Wahljahr 2011: Bisher unbekanntes Hoch für Volksinitiativen

VertreterInnen des Bundeskanzlei, der Wissenschaft, der Forschung, der Kampagnenführung und des Lobbyings gingen diese Woche an der NPO-Tagung zu Volksinitiativen mit zahlreichen Initiativkomitees in sich: um zu lernen, aber auch zu diskutieren, wo sinnvollerweise Grenzen der Volksrechte sein könnten.

Zum Beispiel Barbara Perriard. Sie ist die amtliche Hüterin der Volksrechte in der Schweiz. Die Basler Juristin leitet seit 2010 die Sektion Politische Rechte der Bundeskanzlei. An der NPO-Tagung zu Stolpersteinen und Erfolgsfaktoren von Volksinitiativen legte sie neue Statistik offen, welche den Gebrauch des Instruments im Wahlumfeld beleuchtet:

. Ergebnis 1: Nie zuvor wurden mit 23 Stück so viele Volksinitiative gestartet wie 2011. Bisheriger Rekordwert war 15.
. Ergebnis 2: Seit den Wahlen 1983 steigt die Zahl lancierter Volksinitiative im Wahljahr- und/oder Vorwahljahr markant an.
. Ergebnis 3: Mindestens seit 1995 gilt, dass die Zahl neulancierter Volksbegehren im Nachwahljahr deutlich sinkt.

Das alles kann man nur so interpretieren: Volksinitiativen sind (mitunter) zu Vehikel von Parteien (und weiteren Gruppierungen) geworden, die sich im Wahljahr profilieren wollen.

Mustergültig vorgeführt wurde dieses Konzept 2007 von der SVP. Symbolträchtig lancierte sie am Bundesfeiertag, dem 1. August des Wahljahres, die Volksinitiative zur Ausschaffung krimineller AusländerInnen. Damit setzte sie im Wahlkampf eines der Hauptthemen, das sie werberisch für sich zu nutzen wusste. Wie kaum eine andere Affiche wurde das Schäfchen-Plakat zur Icon gegen Migration angesichts geöffneter Grenzen, mindestens im nationalkonservativen und rechtsextremen Umfeld. Damit nicht genug: Auch das Parlament stieg unter Führung der FDP auf die Problematik ein, und formulierte ein Gegenprojekt; 2010 kam es zur Volksabstimmung über beides; just ein Jahr vor der nächsten Nationalratswahl präferierten die Stimmenden die härtere Version in Form der Volksinitiative. Lanciert war damit der neuerliche Wahlkampf, der wohl ebenso Erfolg gehabt hätte wie jener vier Jahre zuvor, wäre da nicht der politischen Klimawandel gewesen, ausgelöst durch den Atom-Unfall in Fukushima und den hohen Frankenkurs im unmittelbaren Vorfeld des Parlamentswahlen.

Klar, bei weitem nicht alle im Wahlumfeld lancierten Volksinitiativen sind so wirksam, denn die wenigsten treffen den Zeitgeist so genau wie das bei der SVP-Ausschaffungsinitiative war. Dafür spricht auch, dass die Kopie des gleichen Konzepts 2011 mit der Masseneinwanderungsinitiative trotz grossem werberischen Aufwand versagte.

Betrachtet man die übrigen Initiativen, erkennt man zahlreiche weitere Gründe; zu ihnen zählen:

. Die aufgegriffene Thematik keine keinen wirklichen Problemdruck, der das Projekt befördert.
. Der Lösungsansatz, allenfalls die Trägerschaft sind zu umstritten, um eine genügend breite Masse zu mobilisieren.
. Die Unterschriftensammlung scheitert an der Zahl und Frist für die einreichung gültiger Unterschriften.
. Das Volksbegehren ist ungültig, oder es wird zurückgezogen.

