternehmensführung selber. Anders als das Lobbying, das personen-, allenfalls institutionenzentriert ist, sich an politischen Abläufen orientiert, ist PA auf die Oeffentliche Meinung gerichtet, gelegentlich gezielt, meist aber umfassend ausgerichtet, und funktioniert interaktiver: Das Ziel ist gegeben, der Weg hierzu ist jedoch vielfältig und definiert sich aus den Arenen, inden denen gesellschaftliche oder politische Diskussion stattfinden, die für das Unternehmen relevant werden können.

Die weite Definition: Politikmanagement von nichtstaatlichen Organisationen
Ueberblickt man die gegenwärtige Literatur zu Public Affairs ist das Begriffsverständnis von Peter Köppl jedoch nur eines der gängigen im deutschsprachigen Raum. Zu den Eigenheiten der Definitionen zählt nämlich, dass sie PA auf eine Tätigkeit von Firmen beschränkt. Das scheint mir für die Praxis zu eng zu sein; Tätigkeiten, die zur PA zählen finden sich nämlich auch in ganzen anderen Organisationen, namentlich in zahlreichen Non-Profit-Organisationen: Verbände gehören dazu, die firmenübergeordnete Interessen organisieren, aber auch solche, die nicht aus der Privatwirtschaft selber abgeleitet werden können. So zeigen heute Spitäler, Universitäten und Verwaltungen sehr wohl Trendenzen, die in Richtung PA verweisen.

Marco Althaus, Politologe, vormals SPD-naher Wahlkämpfer, dann in der Oeffentlichkeitsarbeit Niedersachsens resp. eines Interessenverbandes tätig, heute Akademischer Direktor des Deutschen Instituts für Public Affairs in Berlin, gibt denn auch in dem von ihm mitherausgegebenen “Handlexikon Public Affairs” eine allgemeinere Umschreibung von PA.

Den Anstoss sieht er in Veränderungen politische Kampagnen, der sich nun auf alle Formen der Oeffentlichkeitsarbeit auszuwirken beginnt. In der Definition von Althaus ist PA heute das strategische Management von Entscheidungsprozessen an der Schnittstelle zwischen Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. PA organisiert die externen Beziehungen von Organisationen, vor allem jene zu Regierungen, Parlamenten und Behörden. Das gilt für alle Ebenen der politischen Entscheidfindung. So verstandene PA ist über dem klassischen Lobbying. Es ist die direkte Interessenvertretung, aber auch auch die Beeinflussung der Oeffentlichen Meinung.

Althaus erhebt den Begriff des Politikmanagements zum Definitionskriterium von PA schlechthin. Da PA ohne Politikmanagement nicht funktioniert, muss es in der Grundlegung berücksichtigt werden. Organisation und Kommunikation sind die beiden, gleich starken Säulen der PA in der Demokratie, hält er im wegweisenden Artikel innerhalb seines Handbuches fest.

Die Verortung für die Schweiz
Damit trifft er ein Verständnis von PA, das auch in der Schweiz zunehmen Verbreitung findet. So streicht auch Fredy Müller, der derzeitige Präsident der Schweizerischen PR Gesellschaft, den Mangel des Politikmanagements im politischen System der Schweiz heraus und macht genau das zu einer zentralen Aufgabe aller Organisationen, die mitter Public Affairs effektiv auf politische Entscheidungen direkt oder indirekt Einfluss nehmen wollen.

Claude Longchamp

Links:
Meine Einführung in die PA an der HWZ
Die Ausführungen von Fredy Müller zum Politikmanagement in der Schweiz

PS:
Der oben zitierte Oesterreicher Peter Köppl ist nicht zu verwechseln mit dem Schweizer Peter Köppel, ebenfalls Kommunikationsfachmann, der unter anderem PA-Mandate für die Wissenschaft wahrnimmt.