Machen Gefühle Geschichte?

“Im Wahlkampf muss man den Gefühlen Platz geben”, sagte Ueli Maurer vor den Wahlen 2007 – und gewann die Schlacht ums Parlament. 2011 hat das beispielhaft auf die FDP abgefärbt. “Aus Liebe zur Schweiz”, heisst es auf den Plakaten der Partei, die bisher betont sachlich auftrat. Eine Diagnose, was heute ist, und eine Kritik, was daran gut und weniger gut ist, anhand des neuesten Buches von Luc Ciompi und Elke Endert.

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Luc Ciompi, emeritierter Professor, einst medizinischer Direktor der sozialpsychiatrischen Universitätsklinik von Bern, und Vater der “Affektlogik” hat gemeinsam mit der Philosophin Elke Endert ein Buch über die Wirkungen kollektiver Emotionen verfasst, das dieser Tage unter dem Titel “Gefühle machen Geschichte” erschienen ist. Behandelt werden darin sowohl die Theorie wie auch die Praxis der Emotionen in der Politik, beispielhaft vorgeführt an Hilters Nastionalsozialismus, am Israel-Plästina-Konflikt, am Verhältnis des Westens zum Islam und an modernen Wahlkämpfen wie dem von Barack Obama. Nützlich ist das Buch, weil es sowohl wissenschaftlichen Grundlagen legt, wie auch philosophische Fragen stellt, was sich heute ändert.

“Ein Affekt”, liest man da, “ist ein evolutionär (=stammesgeschichtlich) verankerter ganzheitlicher körperlich.seelischer Zustand von unterschiedlicher Qualität, Dauer und Bewusstseinsnähe.” Was recht allgemein tönt, wird in der Folge systematisch entwickelt: Gefühle sind Energien, die, genauso wie die Informationsverarbeitung, unser Denken steuern. Was individuell unbetritten gilt, kann, so die Ueberzeugung der AutorInnen, auch auf Kollektive übertragen werden. So können kollektive Scham-, Schuld- und Demütigungsgefühle können soziale Explosionen auslösen.

Sieben Thesen sind dem Psychiater unser Gesellschaft wichtig:

1. Fühlen und Denken wirken ständig und zwingend zusammen.
2. Emotionen sind gerichtete Energien. Kollektive gleichgerichtete Energie führen zu mächtigen Massenwirkungen.
3. Emotionen üben vielfältige Schalt- und Filterwirkungen auf die kollektive Aufmerksamkeit, das kollektive Gedächtnis und das kollektive Denken aus.
4. Je nach Leitgefühl können im Alltag kollektive Angst-, Wut-, Freude. oder Trauerlogiken entstehen.
5. Mit der Zeit bilden sich umfassende gruppen- und kulturspezifische affektiv-kognitive Eigenwelten heraus, die sich als Mentalitäten oder Ideologien laufend selber bestätigen und konsolidieren
6. Kollektive Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster können sich bei steigenden systeminternen Spannungen sprunghaft verändern.
7. Die hier beschriebenen Wechselwirkungen laufen auf der Mikro- wie Makro-Ebene prinzipiell gleichartig ab.

Das Buch ist ein Plädoyer für eine neues Menschenbild – dem homo sapiens emotionalis. Ciompi und Endert sehen diesen nicht als Folge gesellschaftlicher Aenderungen, wie man das in den Sozialwissenschaften kennt. Vielmehr ist der neue Mensch das fortschreitende Produkt der Evolution, mit unabänderlichen Plus- und Minuspunkten.

Wie tief sich die öffentliche Meinung heute verändert habe, zeigten die emotionsbasierten Verkaufs-, Kommunikations- und Wahlkampfstrategien, die heute grosse Firmen, Generalstäbe und politische Gremien systematisch anwenden, bekommt man im zentralen Kapitel des Buch mit auf den Weg. Und weiter: Soziale Systeme funktionierten nicht rational, sondern systemrational, und das kollektive Denken und Handeln sei nicht logisch, sondern affektlogisch. Das mache Kollektive anfällig für Extremisten, die eine Art letzter Reserve darstellten, zu denen die Gemeinschaft in der Not wie nach einem rettenden Strohhalm greife.

Darin sieht der Mediziner gar eine Schwäche der Demokratie: Namentlich in Krisenzeiten seien Kollektivitäten emotional leicht beeinfluss- und verführbar, weshalb sich Fundamentalismus und Demokratie nicht ausschliessen würden, und demokratische Entscheidungen von kurz- statt langfrisitigen Ueberlegungen geprägt seien

Der 82jährige geistige Vater des Buches verfällt am Ende in Kulturpessimismus. Er sei überzeugt, dass wir im Zeitalter der Entfesselung lebten, schreibt er, das Janusköpfig sei: “Die Kehrseite der Befreigung des Denkens aus den Fesseln von Kirche und Tradition ist eine überhand nehmende ethisch-moralische Verunsicherung und Orientierungslosigkeit.” Da erschrickt er schon fast selber, sodass eine Nachbetrachtung über den untrügerischen menschlichen Sinn für das Schöne nachschiebt – als stimmiges Gleichgewicht zwischen Fühlen und Denken, oder präziser ausgedrückt, “zwischen emotionaler Energie und kognitiver Kanalisierung”.

Was man den AutorInnen lassen soll: Sie nehmen sich einem gigantischen Trend der Gegenwart an, und sie machen Vorschläge, wie man als WissenschafterInnen damit umgehen kann. Doch überzeichnen sie meines Erachtens die Logik des individuellen Handels, wenn sie es eins zu eins auf das der Kollektive übertragen. So werde ich mit dem Buch unter dem Arm dieses Jahr die Wahlen, den Wahlkampf, die Krisen, die kollektiven Gefühle, die entstehenden Verunsicherung, die Hoffnungen im Extremen und die Auswirkungen auf das Ergebnis zu beobachten versuchen – wenn auch eher analytisch als diagnostisch.

Aus Liebe zur Politik, deren Entwicklungen mir definitiv nicht gleichgültig sind. Psychiatrisieren werde ich die Politik aber nicht, denn das zeugt immer auch von einem gewissen persönlichen Unverständnis – was wir als WisenschafterInnen gerade übrwinden wollen.

Claude Longchamp

Liebe Fachfrau für Kommunikation.

Nach deinem Insistieren in Sachen Sinus-Milieus versuche ich es nochmals. Beispielhaft, um das Abstrakte einzubetten, und direkt, um auf deine brennenden Fragen einzugehen. Lass uns schweben, von deinen Reiseplänen, über das Transfigurative in der Gesellschaft bis hin zur Pragmatik von Milieustudien.

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Wem streng empirische Studie zu abstrakt sind, wenn es um die (nahe) Zukunft geht, der (oder die!) wird bei Matthias Horx wohl fündiger, denn er beschreibt konkret, wie Wandel, auch soziokultureller menschengemacht vorkommt.