Die Beobachtung legt nahe, dass vor allem deren Zahl rasch ansteigt, nicht zu letzt wegen der vermehrten Marketing-Ausrichtung verschiedener Parteien und Komitees vor Wahlen. Die erhöhte mediale Aufmerksamkeit, aber auch die gesteigerten BürgerInnen-Sensibilitäten sprechen dafür, sich mit Volksrechten ins Szene zu setzen. Nur, das Instrument ist eigentlich dafür gedacht gewesen, verfassungswürdigen Anliegen, welche Regierung und Parlament nicht teilen, Gehör zu verschaffen. Mit der aktuellen Entwicklung bewegen wir uns in Richtung tagesaktueller Probleme, die mit einem Instrument bewirtschaftet werden sollen, das sich dafür kaum eignet, aber als Plattform der Selbstdarstellung gebraucht werden kann.

Mehr noch, selbst die Ankündigung eines entsprechenden Volksbegehrens schafft es bisweil bis in die Top-Spalten der Medien, die nur auf Aufmerksamkeit aus sind, die Frage der Relevant indessen gar nicht mehr stellen. Die vermeintliche Lancierung einer Volksinitiative zur Wiedereinführung der Todesstrafe war der Höhepunkt dieser (unrühmlichen) Entwicklungen.

Im Vorfeld der Tagung habe ich versucht, mit einer Gratiszeitung, die jeden Abend erscheint und viele LeserInnen hat, zu besprechen. Erfolglos – man schnitt die Tagung!

Claude Longchamp

Die Schweizer Parlamentswahlen – in der Brille der Selects-Wahlstudie

Vor Wochenfrist erschien der Bericht zur Selects-Wahlbefragung, dem grössten Einzelprojekt der politologischen Forschung in der Schweiz. Für meine Vorlesung zu Wahlforschung in Theorie und Praxis an der Uni Zürich habe ich eine Durchsicht der ersten Ergebnisse 2011 vorgenommen, die meines Erachtens zwischen erhellend und verstellend ausfallen.

Am spannendsten in der Selects-Studie 2011 fand ich den Nachweis, dass es auch bei Schweizer Nationalratswahlen taktisches Wählen gibt. Verglichen wurde die effektive Parteiwahl mit den Wahlabsichten kurz vor der Entscheidung. Am klarsten war die Sache für die SVP-Wählerschaft; 87 Prozent blieben bei ihrer Vorentscheidung. Das Gegenstück bildeten die grünen Parteien: 42 Prozent der vormalig GLP-Interessierten wählten schliesslich FDP, BDP oder GPS. Auch bei eben dieser GPS lösten 36 Prozent ihre Wahlabsichten anders als anfänglich geplant ein: Relevanten Stimmentausch gab es hier gegenüber der SP und der GLP. Damit ist nicht das klassischen Wechselwählen gemeint, das heisst der Wechsel von der zurückliegenden zur aktuellen Wahl. Vielmehr geht es um kurzfristige Entscheidungen, die durch allerlei situtative Umstände verursacht sein können. Demnach schwankt ein beträchtlicher Teil der WählerInnen bis am Schluss, wer ihre Stimme bekommt – und wechselt rund eine Viertel auch.

Möglich wurde dieser Test durch zwei Arten von Befragungen, der Vorbefragungen in den 6 Wochen vor der Wahl, und einer Nachbefragung der gleichen WählerInnen, in den Tagen nach der Nationalratswahl. Ueberhaupt, das Methodendesign der Selects-Studie ist umfassender geworden, was weitere spannende Vergleiche verspricht. Denn die bisher dominierende Nachbefragung der InlandschweizerInnen wurde durch eine erstmalige Online-Erhebung bei AuslandschweizerInnen erweitert worden, und die Strukturanalyse der Wählerschaft ex post ist durch eine dynamische Betrachtung der Meinungsbildung von Tag zu Tag ergänzt worden. Und jene, die vorher interviewt wurden, befragte man im Nachhinein nochmals separat. Damit hat die Schweizer Wahlforschung methodisch an die Trends angeschlossen, die in den USA schon länger bekannt sind, neuerdings aber auch in Deutschland etabliert worden sind.

