Menschenrechte und Demokratie gehen auseinander hervor.

In die Kontroverse um Demokratie und Menschenrechte greift nun auch der Staats- und Völkerrechtler Walter Kälin ein: weder das eine noch das andere gelte absolut, ist seine These; Menschenrechte und Demokratie bedingen einander vielmehr und müssen gemeinsam weiterentwickelt werden, schreibt er in der heutigen “NZZ am Sonntag”.

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Walter Kälin, seit 1988 Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern, weltweit anerkannter Experte für Menschenrechtspolitik

Man erinnert sich: Nach der Volksabstimmung über die Minarett-Initiative kritisierte namentlich der Club Hélvetique, der Entscheid sei menschenrechtswidrig und müsse rückgängig gemacht werden. Die SVP reagierte harsch und stellte eine Volksinitiative gegen jegliche Einschränkung von Volksrechten in Aussicht. Polarisierung pur!

Gelassener beurteilt Professor Walter Kälin, Schweizer Mitglied des UNO-Menschenrechtsausschuss, die Sache. Seine These: Menschenrechte und Demokratie bedingen einander: Demokratie ohne Menschenrechte bedeutet Diktatur der Mehrheit. Doch Menschenrechte stehen nicht an sich über der Demokratie, denn beides geht auseinander hervor.

Menschenrechte setzen Demokratien zunächst Grenzen. Denn auch Dmokratie bedeutet nicht ungebremste Herrschaft, wenn das Volk es legitimiert. Entsprechend müssen Minderheitsrechte auch vor demokratischen erzwungenen Einschränkungen geschützt werden.

Das gilt für den Kern von Menschenrechten, etwa dem Verbot unmenschlicher Behandlung, dem Diskriminierungsverbot, dem Anspruch auf eine faires Gerichtsverfahren und dem Schutz vor Zwang zu religiösen Handlungen.

Doch sind auch Menschenrechte gerade in Demokratien nicht sakrosankt. Dient ihre Beschränkung einem legitimen Zweck und geht sie dafür nicht weiter als notwendig, geht das für den Juristen in Ordnung. Denn Menschenrechte schreiben nicht vor, was eine Demokratie zu entscheiden habe, nur was sie unterlassen soll.

Im konkreten Fall des Minarettverbots in der Schweiz postuliert Walter Kälin: Sollten die hohen Gerichte in Lausanne oder Strassburg die Zulässigkeit bestreiten, dürften die Initianten weiter für ihr Anliegen kämpfen. Sie müssten aber Vorschläge unterbreiten, die nicht-diskriminierend seien.

Oder allgemein ausgedrückt: “Gefragt sind weder die Diktatur der Mehrheit, noch die Herrschaft der Richter, sondern die richtige Balance zwischen Demokratie und Menschenrechten. Sie zu realisieren, braucht Besonnenheit und Denken in grösseren Zusammenhängen”, sagt der Experte.

Was ist Volkssouveränität? – eine philosophische Antwort.

“Das Volk – was ist das?”, stellt sich in der heutigen NZZ am Sonntag der Zürcher Philosoph Georg Kohler als Frage, um die Antworten auf die Debatte über Volksentscheide nach der Minarett-Abstimmung zu finden. Volkssouveränität sei in erster Linie der Name für Verfahren, die dem Einzelnen zur grösstmöglichen Autonomie in einer liberalen Rechtsordnung verhelfen, folgert er.

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Georg Kohler, Professor für politische Philosophie an der Uni Zürich äussert sich zur laufenden Debatte über Demokratie und Recht, Volk und Souveränität

Für den politischen Philosophen ist die Volkssouveränität der grundlegendste Kriterium einer jeden Demokratie. Es beinhaltet zwei Vorstellungen: Entscheidungen dürfen keine andern Autorität zustehen, und sie müssen nach festen Regeln erfolgen. Denn Volkssouveränität verweist “einerseits auf die Geltung vorgeschriebener Prozeduren, anderseits auf ein durch die Zahl der Einzelentscheidungen erfasstes Stimmenverhältnis.”