Das Einfache der eigenen Biografie
Beginnen wir mit einem Gedankenspiel. Wohin gehst du in die Ferien? War das immer so? Was hat sich geändert, seit du Studentin der Biochemie wurdest? – Ich nehme an: viel. Denn die Ferienwahl ist ein Teil der biografischen Entwicklung, auf der Suche nach Identität, in Verbindung mit der Berufskarriere, und stark abhängig von der familiäre Situation. PsychologInnen würden sagen, Ferienwahl hat etwas mit dem Lebenszyklus zu tun, indem man steckt.

Du siehst, individuell kann sich viel ändern. Aendert sich deshalb auch gesellschaftlich etwas? Nicht zwingend, ist die Antwort der Demografen. Denn wenn eine Gesellschaft gleich komponiert bleibt, ersetzen neue Individuen alte, doch die Gesellschaft als Kollektiv bleibt sich gleich. Denk an einen Ameisenhaufen, der immer gleich aussieht, auch wenn einzelne Viecher sterben oder geboren werden.

In westlichen Gesellschaften ist das aber nicht so. Die Alterspyramide ist in erheblicher Veränderung begriffen. Es stehen immer mehr ältere Menschen immer weniger jüngeren Gegenüber. faktisch bekommen wir eine Alterskerze. Unser Gedankenspiel in der heutigen Gesellschaft bedeutet deshalb: die Themen im Lebenszyklus, die einem höheren Alter verbunden sind, werden zahlreicher, jene der jüngeren werden verringert. Gesamtgesellschaft ändert sich etwas.

Das Komplizierte der Generationen
Faktisch ist alles aber noch komplizierter. Denn die neuen Jungen finden auch andere Lebensbedingungen vor als ihre Vorgänger-Jungen: Es ist kein Krieg mehr, der Konsum aus Prestigegründen ist gesättigt und die Rebellion der 68er ist vorbei. Dafür spricht man von Individualisierung, von Multioption, von Genuss, von Flexibilität, von Unsicherheit, kurz von einer Hybridkultur, mit der man zu Rande kommen müsse. Das alles prägt(e) ganze Generationen. Diese definieren sich daraus, dass sie neue Antworten auf neue Fragen geben. Sie grenzen sich damit von den vorhergehenden Generationen ab. Generationen entstehen nicht jedes Jahr neu, auch wenn das Marketing das so sieht. Vielmehr gibt es zyklisch neue Generationen, die man teilweise erst im Rückblick wirklich unterscheiden kann.

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Treiber des soziokulturellen Wandels in der transfiguralen Gesellschaftskonstellation (Quelle: Horx: Wandel)

Was wir nun haben, müssen wir noch interkulturell differenzieren. Margaret Mead, die grosse amerikanische Anthropologin des 20. Jahrhunderts untersuchte in ihrer Schrift “Der Konflikt der Generationen” verschiedenste Kulturen dieser Welt. Sie kam zum Schluss, dass es drei typische Konstellationen gibt im Verhältnis von Kindern und Eltern:

. die postfigurative Konstellation, die sich an der Vergangenheit orientiert, in der die Eltern ihre Werte auf ihre Kinder übertragen konnen, die wenig flexibel ist und in der Generationeneffekte kaum identifiziert werden können,
. die konfigurative Konstellation, die sich an der Gegenwart ausrichtet, wo die Kinder nicht einfach die Eltern nachahmen, sondern sich an den Antworten der Gleichaltrigen ausrichten, die deshalb flexibler sind, und in denen eigentliche Generationen von Kindern, Jugendlichen und Eltern ersichtlich werden.
. und die präfigurative Konstellation, die auf die Zukunft gerichtet ist, weil die Kindern den Wandel schneller aufnehmen als ihre Eltern, diese fordern und lehren. Solche Gesellschaften sind nicht nur flexibel, der soziale Wandel wird durch die Jugend vorangetrieben.

Machen wir auch hier ein Beispiel: Wählst du gleich wie Deine Eltern? In einer durchunddurch postfigurativen Kultur würden hier alle mit “Ja” Antworten. Das ist heute bei den konfessionell gebundenen Parteien, der CVP und EVP auch noch überwiegend der Fall. Bei allen anderen kommt es nur noch minderheitlich vor. Weil es Generationenbrüche gibt, mit denen man, aus einem FDP-Haushalt stammend, nun SP wählt, oder weil man genug hat von der CVP, welche die Schweizer nicht genug hochhält und nun bei der Jungen SVP ist. Das ist typisch für die konfigurative Konstellation. Die Diskussionen unter Gleichaltrigen übertreffen die Wirkungen des familiären Mittagstisches.

Das Komplexe an der Zukunftsgesellschaft

Anhand der neuen Medien kann man sogar noch weiter gehen. Die Kids der etablierten Manager sagen ihrem Vater, wenn seine Firma nicht bald twittert, auf facebook ist, dann werde sich von der eigenen Geschichte eingeholt werden. Denn dann würden sie, die Kids, in den social media über die Firma berichten. Das ist typisch präfigurativ.

Vielleicht wird daraus sogar mehr: Der Zukunftsforscher Matthias Horx (“Das Buch des Wandels”) hat die bisher höchste Komplexität der Analyse angetönt: Bis 1968 waren Gesellschaften wie die schweizerische postfigurativ, wurden dann konfigurativ, und entwickeln sich heute zum präfigurativen. Für die Zukunft sieht er eine transfigurative Konstellation aufkommen, in der sowohl die Medien wie auch der Wächterrat von Bedeutung sein werden:

. die Medien mit ihren Vorbildern (Roger Federer, Paris Hilton oder Christoph Blocher), die Grundorientierung von leistungsorientierten, erfolgsverwöhnten Sportlern, von Tussis, die keinem sexuellen Experiment abgeneigt sind, aber auch von nationalkonservativen Patriarchen, für die Wirtschaft wie Politik Status ist, in die ganze Gesellschaft transportieren und Milieus tendenziell auf (denn wir alle werden ein wenig hybride Gesellschafts- und PolitikkonsumentInnen) auflösen,

. sodass es soziokulturelle Wächterräte braucht, die über die Familien hinweg für ordnende Leitbilder in der Mediengesellschaft sorgen: die Eliteschulen wie die HSG für angehenden Leader, das Opus Dei, um die katholische Kirche vor dem Zerfall zu retten, und die SVP, die abschliessend definiert, wer eine guter Schweizer ist und wer nicht. Damit sind sie in der Definition des soziokulturellen Wandels erheblich, beeinflussen bisherige Milieus oder lassen auch neue entstehen!