Trotz dieser Verbesserungen in der Datenlage hat das Selects-Projekt gerade im Konzeptionellen auch Schwächen. Zu ihnen gehört, dass die Operationalisierung der Wahlentscheidung fraglich bleibt. Denn die Studie unterstellt, als wählten alle SchweizerInnen Parteien. Effektiv geben sie jedoch ihre Stimmenen KandidatInnen von Parteien. Wählen sie Bewerbungen mehrer Parteien, verteilen sie ihre Stimmen auf die entsprechenden Parteien. Bisherige Schätzungen zeigen, dass rund die Hälfte reine ParteiwählerInnen sind, gut 40-45 Prozent auf der Parteiliste panaschieren, also Parteifremde berücksichtigen, und 5-10 Prozent mit einer Liste ohne Parteibezeichnung KandidatInnen wählen. Genaue Zahlen dazu hat man aber kaum, und vor allem kennt man die Struktur der drei Wählertypen nicht. Schliesslich bleibt es ein Geheimnis, wer – warum – unter den Parteien Nutzniesser und Geschädigter von dieser Eigenheit des Wahlrechts ist.

Weit im Voraus sind solche Differenzierung nicht auszumachen. Denn das Ausfüllen der Wahlzettel (und damit die Personenentscheidungen) geschieht im Wesentlichen in den 3 Wochen vor der Wahl. Indes, die neue Umfragetechnik unmittelbar vor der Entscheidung wurde nicht dazu eingesetzt, dem zentralen schwarzen Loch in der hiesigen Wahlforschung auf die Spur zu kommen. Nicht ausgeschlossen werden kann deshalb, dass ein Teil des beträchtlichen Taktierens, das der Bericht von Georg Lutz nachweist, auf eben solche Effekte zurückgeht: Man wählte effektiv mit der CVP-Liste, schrieb aber zahlreiche KandidatInnen von FDP, ja auch von SVP und SP auf die eigenhändig veränderte Liste.

Damit bin ich bei einem zweiten Mangel der vorgelegten Wahlanalyse. Die Personeneffekte beim Wählen werden in der Studie unterschäzt. Der Ansatz der Selects-Studie bewegt sich ganz auf der Linie der Theorien der rationalen Wahl, wonach Parteien aufgrund von individuellen Präferenzen hinsichtlich ihres Engagements und ihrer Kompetenz in Sachfragen gewählt werden. Das gibt denn auch Hinweise auf die Bedeutung von Migrations- resp. oder Umwelt- oder Energiefragen für einen Entscheid zugunsten der SVP oder einer grünen Partei. Entscheidungen für Parteien, die näher dem Zentrum sind, können in der Regel auf diese Art und Weise weniger gut erklärt werden. (Das gilt besonders für die aktuelle Erhebung, welche die Kompetenz der Parteien in Wirtschaftsfragen gar nicht ausweist). Denn in der Mitte sind Ideologien weniger wichtig, auch eignen sich die Streitthemen weniger für die Parteiprofilierung. Dafür spielen Traditionen eine grössere Rolle, ist der Stil wichtiger, und vor allem kommt es auf die Personenprofile an, die sich bewerben. Dabei geht es nicht einmal um die ganz grossen Alphatiere, die meist nur rechts für die Mobilisierung massgeblich sind; es interessiert mehr die KandidatInnenauswahl der Partei(en), die einen überzeugen soll, für eine Partei zu stimmen. Gerade hier, wo es um eine dem speziellen Wahlsystem der Schweiz angemessene Erklärungen gehen würde, stockt das Selects-Projekt seit längerem.

Dies wird immer problematischer, weil das Wahlgeschehen, wie überall in modernen Wahlkämpfen, auch in der Schweiz stark medialisiert worden ist. Von postmodernen Kampagnen sagt man, dass sie durch medienspezifische Zielgruppenansprache wirken. Das legt auch die KandidatInnen-Befragungen im Rahmen der Selects-Studie nahe, nicht zuletzt durch die eindrücklichen Auflistung, das nur rund 20 Prozent der Wahlkampf-Ausgaben unserer gewählter ParlamentarierInnen von ihren Parteien stammen, während je zirka 40 Prozent aus dem eigenen Sack resp. aus Spenden Dritter kommen – und das gesamte Geld vor allem für persönliche Give-Aways, Plakate und Inserate eingesetzt wird. Eine Uebersetzung dieses löblich dokumentierten Kommunikations-Trends in die Befragungen, welche die Partei- und Personenwahl bei schweizerischen Nationalratswahlen analysieren, blieb indessen 2012 weitgehend aus.