Die generelle Gedanke muss gerade im Deutschen noch differenziert werden. Denn “das Volk” steht gleichzeitig für Demos, Ethnos und Natio. Die beiden letzteren Begriffe beinhalten nicht das Staatsvolk, sondern bezeichnen Kollektive mit gemeinsamer Abstammungsgeschichte. Ethnos ist der Stamm, und Demos sind die StimmbürgerInnen. Natio ist am komplexesten, denn die ursprüngliche Vorstellung ist dem Ethnos ähnlich, während heute reduziert Nationalität als Besitz des BürgerInnenrechts verstanden wird.

Da liegt nach Georg Kohler die Krux der Volksdefinitionen, die zwischen dem Stamm und dem Staatsvolk osziliere. Vorstellungen der Nation kippten rasch von Nationalität zu Nationalismus, die sich dann nicht mehr auf das Recht, sondern auf die Herkunft beziehen und den Bodensatz für Populismus liefern.

Demokratie, schliesst Kohler, beruhe auf der politischen Erkentnis, dass keine Entscheidung nicht mehr überbrückbare Spaltungen der Gesellschaft erzeugen solle. Im Rahmen der Verfassung sei darum jede demokratische Entscheidung revidierbar. Volkssouveränität “ist in erster Linie der Name für die Verfahren, die dem Einzelnen zur grösstmöglichen Autonomie in einer liberalen Rechtsordnung verhelfen.”

PS:
Der Artikel ist leider nicht auf dem Internet greifbar.

Volksrechte vs. Völkerrecht: zwei Initiativ-Ankündigungen polarisieren das Initiativrecht.

Zwei Wochen nach der Annahme der Minarett-Initiative in der Volksabstimmung wurden heute zwei neue Volksbegehren angekündigt. Staats- und Völkerrechtler schlagen eine “Toleranz-Initiative” vor, während SVP-Präsident Toni Brunner eine Initiative “gegen Beschneidung von Initiativen” in die Diskussion wirft.

Pro Völkerrecht: Toleranz-Initiative statt Minarett-Artikel
Gemäss “Sonntag” wollen die Rechtsprofessoren Jörg Paul Müller und Daniel Thürer einen «Toleranz-Artikel» in der Bundesverfassung verankern. Dieser soll die angenommene Minarett-Initiative ersetzen, um einem kritischen Entscheid des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zuvorzukommen. Materiell vorgeschlagen werden:

● «Die Religionsgemeinschaften nehmen in ihrer Darstellung im öffentlichen Raum, etwa bei Gebäuden, Aufrufen, Kleidervorschriften für ihre Mitglieder oder Symbolen aufeinander und auf das Empfinden und das Wohl der übrigen Bevölkerung Rücksicht.»
● «Sie vermeiden ein bedrängendes Auftreten und tragen zu einem von Toleranz getragenen Zusammenleben bei. Sie fügen sich in ihrem Wirken in die Anforderungen einer demokratischen Gesellschaft ein und respektieren die Menschenrechte aller.»

Damit nehme man die Anliegen der Minarett-Initiative auf, ohne diskriminierend zu sein. In den Worten der Verfasser: «Den Glaubensgemeinschaften wird Religionsfreiheit garantiert. Sie sind aber auch an die Grundsätze des demokratischen Zusammenlebens und an die Respektierung der Menschenrechte gebunden.»

Pro Volksrecht: Keine Beschneidung des Initiativrechts
Gemäss “Sonntagszeitung” reagierte die SVP direkt. Parteipräsident Toni Brunner plant man eine eigene Initiative gegen sämtliche Beschränkungen des Initiativrechts. Das Volk solle die bestehende Verfassung so revidiert, dass gar kein Volksbegehren mehr für ungültig erklärt werden könne.