Das Pragmatische von Milieustudien

Die Milieu-Studien der Socio Vision, über die wir uns ja unterhalten haben, sind ein Kombi von dem. Sie beobachten Menschen in ihrem Lebenszyklus. Sie beschreiben aber auch den kulturellen Wandel ganzer Gesellschaften. Dabei interessieren sie sich für drei Sachen: die Schichten, die sich ändern (aufgrund von Ausbildung, Alterung und Migration), und die Grundhaltungen, die sich beschreiben lassen. Jede(r) von uns hat da seine Position, idealtypisch mitten in einem Milieu, oder als Mischgruppen am Rande von Milieus. Die Zuordnung kann sich im Verlaufe eines Lebens ändern, muss sich aber nicht. Aenderungen sind bei hoher Mobilität, räumlich oder sozial zu erwarten: So beginnt man beispielsweise als Eskapist, wird zum Postmateriellen und endet bei den Arrivierten. Es ändern sich aber auch Milieus. In Deutschland, weil die DDR mit ihrer Milieu-bildenden Kraft der Geschichte angehört, in der Schweiz, weil die Arbeiterschicht nicht einfach mehr arm und links ist, sondern sich konsumorientiert an der Mittelschicht ausrichtet und politisch national denkt.

Der Vorteil von Milieustudien, wie sie hier diskutiert wurden, liegt darin, dass sie komplex genug sind, um der sozialen Realität einigermassen gerecht zu werden, aber auch nicht überkomplex sind, sodass sie zu keinerlei Anwendung führen. Es sind Forschungsprojekte, für die Praxis gedacht, also für dich, nicht für die Grundlagenforschung. Die ist zwar auch am Thema dran, neigt aber dazu, zu stark zu verallgemeinern. Wenn du dich selber überzeugen willst, lies das Buch von Gerhard Schultze, “Die Erlebnisgesellschaft”, der sich mit den gleichen Phänomenen beschäftigte, wohl aber weniger konkrete Angaben machen konnte.

So, ich hoffe, du verstehst mich jetzt besser.

Claude Longchamp

Made to stick!

Ich war an einem Seminar über Erscheinungsbilder von Unternehmen in der Oeffentlickeit. Der CEO einer europäischen PR-Gruppe referierte über wirksame und unwirksame Kommunikation von Firmen. Mit Vorliebe verwies er auf einen Bestseller, der ihn beeindruckt hatte: “Make to stick“, heisst er, verfasst von den Gebrüdern Chip und Dan Heath und in der amerikanischen Presse über allen Klee gelobt.

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Das Buch hat nicht nur Erfolg. Es baut förmlich auf SUCCES aus. Das ist nämlich die Kurzform das Grundverständnis wirksamer Kommunikation:

simple
unespected
concrete
credible
emotional

sollen Botschaften in der Oeffentlichkeit sein, und sie sollen

stories

erzählen. Abgekürzt ergeben die sechs Beinflussungsmöglichkeiten S-U-C-C-E-S, und sie garantieren Erfolg.

“Sticky” ist für die Autoren nicht einfach ein Wort für stechend, klebend oder haltend. Es ist ein Synonym für “understandable, memorable, and effektive in changing thought or behavior”.

Damit ist auch gesagt, um was es ihnen geht: Im täglichen Wirrwarr an Informationen, die uns gerade in der Oeffentlichkeit kommuniziert werden, sterben viele Ideen schon im zartesten Kindsalter. Nur wenige werden erwachsen, reifen und bleiben wirklich haften. Und das ist die Voraussetzung für nachweisliche Verhaltensänderungen oder wirksame Denkanstösse.

Dem allgemeinen Trend folgend könnte man meinen, dass sei dann der Fall, wenn man visuell kommunziert. Davon halten die beiden Heath nicht viel – und heben sich so von der breiten Erwartung schon mal. Sie beweisen es mit ihrem Buch selber: kein einziges Bild und keine Grafik hat es. Spärlich umgegangen wird einzig mit Kästchen zum Merken. Der überwiegende Rest ist Text.

Der allerdings ist gut aufgebaut: Schon das Inhaltsverzeichnis ist inhaltlich, verzichtet dafür auf das numerische. Zudem ist es konkret nicht abstrakt. Das baut dann Bilder auf, um was es geht, die einen beim Lesen begleiten. Die Texte selber sind vorbildlich einfach, voller Neuigkeiten, anschaulich, belegt, stimmig und persönlich – SUCCESfull eben. Abgerundet wird das Buch mit einer Art Stichwortverzeichnis, welches den Zielsetzung, die Thesen, die Belege und die Interpretation in Kürzestform wiederholt.

Autor Chip Heath ist Professor für Verhalten in Organisationen im kalifornischen Stanford, und Dan arbeitet als Berater am Aspen Institut. Zusammen ist den heathbrothers ein Wurf gelungen, der wissenschaftlich unterlegt, von Praxis erfüllt, mehr als nur eines der üblichen Rezeptbücher ist. Vielmehr handelt es sich bei ihrem Bestseller um eine eigentliche Kommunikationsphilosophie, die ausgebreitet und angewendet wird. MIr jedenfall ist das gut eingefahren. Denn auch unsere Untersuchungen zeigen seit langem, dass das an der politischen Kommunikation entscheidend ist, was an der Lebenswelt der BürgerInnen anknüpft, sodass es nachvollziehbar ist und in Erinnerung bleibt.

Das Buch selber ist jedoch nicht politisch. Es geht vom Alltagsgespräch bis zur Lernsituation in Gruppen. Witzig ist ihr Schluss zu “Unsticking an Idea”. Ist das überhaupt möglich?, fragen sich die beiden Heath’s – und geben die für sie typische Antwort: “Nein”. Was einmal haften geblieben ist, bleibt haften. Punkt. Es kann aber überklebt werden: “Fight sticky with stickier” ist ihre auch hier glasklare Mitteilung an die Leserschaft.

Lesen sollten dieses Buch alle, die verstehen wollen, was kommt und bleibt, und was vergeht, bevor es sticht. Was sticky ist, ist wichtig und gar nicht so wenig, wie Traumanalysen, Stimmungsberichte, Lebensgeschichte zeigen, selbst wenn das Referierte längst zurück liegt.

Also: Finde stets das Wichtige, und behandle es. Schaffe Aufmerksamkeit, und halte sie. Hilf deinen Gegenüber zu verstehen und zu erinnern. Stütze es mit deiner Person in seiner Ueberzeugung. Nutze die Kraft der Assoziationen, indem du dich auf Identitäten beziehst. Zeige deinen Ansprechpartner, wie sie handeln können – und gib ihnen die Kraft dazu!

Oder ganz einfach: “Use what sticks.”

Claude Longchamp

Ein 8 Milliarden Dollar Geschäft war wichtiger als der Tod bin Ladens

22 Jahre arbeitete Michael Scheuer für die CIA. 2004 verliess er seinen Posten bei der Einheit, die Osama bin Laden jagte, um anonym kritische Bücher zur Anti-Terror-Politik der USA zu schreiben. Heute ist er Professor an der Gerogetown-Universität in Washington, bloggt und publiziert er unter seinem Namen Bücher in renommierten Verlagen – zuletzt: “Osama bin Laden. Oxford University Press, 2011”.