So kann man schliessen: Mit der Selects-Studie 2011 erfahren wir einiges über den Zusammenhang von Themen und Parteienwahl, auch etwas über Kampagnen, Parteientscheidungen und Mobilisierung. Jedoch, die Personalisierung und Medialisierung in und von Wahlkämpfen bleiben in ihren Wirkungen weitgehend unerklärt.

Claude Longchamp

Paul Rechtsteiners spektakulärer Wahlerfolg 2011 in der Analyse

Seit 1986 politisiert Paul Rechsteiner unter der Berner Bundeskuppel. Sechs Mal haben die St. GallerInnen den heutigen Präsidenten des Gewerkschaftsbundes in den Nationalrat geschickt; 2011 hievten sie das linke Urgestein in den Ständerat. Journalist Ralph Hug hat sich der Aufgabe angenommen, Gründe für die Ueberraschung zu finden und legt wenige Monate nach der Wahl das erste Sachbuch zu einer Ständeratswahl in der Schweiz vor.

Seinen gut lesbaren Bericht gliedert Ralph Hug in vier Teile: in die Analyse der Ausgangslage, in die Kampagne zur ersten Runde, jene zur zweiten und in einen Ausblick, wie linke Politik mehrheitsfähig sein kann. Dabei macht er keinen Hehl, wo er steht. Das wäre auch falsch gewesen, denn der freie Journalist war Teil des Wahlkampfes auf Seiten des Erfolgreichen gewesen.

Am spannendsten sind die Ausführungen beim Uebergang von der ersten zur zweiten Runde. Denn der Entscheid, nochmals anzutreten stand, so der Autor, alles andere als fest. Beflügelt wurde das Ja hierzu durch den Rücktritt des Bisherigen Eugen David, der angesichts der Wahlschlapp noch am Wahlabend das Handtuch warf. Das eröffente die Perspektive, auf eine Polarisierung zwischen dem Präsidenten des Gewerkschaftsbund einerseits, dem SVP-Parteipräsidenten Toni Brunner anderseits zu setzen, bei der Mobilisierung, Bündnisfähigkeit und Entscheidung nach dem Ausschlussprinzip den Ausschlag geben sollten.

Heute weiss man es: Genau das geschah – auch wenn es für Viele unerwartet endete!

Am Anfang eines solchen Erfolges steht, so die Hoffnung, etwas verändern zu können. Anzukämpfen hat man dabei mit der Erfahrung, dass dies meistens scheitert. Entsprechend konzipiert war der erste Teil der Kampagne: “Gute Löhne, gute Kämpfe” ist genau das, was man von einem gewerkschaftlichen Kandidaten normalerweise zu hören bekommt. Verbreitet wurde es im bekannten Strassenwahlkampf mit den eingespielten Werbemitteln. Zu Multiplikatoren machten man vor allem die Kultur- und Kunstszene.

Soweit bekannt, wie auch das Ergebnis: Ansprechend war die Stimmenzahl Rechsteiners, beträchtlich jedoch auch der Rückstand auf Brunner. Ein Erfolg musste, war man sich im Kernteam um den Kandidaten einig, mit neuen Akzentsetzungen gesucht werden: Der Slogan mutierte zu “Einer für alle!”. Das urbane Umfeld wurde Richtung ruraler Umgebung erweitert. Geschickt steigerte man die Aufmerksamkeit mit nationalen Meinungsmachern, um zu kommunizieren, dass da einer ist, auf den man in den Schaltzentralen von Politik und Medien achtet. Entscheidend war aber die Nomination aus der CVP. Als Aufbaubewerbung mochte der Antritt von Michael Hüppi, Präsident des städtischen Fussballclubs, geeignet erscheinen; nur die kurze Dauer bis zum zweiten Wahlgang war zu kurz, um wirklich Aussicht zu versprechen. Das merkte man bald auch im CVP-Umfeld: die CSP rebellierte, was bei den Altkatholiken wiederum für Rumoren sorgte. Faktisch war die katholische Mitte angesichts innerer Streitigkeit lahm gelegt. Nun begann das, was wohl zum Erfolg führte: die erweiterte Mobilisierung ohne politische Anbiederung. Neue Kreise wie die GLP, aber auch JungpolitikerInnen verschiedenster Couleur, schliesslich auch die Frauenorganisation wurden angesprochen, engagierten sich im Wahlkampf und empfahlen den erfahrenen Politiker, der sich bei der Abwehr von Sozialabbau in verschiedensten Lagern einen Namen gemacht hatte.