Bei Annahme der Initiative ergäbe sich so eine Garantie, dass Abstimmungen über alle Fragen erlaubt seien, argumentiert Brunner. Allfällige Verstösse gegen zwingendes Völkerrecht wie das Folterverbot hält er für unproblematisch, da in einer funktionierenden Demokratie davon keine reale Gefahr ausgehe. Wichtig sei aber, dass man über sämtliche international relevanten Themen auch inskünftig abstimmen dürfe.

Die Polarisierung des Initiativrechts
Die Vorwürfe sind fast schon reziprok: Die einen beklagen das Aushebeln der Volksrechte, die anderen das Aushebeln des Völkerrechts. Die wachsende Polarisierung erfasst damit nicht nur die Sachfragen und die Repräsentanten der politischen Behörden. Sie greift immer deutlicher auch auf Institutionen über.

Noch sind beide Vorhaben erst im Stadium der Diskussion, denn vor einer Lancierung gilt es gewichtige Probleme zu lösen: Beim Club Helvetique, der gestern die Toleranz-Initiative diskutierte, hält man nebst der Lancierung einer Volksinitiative auch eine parlamentarische Initiative oder einen Vorstoss des Bundesrates für möglich. Beides würde ein abgekürztes Verfahren bringen, wäre demokratisch aber nicht gleich stark legitimiert wie eine Volksinitiative. Bei der SVP dürfte der angekündigte Kurswechsel zu diskutieren geben: Denn dem Vorteil bei internationalen Verträgen steht der Nachteil gegenüber, dass der Volkswille die Zulassung von Folter nicht mehr ausschliesst.

Was ist wichtiger: Volksrechte oder Völkerrecht?

“Menschenrecht Abstimmen” vs. “Abstimmung gegen Menschenrechte”?

Der “Tagi” bringt heute ein Streitgespräche zwischen Christoph Blocher und Andreas Gross, zwei überzeugten Direktdemokraten, die aus unterschiedlichen Positionen Volksentscheidungen für richtig halten und deshalb zu ganz anderen Konzepten von direkter Demokratie kommen.

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Links: Andreas Gross, rechts: Christoph Blocher

Es überrascht nicht, wenn im Nachgang zur Minarett-Abstimmung politische Spähne fliegen, und es auch nicht an persönlichen Unterstellungen mangelt. Reduziert man die Kontroverse zwischen alt Bundesrat Blocher und National- und Europarat Gross auf ihren sachlichen Kern, entsteht ein aussagekräftige Bild der Kontroverse über die direkte Demokratie, wie sie von aussen- und innenorientierten SchweizerInnen geführt wird. Hier das Dutzend Kernsätze, das bei mir nachhallte:

Andreas Gross, Politikwissenschafter, SP, National- und Europarat

“Ist ist das Wesen der Demokratie, dass sie offen ist. Man darf immer wieder auf demokratische Art auf das zurückkommen, was entschieden wurde. Denn es nicht sicher, dass sich die Mehrheit nie irrt.”
“Das Volk selbst hat in der neuen Bundesverfassung festgelegt, dass es Minderheiten und Grundrechte aller respektieren will.”
“1974, nachdem endlich das Frauenstimmrecht anerkannt wurde, konnten wir der Menschenrechtskonvention beitreten.”
“Ich plädiere dafür, dass wir künftig Initiativen auch auf den Kernbestand der Menschenrechtskonvention hin überprüfen.”
“Ich will die Demokratie nicht einschränken, aber menschenrechtskompatibel machen.”
“Der Menschrechtsgerichtshof schützt die Menschenrechte vor der Tyrannei von Mehrheiten.”