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“Bin Laden ist ein grosser Mann”, erzählt Scheuer dem heutigen Tages-Anzeiger. “Time Magazin” habe Hitler 1938 zum Mann des Jahres gewählt. Bin Laden hätte die Bezeichnung auch verdient, denn keiner habe den Alltag der AmerikanerInnen in den letzten 50 Jahren so verändert wie er.
Scheuer hat die meiste Zeit seines Lebens damit verbracht, bin Laden zu töten, zollt ihm aber Respekt. Er sei ein bescheidener Mensch, ein gescheiter Stratege – und eine ernsthaft religiöse Persönlichkeit, die dadurch Fehler begangen habe.
Sein Kampf galt den Ungläubigen, was für bin Laden ein Synonym für die amerikanischen Streitkräfte war. Insbesondere ihre Präsenz im Nahen Osten, die pro-israelische Politik und die Unterstützung für arabische Polizeiregimes durch die USA habe er aus der Welt schaffen wollen. Die USA wiederum negierten diese Dimensionen der Auseinandersetzung.

Die Aktion der Amerikaner in Pakistan umschreibt Scheuer so: “Wir haben den CEO eines Multis getötet. Er legte die Ziele fest, aber er war gescheit und modern genug, die Arbeit an die lokalen Manager zu delegieren.”
Scheuer ist überzeugt, bin Laden habe in seinem Sinne vernünftig gehandelt. Er geht davon aus, man werde ihn bald vermissen. Denn seine Nachfolger seinen blutdrünstiger. Er rechnet nun mit mehr Kleinanschlägen, insgesamt auch mit mehr Blutvergiessen.
Bin Laden habe seinerseits damit gerechnet, nicht zu überleben, analyisert der ehemalige Geheimdienstler. Deshalb habe er eine generationenübergreifende Organisation geschaffen. Bis 9/11 sei al-Qaida zu Operationen in Afghanistan fähig gewesen. Heute kämen mindestens Pakistan, Jemen, Irak, Somalia, Gaza hinzu.

Den Angriff auf bin Laden verteidigt Scheuer ausdrücklich. Ein Bombenangriff hätte viel mehr Schaden angerichtet, und bei einem Drohnenangriff wäre man der Leiche nicht Herr geworden. Die Kommandoaktion der Navy Seals sei deshalb richtig gewesen. Versagt hätten aber die Verantwortlichen bei der Präsentation von Beweisen. Die Unterhaltungsindustrie produziere täglich schlimmere Bilder als das Foto eine Kopfschusses.

Einen grössere Zusammenhang mit den Ereignissen in Nordafrika sieht Scheuer bei der Tötung bin Ladens nicht. Den entscheidenden Hinweis habe man erst kürzlich aus Befragungen Verdächtiger erhalten. Das sei eine übliche Quelle, die nicht mit bestimmten Methoder des Verhörs, aber mit der Zahl der Untersuchungen sprudle. Der Rest sei ein Puzzlespiel.

Es sei jedoch nicht die erste Möglichkeit gewesen, bin Laden auszuschalten. Zwischen Mai 1998 und Mai 1999 habe man mehrere Möglichkeiten gehabt, ihn gefangen zu nehmen oder ihn zu töten. Den Feuerbefehl dazu habe Präsident Clinton jedoch verweigert. Unter anderem seien ökonomische Gründe massgeblich gewesen, habe man doch Gesprächspartner bin Ladens Kriegsmaterial verkauft. Ein 8-Milliarden-US-Dollar-Geschäft sei der amerikanischen Regierung damals wichtiger gewesen.

Wenn man das so liesst, staunt man nur. Zuerst über den Kontrast zwischen dem emotionsgeladenen Jubel auf den Strassen und der kühlen Analyse des Professors. Dann auch über die Konzentration auf Machtfragen, fernab vom viel beschworenen Kulturkonflikt. Schliesslich über die Metaphern aus der Wirtschaftssprache, in der es nur um den Tausch selbst zwischen dem Guten und Bösen zu gehen scheint. Das alles macht Scheuer zum Machiavelli unserer Zeit.

Claude Longchamp

Wahlversprechen dieser und jener Art

Dieser Artikel dürfte “rehcolb”, einer meiner treuen Leser und Kommentatoren, ansprechen: Denn er beschäftigt sich mit einer Untersuchung zu Wahlversprechen und -verhalten unserer NationalrätInnen. Ich hoffe, er regt auch zum Nachdenken an. Denn es ist alles ist komplizierter, als man auf Anhieb denkt.

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Erinnern Sie sich noch an Christian Lüscher, dem FDP-Kandidaten bei den Bundesratswahlen 2009? Die Medien eroberte der liberale Sunnyboy im Sturmlauf: souveräner Auftritt, galantes Aeusseres und gewinnender Humor empfahlen ihn schnell einmal für das höchste Amt im Bundesstaat.

“Weit gefehlt!”, kommt die junge Berner Politikwissenschafterin Lisa Schädel in ihrem Bericht “Ist vor der Wahl auch nach der Wahl?” zum Schluss. Denn sie zählte nach, wer was versprach, und wer wie stimmte. Und bei keinem/keiner anderem/r PolitikerIn unter der Bundeskuppel fand so viel Positions-Inkongruenz wie bei Lüscher.

2003 resp. 2007 wurden die KandidatInnen für den Nationalrat gebeten, vor der Wahl den Fragebogen von smartvote auszufüllen und sich damit in aktuellen Streitfrage zu positionieren. In 34 Fällen stimmten die Gewählten danach über das ab, was gefragt wurde, was den Vergleich vor und nach der Wahl erlaubt.

Ergebnis: 86 Prozent der Entscheidungen stimmen überein!

Allerdings: Bei 14 Prozent der Getesteten gibt es eine vollständige Uebereinstimmung, bei einem Zehntel weichen mindestens 3 von 10 Entscheidungen ab. ParlamentarierInen ist eben nicht ParlamentarierIn!

Hat das mit einem schlechten Charakter einiger PolitikerInnen zu tun? Ausschliessen kann man das nicht. Die Untersuchung verweist auf tieferliegende Ursachen für Positionsinkongruenz:

Erstens: Probleme der Neulinge.
Zweitens: Problem Fraktionsdruck
Drittens: Problem Zentrumsposition.

Wer neu ist, muss sich einarbeiten, was zur Meinungsbildung beträgt und auch andere Einsichten aufkommen lässt. Wer mit seinen Positionen mit der Fraktionsmehrheit übereinstimmt, hat es einfacher. Wer nicht, kommt zunehmend unter Druck. Und wer im Zentrum politisiert, muss sich heute bewegen, um zu gewinnen!