Das Ergebnis gab den Hoffenden Recht. Politologe Werner Seitz analysiert die Ursachen in einem kurzen Nachwort wie folgt: Voraussetzung war erstens, dass das bürgerliche Lager seine Hegemonie bei Ständeratswahlen durch die Spaltung zwischen Zentrum und SVP verloren hatte. Hinzu kam zweitens, dass die SVP, gestählt in Proporzwahlen, keine Person vorschlug, die im denkbaren Elektorat nicht polarisierte. Drittens, ohne den Nominationsfehler der CVP hätte trotzdem Vieles anders aussehen können. Denn erst mit diesem Faux-pas stand, viertens, mit Paul Rechsteiner “der geeigneter Kandidatur zur Verfügung, dem es gelang, verschiedene Kreise ausserhalb des traditionellen SP-Segmentes zu mobilisieren.”

“Eine andere Wahl ist möglich”, heisst das Buch. Dem stimmt man unter politischen Engagierten wohl immer zu. Skeptischer reagiert man jedoch, wenn man die Zugabe im Klappentext liest, wonach man von St. Gallen lernen könne. Meine Kritik: So einfühlsam das Buch aus Insidersicht gemacht ist, so wenig trägt es zur Verallgemeinerung von Erkenntnissen bei. Denn zu oft bleibt man beim Lesen bei Wendungen stehen, das Ergebnis hing von der Umständen ab, sei situationsbedingt gewesen, und habe viel mit der Person Rechsteiner zu tun. Entsprechend hat man kein Handbuch zum (denkbaren) Benchmark in den Händen, wenn man den Band aus dem Rotpunktverlage kauft. Vielmehr müsste der Bericht die Wahlforschung animieren, nach generellen Zusammenhänge zu fragen, warum die Veränderungen bei Ständeratswahlen seit einiger Zeit ebenso spannend sind wie die bei Nationalratswahlen, indes, das Pendel ganz anders als bei Proporzwahlen bei Majorzwahlen zugunsten der Linken ausschlägt.

Die Antwort ist meines Erachtens noch offen.

Claude Longchamp

ParteipräsidentInnen und Wahlenentscheidungen

Wer nüchtern analysiert, geht von sachpolitischen Präferenzen aus, mit denen WählerInnen Parteiprogramme beurteilen. Wer etwas impulsiver ist, weiss, das Parteiidentifikation heute über Köpfe mit Ausstrahlung hergestellt wird. Ich empfehle den heute gewählten PräsidentInnen und ihren Parteien einen Mix!

Eine systematische Analyse der Einflussfaktoren auf Wahlentscheidungen zeigt, dass bei vier der fünf grössen Parteien in der Schweiz das Profil des Präsidenten die Wahl mitbeeinflusst hat. Einzig bei den Grünen war das nicht der Fall. So gesehen ist die GPS der Sieger des samstäglichen Wahlmarathons, denn FDP, CVP und eben die GPS bestimmten heute ihre Parteispitzen neu.