Christoph Blocher, Dr. iur., SVP, alt-Bundesrat und ehemaliger Justizminister der Schweiz

“Das Parlament masst sich an, zu sagen, worüber das Volk abstimmen darf. Und die Richter, dazu erst noch fremde Richter, sollen sagen, was sich umsetzen lässt und was nicht.”
“Wir haben eine klare Verfassungsbestimmung: Die Einheit der Materie und das zwingende Völkerrecht sind die einzigen Schranken für Volksinitiativen.”
“Den Despoten erkennt man bei einem für ihn negativen Volksentscheid. Der Demokrat hingegen sagt: Ich war dagegen, das Volk hat entschieden. Jetzt wird es umgesetzt.”
“In der Geschichte hat sich gezeigt, dass das Volk treuer zu Grundrechten und zur Demokratie stand als Verwaltungen und Parlamente.”
“Die Schweiz ist ein souveräner Staat. Sie muss nur zwingendes Völkerrecht einhalten.”
“Abstimmen ist für viele Bürger auch ein Menschenrecht.”

Wenn man von der Minarett-Abstimmung abstrahiert, erkennt man die Polarität. Für Christoph Blocher ist abstimmen ein Menschenrecht. Für Andreas Gross müssen Menschenrecht vor Abstimmungen geschützt werden.

Was nun gilt? Oder ist beides überzeichnet?

Minarett-Initianten errangen die Medienhoheit.

Die erste Analyse der Medienberichterstattung zur Minarett-Initiative liegt vor. Die Forschungsbereich für Oeffentlichkeit und Gesellschaft/Universität Zürich hat sie aufgrund eines Querschnitts von Medien im Print und elektronischen Bereich erstellt. Ihre generelle These ist: Vor dem Abstimmungssieg errangen die Minarett-Initianten die Medienhoheit.

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Die Islamisierung der Schweiz war das zentrale Thema der Medienberichterstattung, hält die heute publizierte Analyse zur Minarett-Initiative fest.

Erstens, der mediale Abstimmungskampf dauerte aufgrund der Aufmerksamkeit für das Thema rund 10 Wochen. Lanciert wurde er durch die Plakatkampagne einerseits, das Minarettspiel auf Internet anderseits. Die damit ausgelöste Provokationen sicherten den Befürwortern einen auch im Vergleich mit anderen Abstimmungem hohen Startvorteil. Ueberhaupt, kommt die Studie zum Schluss, kamen die Befürworter in den Medien mehr zum Zug als die Gegner. Drei Viertel aller zitierten Akteue stammen von ihrer Seite. Ihnen gelang es damit, das Verhältnis in der Medienpräsenz im Vergleich zum Abstimmungsverhältnis im Parlament genau umzukehren.

Zweitens, der Vorlageninhalt und die juristisch-ethischen Argumente der Gegner, die in den Behörden ausschlaggebend gewesen waren, dominierten die Mediendebatte nicht. Resonanzvorteile holten sich die Befürworter mit generellen Themen wie der schleichenden Islamisierung, dem islamistischen Terror und der Etablierung einer Parallelgesellschaft mit eigenem Schariarecht. So leiteten sich die überwiegend negativen Stereotypisierung des Islams ab. Die Pauschalisierung habe die Vielfalt muslimischer Strömungen befördert und den Konnex Angehöriger dieser Glaubensgemeinschaft mit radikalen Bewegung im Islam unterstützt. Muslime wurden so als fremd und mangelhaft integriert charakterisiert, was bedrohlich wirkte.

Drittens, die Kurzfassung der Studie stellt die Medienberichterstattung zur Initiative auch in einen zeitgeschichtlichen Rahmen. Ausgangspunkt ist der 11. September 2001. Erst damit ist die Präsenz von Muslimen in der Schweiz thematisiert worden. Die Initiativankündigung erfolgte während des Karikaturenstreits in Dänemark. In diesem Umfeld etablierte sich der Eindruck, Meinungsfreiheit werde sowohl durch den Islam wie auch durch die politischen Eliten bedroht. Während des Abstimmungskampfes verfestigte sich das Bild, einerseits durch die Präsenz der Talibans in Afghanistan und Pakistan, durch die Krise in den Beziehungen zwischen der Schweiz und Libyen.