So erstaunt es nicht, dass die SP-ParlamentarierInnen zu 94 Prozent positionskongruent stimmen, die Grünen zu 92 Prozent – beides überdurchschnittlicher Werte. Positiv gemüntzt heisst das, die linken ParlamentarierInnen halten ihre individuellen Wahlversprechen. Negativ ausgedrückt, stimmt das mit der höchsten Verliererrate im Nationalrat überein. Bei der SVP bewegt sich beides im Mittel. Ihren smartvote-Positionen am untreuesten sind die CVP- (74% Uebereinstimmung) und FDP-NationalrätInnen (81%). Dafür kommt es auf sie am meisten an, was im Parlament durchgeht – und was nicht.

Die Ergebnisse sind typisch für den Charakter – nicht der PolitikerInnen, jedoch der heutigen politischen Situation. Ohne Polarisierung repräsentierten die 4 Regierungsparteien mindestens drei Viertel der VolksvertreterInnen. Da mochte es individuelle Abweichungen nicht leiden. Heute ist alles anders: Sammlungen der Regierungspartner ohne SVP oder bürgerliche Schulterschlüsse sind zur Regel geworden, und sie sind auf geschlossene Fraktionen angewiesen. Wer an den Polen politisiert und im entscheidenden Moment ausscheren kann, hat es da einfacher als PolitikerInnen, die mehrheitsfähige Positionen suchen.

Denn auch das ist eine Art Wahlversprechen – selbst wenn es schwieriger ist, das klar zu machen!

Claude Longchamp

Neues Lexikon zur Wahlforschung

Das Buch hat den seltsamsten Titel, den ich je gelesen habe: “Wahlforschung: Mehrheit, Mierscheid-Gesetz, Erfolgswert, Negatives Stimmengewicht bei Wahlen, Wahlbeteiligung, Nichtwähler, Arrow-Theorem”., heisst es. Der Grund ist ganz einfach, ist es doch ein Zusammenzug aller deutschsprachigen Wikipedia-Artikel zur Wahlforschung.

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Die Ansichten, gehen auseinander, ob man mit Wikipedia unterrichten soll oder nicht.

Die zahlreichen Skeptiker finden, das gehe überhaupt nicht. Die Qualität der Wikipedia-Artikel sei zu unterschiedlich, als dass man sich darauf verlassen solle. Sie zu verbessern, sei Sisyphus-Arbeit, denn nicht die Wissenden oder Gutmeinenden bestimmten ihre Inhalte, sondern die Unwissenden oder Schlechtmeinenden.

Die Optimisten verweisen gerne auf die Weisheit der Vielen: Sie sei offener für alles Mögliche, das neu sei. Und Informationen oder Standpunkte, die jenseits vom mainstream seien, würden durch die rege Nutzung von Wikipedia früher oder später neutralisiert. Der vereinfachte Sprachenvergleich erlaubt es zudem schnell, unsinnige Eigenheiten von Beiträgen zu erkennen.

Selber zähle ich mich zu den Realisten, die nüchtern feststellen, wie oft man selber auf Wikipedia ist, wenn am Computer schreibt und ein Thema behandelt, bei dem man selber nicht Spezialist ist. Das gilt für Studierenden in sehr vielen Bereichen, in die sie sich einarbeiten müssen. Ich bin auch deshalb Realist, weil ich, wo ich Fachmann bin, selber Artikel schreibe, bei denen es mich gar nicht stört, wenn sie übernommen werden.

Natürlich geht man einen Schritt weiter, wenn man aus online-Produkten Bücher macht. Wikipedia gibt es ja jetzt schon, um es im Büchergestell zu platzieren. Doch ist das wieder so unhandlich, dass man es nicht wirklich nutzt. Sonderdrucke, die man leicht einpacken oder auf einem Pult abstellen kann, können da durchaus von Vorteil sein.

Was sind die Stärken, was die Schwächen solcher Bücher? Zunächst sind die Kosten geringer. Sodann ist die Produktion einfacher. Schliesslich wird aus Bisherigem ein Mehrwert erzeugt. Was in einem Buch steht, kann verbindlicher zitiert werden, ist tendenziell auch glaubwürdiger. Last but not least, es gibt immer noch viele Leute, die lieber Geschriebenes auf Papier als auf dem Bildschirm lesen.

Das alles kehrt sich ins Negative, wo auch das Spontane und Flüchtige, das dem online-Medium eigen ist, in eine Buch übergeführt wird. Das beginnt bei Tippfehlern, setzt sich in mangelhaften Seitenumbrüchen fort, und es endet bei unvollständigen Quellenangaben. Auf Internet drückt man da schneller ein Auge zu, in Buchform ist das dann doch heikler.

Das Lesen des Büchleins “Wahlforschung” der Bucher Gruppe macht dennoch über weite Strecken Spass. Das beginnt damit, dass nicht nur das Standardwissen abgebildet wird. So würde man das Mierscheid-Gesetz in einem Fachlexikon nicht finden, denn es persifliert Prognoseverfahren – wenn auch auch auf eine unterhaltsame Art und Weise.

Das Buch ist durchaus informativ, 32 Einstiegsmöglichkeiten, die im Schnitt auf 4 A5 Seiten Relevantes präsentieren. Es hat einen nützlichen Index, mit Sach- und Personenregister, und es zitiert selektiv Fachliteratur, die bis etwa Ende 2009 erschienen ist und sich durchgesetzt hat.

Ich kann mit gut vorstellen, dass es als Nachschlagewerk für EinsteigerInnen dienen kann, seien es Studierende oder Medienschaffende, die nicht jedesmal, wenn sie auf etwas Unbekanntes stossen, das klar umfassendere und tiefgründigere Handbuch von Jürgen Falter konsultieren wollen, das Standard bleibt.

Claude Longchamp

PS:
Ein ähnlich konzipiertes Buch ist schon Mitte 2010 zum Thema “Meinungsforschung” erschienen.

Balsiger weiss Rat: neues Wahlkampf-Buch für die Schweiz

Wahlkampf – aber richtig“: Unter diesem Titel richtet sich der Berner Politik- und Medienwissenschafter, seit 20 Jahren als Journalist und PR-Berater im Politikumfeld tätig, an die erwarteten 2500 KandidatInnen bei den Nationalratswahlen 2011. Ein Handbuch sei es, preist er sein Werk an. Daran zweifle ich ein wenig, denn es ist anschaulich, aber unvollständig.

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Sieben Trends diagnostiziert PR-Mann Mark Balsiger in der Einleitung zum Buch, während der er den Umbruch der politischen Kommunikation hierzulande skizziert. Wahlkämpfe werden nationalisiert, sie finden permanent statt, Personalisierung und Emotionalisierung kennzeichnen sie, gleichzeitig werden sie inhaltsleerer, massenmedial inszeniert und entwickeln sich nur noch im Internet wirklich weiter. Was das heisst wie in angelsächsischer Tradition anhahnd sechs Fallstudien erfolgreicher Kampagnen präsentiert, um Legislativ- und Exekutivwahlkämpfe einzeln zu analysieren, Bestätigungs- von Neuwahlen zu unterscheiden und Wahlkampagnen von Männern und Frauen zu beschreiben. Mehrheitlich sind es Kampagnen, die Balsiger von aussen her untersucht, eine Minderheit hat er selber geführt.