Eine erste Bilanz
Stark quantitativ angelegt, erhellt der Bericht, dass im Abstimmungskampf eine fragmentierte Oeffentlichkeit entstand: Die Gegner und Befürworter kommunizierten jeweils aneinander vorbei. Dass dabei die Befürworter viel wirkungsvoller waren, war kein Vorteil für die Behörden, kann man daraus schliessen.

Beeinflussung vielfach vermutet, aber nie belegt.

Für PolitikerInnen ist bisweilen schnell alles klar: Umfragen, vor politischen Entscheidungen veröffentlicht, beeinflussen das Ergebnis. Die Wissenschaft nimmt das als Hypothesen auf und überprüft ihre Trifftigkeit. Dabei kommt sie zu anderen Schlüssen als der politische common sense.

Eine Zusammenstellung der diesbezüglichen Forschungsresultate hat jüngst Alexander Gallus, Politikwissenschafter und Professor an der Universität Rostok, der sich auf Demoskopiewirkungen spezialisiert hat, geliefert und sie zuhanden des Deutschen Bundestages resp. der Bundeszentrale für politische Bildung veröffentlicht.

Zunächst unterscheidet Gallus mögliche Beeinflussungsfelder; namentlich sind das die Beteiligung und die Entscheidung selber. Dann sichtet er Hypothesen, die hierzu entwickelt wurden. Speziell erwähnt er bei den Auswirkungen auf die Wahlbeteiligung:

. Mobilisierungs-Effekte: Demnach förderten Umfragen, speziell bei unsicherem Ausgang, die Beteiligung an der Entscheidung.
. Defätismus-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Mobilisierung der veraussichtlichen Verlierer.
. Lethargie-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Beteiligung der angenommenen Gewinner.
. Bequemlichkeits-Effekt: Demnach verringerten Umfragen die Beteiligung von Unschlüssigen.

Bezogen auf die Auswirkungen auf die Entscheidfindung selber unterscheidet der Autor zwei Effekte:

. Bandwagon-Effekt: Demnach kommt es zu einem Meinungwandel zugunsten des voraussichtlichen Gewinners.
. Underdog-Effekt: Demnach kommt es zu einem Meinungwandel zugunsten des voraussichtlichen Verlierers.

Die Arbeitshypothesen lassen sich mit den Theorien des rationalen Wählens resp. mit Identifikationstheorien auch begründen. Doch, und das ist nach Ansicht von Gallus massgeblich, hat die bisherige Demoskopie-Forschung keine stichhaltigen Beweise für für die Trifftigkeit der Hypothesen liefern können. “Handfeste Belege für die Richtigkeit dieser Vermutungen konnten bislang freilich nicht erbracht werden”, fast er den Stand der Dinge zusammen. Das gelte, so der Autor, sowohl für die Beteiligung wie auch für die Entscheidungen selber.

In der Schweiz ist das nicht anders. Das bisher grösste Forschungsprojekt, das sich speziell mit Umfragen vor Abstimmungen beschäftigte, das auch mit Mitteln des Schweizerischen Nationalfonds gefördert wurde, kam zu einem Null-Ergebnis. Belegbar sind einseitige Auswirkungen auf die Meinungsbildung nicht.

Oder anders gesagt. Zu jedem Beispiel, das erwähnt nach der jüngsten Abstimmung erwähnt wird, gibt es ein Gegenbeispiel.

Befürworter der Minarett-Initiative waren besonders mobilisiert.

Viel spekuliert wurde dieser Tage über das Ergebnis zur Minarett-Initiative – und über die Zusammensetzung der beiden Lager. Peter Moser, Politanalyst des Statistischen Amtes des Kantons Zürich, hat nachgerechnet und bringt seine Ergebnisse auf den Punkt..

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Der Kanton Zürich stimmte bei der Minarett-Initiative ähnlich wie die Schweiz: 52 Prozent Ja zur Minarett-Initiative bei einer überdurchschnittlichen Beteiligung von 55 Prozent. Vier bemerkenswerte Ergebnisse fördert die heute veröffentlichte Studie auf Gemeindebasis zu Tage:

Erstens “Anteil Muslime”: Der Zusammenhang zwischen dem Anteil Muslime in einer Gemeinde und der Zustimmung zur Minarett-Initiative ist minimal.
Zweitens: “Weltanschauungen”: Die Zustimmung mit nationalkonservativer Grundhaltung war weit überdurchschnittlich; verworfen wurde sie in Kommunen mit progressiven Werthaltungen, seien sie sozial oder liberal ausgerichtet.
Drittens “Schicht”: In Gemeinden mit hohem Status war man gegen die Initiative, bei tiefem Status, kombiniert mit traditioneller Lebensweise, jedoch dafür. Abgelehnt wurde sie aber beim tiefen Status und individualisierte Lebensweise, wie es in den grossen Städte vorkommt.
Und viertens “Mobilisierung”: Die Mobilisierung war besonders in Gemeinden mit einem hohen Ja-Anteil zur Minarett-Initiative überdurchschnittlich.

Was heisst das zusammenhängend? Mobilisiert wurden vor allem die BefürworterInnen der Minarett-Initiative. Entscheidend hierfür war die weltanschauliche Ausrichtung der Wählerschaft in einer Gemeinde. Verstärkt wurde sie durch die Schicht. Der Nationalkonservatismus kennzeichnet das Ja, zudem ist es bei unterdurchschnittlichem sozialen Status verbreitet. Ob es in der Gemeinde Muslime hat oder nicht, erklärt das Stimmverhalten der Zellen der Zürcher Lokaldemokratien dagegen kaum.

Das ist keinesfalls als Relativierung des Volksentscheides zu werten. Es zeigt aber auch, wie der Mechanismus lief: Da Ja ist ein Protestvotum, das sich aus der Diskussion im Wahlkampf ergab. Es zeigt die andere Seite des Volksempfindes in der heutigen Situation. Das zeigte auch der Wahlkampf in den Zürcher Regierungsrat. Am Anfang brachte Daniel Jositsch mit seiner klaren Position gegen die Manarett-Initiative seinen zögerlichen Widersacher arg in die Bedrouille. Am Ende aber wurde Ernst Stocker, der Kandidat der SVP, von 55 Prozent der Teilnehmenden ZürcherInnen in die Kantonsregierung gewählt – mit nur unwesentlich mehr Ja-Stimmen als die Minarett-Initiative erreicht hat.

Stimmungsbarometer am Vorabend der Volksentscheidungen.

Morgen, 29. November 2009, entscheidet die Schweiz in drei Volksabstimmungen über die Spezialfinanzierung des Luftverkehrs, das Verbot von Kriegsmaterialausfuhr und resp. des Baus von Minaretten. Die österreichische Internetplattform Wahlfieber sagt, was geschieht. Mehr weiss man morgen zwischen 13 und 14 Uhr, wenn die Hochrechnungen vorliegen.

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Trends in den Erwartungshaltungen der Börsianer zur Finanzierung Luftverkehr, Verbot Kriegsmaterialausfuhr und Bauverbot von Minaretten.

“Ja, Nein, Nein”, prognostizieren die Wahlbörsen von Wahlfieber. Gerechnet wir mit einer Zustimmung von 64 Prozent zur Luftverkehrsvorlage der Behörden. Derweil nehmen die Trader an, beide Volksinitiativen scheitern. Bei der Minarett-Initiative gehen sie von 56, bei der Kriegsmaterialausfuhr von 58 Prozent Ablehnung aus.