Originell ist Blasigers Buchauftritt, wo der Politik- und Medienwissenschafter Theorie und Praxis zusammenführt, jedoch nicht einfach geschwätzig aus der Schule plaudert, wie das zahlreiche seiner Kollegen tun, sondern Synthesen wagt. Zum Beispiel die zum politmedialen Wandel in der Schweiz seit 2005: Er bilanziert, dass hergebrachte Milieuparteien mit Parteipresse definitiv zu Randerscheinungen verurteilt, aber auch traditionelle Volksparteien mit Forumszeitungen stark bedroht sind. Die Zukunft, propagiert er, gehöre der komplexen Wählerorganisation mit Parteien und nahestehenden Bewegungen, die ihre Botschaften in einem differenzierten System von Medien senden können und damit auch in Zukunft die gewünschten Zielgruppen erreichen wird. Genau darum führt Balsiger auch die vorläufigen wahlkampf-Erfahrungen mit neuen Medien auf, die sich zwischen Massenmedien und fragmentierte Teilöffentlichkeiten schieben.

Der wissenschaftlichen Kampagnenliteratur in der Schweiz voraus ist Blogger-Balsiger (www.wahlkampfblog.ch) auch mit seinen 26 Erfolgsfaktoren und Benchmark-Kampagnen. Ersteres ist zwar eine Rekapitulation seiner quantitativen Analyse von 2003. Zweiteres verdeutlicht, was mit Anker-, Engagement- und Verpackungsfaktoren gemeint ist, geben doch so unterschiedliche Politiker wie Lukas Reimann, Barbara Schmid-Federer, Nadine Masshardt, Christoph Stalder und Martin Wehrli konkret Auskunft, was sie unter neuer politischen Kommunikation verstehen resp. was sie machen, um in den Nationalrat zu gelangen, GrossrätInnen zu werden, oder in einer Stadtexekutive zu bleiben.

So lesenswert die Kampagnenporträts sind, so unvollständig ist ihre Auswahl. Autor Balsiger begründet die Präferenz damit, dass ihm die Wahlkämpfe besonders aufgefallen seien. Das ist zu subjektiv, um zu generalisierenden Schlüssen zu gelangen. Objektiverweise muss man dem entgegnen, dass ein Handbuch ohne Ständeratswahlkampf nicht geht, eine Uebersicht mit lokalen Bezügen ohne ein Romandie-Beispiel unvollständig ist, und Kampagnbeschreibungen ohne jene der grünen Basistrommler regierungslastig wirken. Und: So vorbildlich die Texte der Fallstudien strukturiert sind, so zufällig wirken die Illustrationen mit Tabellen da und Protokollauszügen dort. Versöhnlich stimmt einen der Anhang, der mit der vorbildlichen Systematik zu den Kantonen als wichtigste Wahlkreise in der Schweiz sauber dokumentiert wird – hinsichtlich der so unterschiedlich verbliebenen Parteienprofile, aber auch weiterer nützlicher Eckdaten.

Meinen Studierenden werde ich Balsigers Buch empfehlen. Weil es über alles gesehen ausgesprochen informativ ist. Weil es sich von A bis Z gut und schnell lesen lässt. Weil es solid geprüftes Praxiswissen aufbereitet. Und weil es, was selten genug ist, auf der Höhe der Schweizerzeit im unpolemischen Sinne ist.

Claude Longchamp

Sackgasse Bilaterale?

Als Institutsleiter erhalte ich regelmässig die “Unternehmerzeitung” auf meinen Bürotisch. Diesmal erregte sie meine Aufmerksamkeit schnell: Nicht nur, weil mein Mitglied des Verwaltungsrates auf dem Titelblatt war, auch wegen des Themas, denn das Blatt versucht, die Sommer-Debatte über die Vor- und Nachteile der verschiedenen EU-Optionen der Schweiz gerade für Unternehmer fortzusetzen.

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Der Herausgeber der Unternehmerzeitung, Remo Kuhn, macht schon im Editorial deutlich, was er will: Fakt sei, dass die EU keinem Land bessere Zugangsbedingungen zum gemeinsamen Markt bieten könne als den eigenen Mitgliedern; klar sei auch, dass die schweizerischen Unternehmen gleich lange Spiesse wie ihre Konkurrenten haben müssen. Wer darüber diskutieren wolle, werde jedoch verspottet, was der Herausgeber nicht als selbstbewussten Standpunkt taxiert, sondern als Ausdruck von Zukunftsängsten.

Katja, Gentinetta, 42, promovierte Philosophin mit einem Buch zum Verhältnis des globalen Wandels und der helvetischen politischen Kultur, löste im Juli die neue Europa-Debatteaus. Sie griff den EWR-Beitritt, die EU-Mitgliedschaft und eine weltweite Verbindung der Schweiz im Freihandel als Alternativen zu den Bilateralen auf. Im grossen Interview mit der UZ wird sie bezüglich der EU konkreter:

. Erstens, mit den Bilateralen habe sich die Schweiz einen massgeschneiderten Zugang zum EU-Binnenmarkt verschafft.
. Zweitens, wenn wir unsere Anliegen auf diesem Weg nicht mehr durchsetzen könnten, befürworte sie einen EWR-Beitritt der Schweiz.
. Drittens, ein EU-Beitritt unter Beibehaltung des Schweizer Frankens sei dann zu prüfen, wenn sich die Mitsprache im EWR als ungenügend erweise.

In der Analye der stellvertretenden Direktorin des liberalen Think Tanks “Avenir Suisse” hat sich die Lage verändert: Die EU sei seit der Griechenland-Krise unter Druck, werde ihre Integrationsbemühungen forcieren, was den Zugang der Schweiz zum Binnenmarkt erschwere. Zudem hat die Schweiz das Bankgeheimnis nach Aussen aufgegeben; damit sei der Hauptgrund gefallen, im Dienstleistungsbereich nur sektorielle Abkommen abzuschliessen.

Bei einem generellen Dienstleistungsabkommen mit der EU ortet sie ein grosses Marktpotenzial. Der Versicherungsverband habe sich bereits für einen vollen Marktzugang ausgesprochen, und die Banken würden das schrittweise nachvollziehen. Im KMU-Bereich stelle man hingegen weniger Veränderungen fest.