Aktuelle Umfragen sind nicht verfügbar. Anders als Wahlbörsen unterliegen sie dem Reglement der Schweizer Institute für Markt- und Sozialforschung, das auf Wunsch der Politik vorsieht, die letzten 10 Tage vor einer Volksabstimmung nichts Neues mehr zu veröffentlichen. Damit sind die letzten Umfragen von Abstimmungen in der Schweiz zwischen mindestens zwei Wochen alt, wenn die letzte Abstimmungsurne geschlossen wird.

Die Händler via Internet kümmern solche Selbsteinschränkungen der Umfrageinstitute wenig. Sie setzen ihr Geld auf den erwarteten Ausgang. Sie bekommen ihre Geld vermehrt zurück, wenn sie den richtigen Wert vorhersehen. Anders als bei üblichen wetten, können sie ihre Meinung ändern, falls sie unterwegs einen anderen Ausgang prognostizieren. Wenn sie also die Zustimmung an der Börse unterbewertet finden, können sie Aktien kaufen resp. solche der Ablehnung verkaufen. Damit spiegelt der gemeinsame Aktienwert die aggregierten Erwartungen, die aus den jeweils individuellen Beobachtungen stammen.

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Wer gewinnt bei den Ersatzwahlen in den Zürcher Regierungsrat? – Ernst Stocker, entschieden die Börsianer schon sehr früh und sehr eindeutig.

Sicher ist, dass solche Informationssysteme keine Stimmabsichten messen, aber Erwartungshaltungen wiedergeben. Fehlerfrei ist das nicht. Denn die Ergebnisse hängen von der Intensität des Handels ab, was wiederum durch die Aufmerksamkeit und Ereignisse in der Sache bestimmt wird. Das belegt die Wahlfieber-Kurve zur Ersatzwahl in den Zürcher Regierungsrat. Hierzu gab es bei Wahlfieber nur kurz Spannung, dann entschieden sich die Händler schnell und konstant für Ernst Stocker.

Claude Longchamp

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Warum die Frauen der Mitte/Links-Parteien die Minarett-Initiative ablehnen.

Das ist selten. Die Frauen der linken resp. der Mitte-Parteien rufen separat zu den Gesamtparteien, aber untereinander vereint auf, eine Volksinitiative abzulehnen.

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Jacqueline de Quattro, Präsidentin der FDP-Frauen begründet das Nein der Frauen aus den Mitte/Links-Parteien zur Minarett-Initiative

«Mit dem Verbot eines Turmes werden die Rechte der Frauen nicht verteidigt», sagte Maria Roth-Barnasconi, Co-Präsidentinder SP Frauen. In fundamentalistischen Muslimkreisen gebe es Probleme wie Zwangsheirat oder Burka, räumte sie ein. Es gelte aber, für die einzelnen Probleme Lösungen zu finden und nicht Diskriminierungen einzuführen, die das Feuer anheizten, das gelöscht werden solle.

Kritisiert wird in Frauenkreisen die SVP-Frauen-Haltung zur Minarett-Initiative. Gleichstellung sei keine Frage der Religion. Jacqueline de Quattro, die Präsidentin der FDP Frauen meint, Massnahmen gegen Gewalt an Frauen seien nur der Anfang im Kampf gegen Diskriminierung. Nötig sei auch eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und Integration von Frauen und Männern in gemischten Teams in Wirtschaft und Politik.

Nach dem medienwirksamen Aufruf von Julia Onken, als Frau der Minarett-Initiative zuzustimmen, bekräftigen die Frauenorganisation der Grünen, SP, CVP und FDP damit, dass sie die Minrett-Initiative gemeinsam ablehnen.

Claude Longchamp

Meinungsbildung: Minarett- und Kriegsmaterialausfuhr-Verbote im Vergleich.