Den EWR sieht Gentinetta nicht als Auslaufmodell. Die EU habe keine solche Absichten, Norwegen als stärkstes Mitglied denke auch nicht über einen Austritt nach, und Nachbar Liechtenstein habe seit 1992 Erfahrungen gesammelt, welche die Auswirkungen auf die Schweiz abschätzen liessen. Gewinner dürften mit den Preissenkungen die KonsumentInnen sein, wohl aber auch die ProduzentInnen. So würde das Cassis-de-Dijon-Prinzip, das die Schweiz einseitig zugunsten der EU eingeführt habe, bei einem EWR-Beitritt auch in die umgekehrte Richtung gelten. Wenn ein EU-Beitritt zur Debatte stehen sollte, empfiehlt Gentinetta, auf den Schweizer Franken nicht zu verzichten. Gemäss Lissaboner Vertrag sei das für neue Mitglieder zwar nicht möglich, doch lasse die EU bei einem Nettozahler wohl auch politische Lösungen zu.

Den grössten Vorteil des EWR-Beitritts im Vergleich zum EU-Beitritt ortet die politische Analystin im Steuerbereich. Beim EWR sei die Einführung der Mehrwertsteuer nach EU-Prinzipien nicht nötig, womit das Steuersystem der Schweiz nicht grundlegend geändert werden müsse. Was den Steuerstreit und das Bankgeheimnis betrifft, redet sie einer raschen Lösung das Wort – und zwar ganz unabhängig davon, welchen Weg die Schweiz in Sachen EU-Verhältnis anstrebe.

Als Hauptproblem in der Schweiz sieht Gentinetta die Angst vor Souveränitätsverlust. Souveränität sei nicht identisch mit nationaler Autonomie, denn heute zeige sich der Souverän nicht nur in der Selbstbestimmung, sondern auch in der Stärke, die man dort habe, wo die Regeln der Zusammenarbeit festgelegt würden. Das sei anders als im eingeübten Denken des Alleingang vorgestellt klar die internationale Ebene. Der autonome Nachvollzug, der nach dem Nein zum EWR dominierend geworden sei, bringe mit jedem Schritt einen Souveränitätsverlust.

Man weiss es: Die von Avenir Suisse angestossene Europa-Debatte löste kontroverse Reaktionen aus. Economiesuisse bevorzugt unverändert den bilateralen Weg. Der Bundesrat ist da gleicher Meinung wie der Dachverband der Schweizer Wirtschaft. Von einer “Sackgasse Bilaterale” mag die offizielle Schweiz nicht sprechen. Dass wird man auch bei den ZukunftsschweizerInnen nicht überhört haben. Das gleich sehen zu müssen, ist indessen nicht die Aufgabe einer Denkfabrik. Avenir Suisse hat sich einen Namen gemacht, über Herausforderungen beispielsweise im Föderalismus oder in der Raumplanung grundsätzlich nachzudenken. Und hat damit auch gepunktet: Genau das tut der Think Tank meines Erachtens zurecht auch in der Europa-Politik. Denn hier hat die EU Ende 2008 umissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass die bilateralen Abkommen mit der Schweiz zunehmend als aufwendig empfunden würden. Das wäre bei einer EWR-Mitgliedschaft der Schweiz nicht der Fall. Doch das hat mit der Schweizer Oeffentlichkeit bisher kaum wahrgenommen, und sie scheut sich, damit auseinander zu setzen.

Claude Longchamp

Schweiz, Oesterreich, Deutschland: politische Kulturen im Forschungsvergleich

Es hat gedauert, bis der Band wirklich erschienen ist. Doch liegt mit dem Buch „Deutschland, Oesterreich und die Schweiz im neuen Europa“ nun ein umfangreicher Sammelband vor, der in der ländervergleichenden politischen Kulturforschung mittels Umfragen neue Massstäbe setzt.

9783832949945

Oscar Gabriel, Politikprofessor in Stuttgart, hat die Einleitung zu „Citizen Politics“ als wissenschaftliches Konzept verfasst, in der es ihm um eine Neudefinition des Verhältnisses von „Bürger und Politik“ (in der Demokratie) geht. Politische Einstellungen, politische Kommunikation und politisches Verhalten sind seine Grundkonzepte. Damit definiert er den Gegenstand offener, als es die Begründer in den USA taten, aber auch im deutschsprachigen Raum nach Max Kaase üblich war. Auch geht der Kenner der Materie über die individualistischen und funktionalistischen Ansätze der bisherigen Politischen-Kultur-Forschung hinaus, wenn er zwei neue Forschungsperspektiven diskutiert: einerseits die Differenzierung in zentrale und periphere Elemente der Staatsbürgerkultur, anderseits eine stringentere Verknüpfung zwischen Mikro- und Makroebene einschliesslich der damit verbundenen Kausalitätsfragen.

Im Sammelband folgen drei Länderkapitel, je eines zu Deutschland, Oesterreich und der Schweiz. Sie sind im Ansatz gleich aufgebaut, um als Nachschlagewerk über Zeit und Raum die aktuellen Ergebnisse aus der Umfrageforschung. Verfasst wurden Oscar Gabriel und Kajta Neller (Stuttgart) aufgrund deutscher, von Fritz Plasser und Peter Ulram (Innsbruck/Wien) anhand österreichischer und von Bianca Rousselot und mir (beide Bern) mit schweizerischen Daten. Dabei schöpfen alle AutorInnen aus dem Fundus der nationalen Forschungsergebnisse, soweit ihnen diese aus der theoretischen und vergleichenden Perspektive sinnvoll erscheinen. Die Bezüge zu Demokratie, politischer und medialer Involvierung und der Unterstützung nationaler und europäischer System interessieren dabei in allen drei Kapiteln gleichermassen.

Das alles wir im Synthesekapitel der beiden Editoren Gabriel und Plasser in zwei Schritten vereinheitlicht und summarisch mit den Resultaten in Verbindung gebracht, welche ein analoges Unterfangen vor 20 Jahren für die drei (damals noch vier) Länder hervorgebracht hatte. Der wichtigste Befund hierzu ist, dass die nationalen Besonderheiten, die stark aus der Struktur des jeweiligen nationalen politischen Systems abgeleitet werden konnten, zwar nicht verschwunden sind, aber erheblich eingeebnet wurden. Rangierte die Schweiz hinsichtlich der “Citizen Politics” Ende der 80er Jahre überraschender Weise nur auf Rang 3 im Dreiländer-Vergleich, und lag (für mich ebenso erstaunlich) Oesterreich an der Spitze, hat sich, aufgrund der Neudefinition der Kriterien ein Platzwechsel zwischen der Schweiz und Deutschland ergeben.

Konkret sind Demokratieunterstützung und -zufriedenheit in allen drei Ländern vergleichsweise hoch (letzteres kennt in der Schweiz einen Spitzenwert). Das gilt etwas eingeschränkt auch für die politische Einbettung, gemessen am kognitiven Engagement und an der Parteiidentifikation (wobei die Abstriche in Oesterreich und Deutschland etwas grösser ausfallen). Indes erweist sich die mediale Involvierung in politischen Fragen im Vergleich generell tief (ganz besonders in der Schweiz), ohne dass sich das nachteilig auf die politische Partizipation im konventionellen wie auch unkonventionellen Sinne auswirkt, während die Wahlbeteiligung in der Schweiz der direkten Demokratie wegen auffällig tief ist, und es weitgehend auch geblieben ist. Keine Auswirkungen lassen sich jedoch beim Vertrauen nachweisen, das gerade in der Schweiz am höchsten ausfällt – und zwar nicht nur auf die nationale Ebene bezogen, sondern auch auf die europäische. Dabei ist zu erwähnen, dass die Euroskepsis namentlich in Oesterreich, aber auch in Deutschland angesichts unerwarteter Hoffnung mit der EU-Mitgliedschaft am wachsen ist. In den beiden untersuchten EU-Staaten drückt sich das auch in einer mittleren Unzufriedenheit mit der nationalen Regierung und dem Output des politischen Systems aus, was in der Schweiz (noch?) wenig beobachtet werden kann.

Ganz interessant ist der Schluss des Buches, der alle Befunde im grossen europäischen Massstab diskutiert. Er legt nahe, dass die politische Kultur Russland nur mit sich selber verglichen werden kann. Darüber hinaus macht er deutlich, dass ein osteuropäischer, ein nordeuropäischer und westeuropäischer Typ existiert. Deutschland und Oesterreich gehören zum letzteren, während die Schweiz aus der Sicht der empirischen Komparatistik am meisten Gemeinsamkeiten mit Luxemburg (und mit Finnland) kennt und zu keinem Typ passt.

Der grosse Vorteil des übersichtlich gemachten Buches ist, die vergleichende politische Kulturforschung recht systematisch erfasst und ein Stück weit auch vorangetrieben zu haben. Die Länderkapitel können sowohl für die länderspezifische Forschung nützlich werden, wie auch den internationalen Vergleich befruchten. Am innovativsten ist sicher auch die Synthese, die auf den insgesamt 14 Indikatoren beruht, die national und europäisch sinnvoll erscheinen, inskünftig zum Kern der politischen Kulturmessungen gezählt zu werden. Wohl noch am wenigsten eingelöst wurde der Anspruch zu klären, wie politischen Strukturen und politischen Kulturen mehr als über ihre jeweilige Geschichte in ihrer Entstehung zusammenhängen.

Claude Longchamp

Toni Judt, der lebendigste Geist unter den Zeithistorikern, ist nicht mehr

Toni Judt, einer der bedeutendsten Zeitgeschichtler der Gegenwart, ist seiner schweren Krankheit im Alter von 62 Jahren erlegen. Mit ihm verschwindet ein wacher Geist unserer Zeit, der diese kannte und erzählen konnte, wie kaum ein anderer.

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Toni Judt, 1948-2010, verfasser der umfassende Geschichte des “Postwar”

“Aber ist der Vergangenheitscharakter einer Geschichte nicht desto tiefer, vollkommener und märchenhafter, je dichter “vorher” sie spiel?” Mit dieser Frage aus Thomas Manns Zauberberg wandte sich Toni Judt kritisch an seine Historikerkollegen. Denn normalerweise sind die der Auffassung, man könne nur mit der gebührenden Distanz erkennen, was Geschichte sei. Davon grenzte sich der prominente britische Historiker gerade mit seiner “Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart” klar ab, aber auch mit seinen viel beachteten Interventionen in der Aktualität.

Judts Hauptwerk hat vier Teile, die gleichzeitig zum gebräucherlichen Vorschlag wurden, die Nachkriegsepoche zu periodisieren: die eigentliche Nachkriegszeit bis 1953, der Wohlstand und das Aufbegehren bis 1971, die grosse Rezession bis 1989 und die Zeit nach dem Zusammenbruch. Diese Einteilung hat den Vorteil, nicht an die Geschichte eines Staates, sei es Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Spanien oder Polen gebunden zu sein. Am ehesten noch lehnt sie sich an den Aufstieg und Fall der Sowjetunion mit dem Kalten Krieg und seiner Ueberwindung an. Doch auch das war nicht Judts wirkliche Absicht, als er sein wissenschaftliches Hauptwerk schuf. Vielmehr interessierten ihn die Grundzüge der Politik, der Wirtschaft, der Kultur, ja selbst des Alltags, als er begann, die ersten 60 Jahre des alten Kontinents nach dem Zweiten Weltkrieg zu erzählen.

Selbst wenn sich auf die grossen Linien der europäischen Zeitgeschichte beschränkte, resultierte ein Buch von 1000 gut lesbren Seiten. Das hat wohl damit zu tun, dass sich der Historiker gegen die postmodernen Theoretiker der Gegenwart klar abgrenzte und die Reduktion der Geschichte auf eine Dimension ablehnte. Dennoch prägen mindestens fünf Leitideen Judts Sicht auf die Zeitgeschichte des alten Kontinents:

. dem Niedergangs durch den Zweiten Weltkrieg, beschleunigt durch die Distanz zu Europa, auf die sich mit Grossbritannien und der Sowjetunion zwei der Siegermächte begaben,
. dem Verblassen der grossen Fortschrittstheorien des 19. Jahrhunderts wie dem Liberalismus im Westen und dem Kommunismus im Osten,
. der Entwicklung des “Modells Europa” durch die verbindliche Regelung der zwischenstaatlichen Beziehungen und der innergesellschaftlichen Verhältnisse,
. der Amerikanisierung der Kultur, die indessen beschränkt blieb und
. der Homogenisierung des Kontinents, sei es durch Grenzverschiebungen, Vertreibungen und Völkermord, deren weitere Verhinderung dann zum einigenden Band wurde, ohne sie wieder aufzuheben.

Solche Einsichten ergeben sich aus der Gabe Judts, sich sowohl für die Unmittelbarkeit der Jetzt-Zeit zu interessieren, als auch die Zusammenhänge in der historische Dimension treffend zu erkennen. Bei Judt kam hinzu, dass er ein wahrhafter Intellektueller war, aus dem jüdischen Milieu stammend und dennoch anders als so viele seiner Kollegen nicht einfach kritiklos gegenüber Israel. Als junger Wissenschaftler war er auch Marxist, doch löste er sich von dieser Ideologie, um eine uuniversalistische Demokratie als Verteidigerin der sozialen Gerechtigkeit gegenüber der neoliberalen Marktgesellschaft zu vertreten.

Nun ist Toni Judt, der Paneuropäer, der in New York forschte und lehrte, nach einer schweren Krankheit 62jährig gestorben. Die Zeit, die er vorbildlich analysierte, ist die Zeit, in der er selber lebte – und auch ich noch lebe. Genau das macht seine Hauptwerk für Zeitgenossen und nachfolgende Generationen interessant. Das alles ist und bleibt umso spannender, wenn er von dem vorgeführt wird, der, wie der Londoner Guardian nur einen Tag vor dem Tod des Meisters schrieb, “the liveliest mind in New York” war.

Claude Longchamp