Zwei der drei Abstimmungsvorlagen vom 29. November 2009 eignen sich, um bestimmte Eigenheiten der Meinungsbildung, wie sie die Abstimmungsforschung kennt, fast mustergültig aufzuzeigen. Zu unterscheiden gilt es zwischen Problematisierungsinitiativen wie jener zum Bauverbot von Minaretten und Lösungsinitiativen wie die zum Exportverbot von Kriegsmaterial.


Für grössere Grafik Bild anklicken

Unterschiedliche Meinungsbildung: Bei Kriegsmaterialausfuhr nimmt das Ja ab, während es bei beim Minarett-Verbot zunimmt.

Die Lösungsinitiative
Die meisten Initiative nehmen Themen auf, die in der Oeffentlichkeit schon häufig diskutiert wurden, und versuchen sie, einer politischen Lösung zuzuführen. Typisch hierfür die Volksinitiative für ein Ausfuhrverbot von Kriegsmaterial. Darüber wird ungefähr alle 20 Jahre einmal abgestimmt.
Lösungsinitiativen kennen vor dem Abstimmungskampf meist eine hohe Zustimmung. Es kann gut sein, dass die Ja-Seite am Anfang eine Mehrheit hinter sich weiss. Doch baut sich unter dem Eindruck der Kampagnen vor allem das Nein zulasten Unschlüssiger auf, und es kann sogar sein, dass sich ein Teil der spontanen BefürworterInnen umbesinnt und ins Nein-Lager wechselt. Damit sinken die Chancen einer Annahme mit der Auseinandersetzung.
Das kann man auch bei der Initiative für ein Exportverbot von Kriegsmaterial bereits jetzt beobachten. Von Mitte Oktober bis Mitte November 2009 nahm die Ablehnung von 44 auf 50 Prozent zu, und es verringerte sich die Zustimmung von 41 auf 39 Prozent. Das Nein liegt damit vorne, und es wächst im Zeitvergleich. Ohne ganz überraschende Ereignisse bis zum Abstimmungstag wird dieser Trend anhalten, und die Vorlage wird abgelehnt werden.

Die Problematisierungsinitiative
Volksinitiativen wie jene zum Bauverbot von Minaretten werden lanciert, um ein verkanntes Anliegen auf die öffentliche Agenda zu setzen und damit so weit problematisieren, dass es politisch behandelt werden muss.
Das prägt auch den Prozess der Entscheidfindung. Die anfängliche Zustimmung ist nur in fordernden, radikal eingestellten Minderheiten vorhanden. Gelingt es diesen nicht, die Initiative medial zu profilieren, fällt das Anliegen mit einer wuchtigen Ablehnung durch. Schaffen sie es aber, vorhandene Unzufriedenheiten verschiedenster Art mit der Initiative aufs Tapett zu bringen, nimmt die anfänglich geringe Zustimmung zu. Gleiches gilt im häufigeren Fall auch für die Ablehnung, während sich diese im selteneren Fall verringert.
Genau das zeichnet sich bei der Minarett-Initiative ab: Die Zustimmung steigt unter dem Eindruck des Abstimmungskampfes von 34 auf vorerst 37 Prozent an. Aussagen über den Abstimmungsausgang sind nicht eindeutig möglich: Im wahrscheinlicheren Fall scheitert die Initiative, denn die vorhandene Nein-Mehrheit gibt den Ausschlag. Im unwahrscheinlicheren Fall steigert sich das Ja noch über den gesamten Anteil der Unschlüssigen hinaus und kann so zur Mehrheit werden.
Zwar sind solche Prozess eher selten, sie sind aber nicht auszuschliessen. Das war beispielsweise bei der Asylinitiative der SVP im Jahre 2002 der Fall, aber auch bei der Abschaffung der Armee 1989. In beiden Fällen wuchs die Zustimmung bis zur Abstimmungstag, – auch wenn sie schliesslich nicht die Mehrheit ausmachte.

Claude Longchamp

Der Forschungsbericht zur zweiten Welle SRG-Trend zu den Volksabstimmungen vom 29. November 2009, der heute erschienen ist.