Die Grünen entschieden sich für Frauenpower. Die beiden neuen Nationalrätinnen, Adèle Thorens aus der Waadt und Regula Rytz aus Bern, sollen die Partei (sprachregional differenziert) in die Zukunft führen. Damit wurde der bisherige Präsident, Ueli Leuenberger, abgelöst, dem es, trotz perfekter Zweisprachigkeit, nicht gelang, die verschiedenen Sensibilitäten dies- und jenseits des Röschtigraben gewinnbringend zu vereinen. Das letzte Wahlbarometer 2011 zeigte nämlich nur bei den Grünen keine nachweislichen Effekte des Präsidenten auf die Wähleransprache. Mit der Rückkehr zu Präsidentinnen, knüpft die GPS dort an, wo sie bis vor 4 Jahren stand und Wahlerfolge feierte, und sie kann sich in Präsidentenrunden sichtbarer von SP und GLP abgrenzen.

Anders beurteilen muss man die Präsidentenwahlen bei FDP und CVP. Die CVP bleibt bei Christophe Darbelley, dem Walliser Nationalrat, während die FDP neu auf Philipp Müller, dem Aargauer Volksvertreter, setzt. Beide Parteien punkteten gemäss der gleichen Untersuchung 2011 beschränkt mit ihren PräsidentInnen im Wahlkampf. Die CVP verbessert sich mit dem heutigen Entscheid nicht, während die FDP den Anfang sucht. Symptomatisch für die FDP, dass sie ihren mit ihrem bisherigen Leutchturm den Anker in der deutschsprachigen Schweiz auswirft, und ihn in die Richtung auswirft, wo sie bisher von der SVP konkurrenziert wurde. Themenkorrekturen in Migrations- und EU-Fragen haben diesen Schritt vorbereitet, jetzt geht es um einen neuen kommunikativen Auftritt, um einige der bisherigen Schwächen anzugehen. Nur bei der CVP dominiert das Bisherige. Wohl setzt man darauf, dass der mediengewandte Christophe Darbelley vorerst nicht gleichwärtig ersetzt werden kann, die grosse Rochade in ein bis zwei Jahren stattfindet und für den Neustart der Partei eh die frühere Präsidentin und heutige Bundesrätin Doris Leuthard zuständig ist.

Die systematische Auswertung des Wahlbarometer 2011 lässt erkennen, dass jenseits der Persönlichkeiten von ParteipräsidentInnen ein Mix die Wahlausgänge bestimmt: Momentan will man Parteien, die sich ungebefangen von Geschichten und Geschichte den Herausforderungen der Zeit annehmen. Diese orten, wie es in der Natur der Sache liegt, nicht alle gleich! Aber alle spüren, dass nach den Brüchen in der jüngsten Vergangenheit mehr als nur Bewährtes braucht, das angesichts unsicherer gewordener Verhältnisse in der EU-Frage, in der Energieversorgung, bei Migationsproblemen und belastendenen Frankekursen Zukunftsbewältigung angesagt ist. Mehr oder weniger ist auch klar geworden, dass das Tagesgeschäft viel Flexibilität braucht, diese aber nicht beliebig interpretiert werden darf, sondern in eine werteverankerte Politik eingebettet sein muss. Von den Grünen erwartet man längst ein Feuerwerk zur Erneuerung ökologischer Werte, von der FDP ein Engagement für vernünftige Wirtschaftswachstum und von der CVP mehr Nachdruck für eine zeitgemässe Gemeinschaft. Denn alles, was man dazu gesehen hat, reicht nicht mehr, wirkt etwas abgedroschen und muss schleunigst von den Protagonisten erneuert werden. Das müssen sich Adèle Thorens, Regula Rytz, Philipp Müller und ganz besonders Christophe Darbelley hinter die Ohren schreiben!

Last but not least: Die zentrale Herausforderung für alle neu gewählten PräsidentInnen von heute sind die kommenden Nationalratswahlen. Denn von ihnen erwartet man, dass sie ihre Parteischiffe auf Kurs bringen, 2015 wieder mehr Passagiere befördern. Das beginnt mit der kohärenten politischen Positionierung, vor allem gegenüber der Konkurrenz im Parlament, wenn es um Themen und Mehrheiten geht, aber auch auf den Märkten volatil gewordener BürgerInnen. Der Aufschwung von GLP und BDP zeigt, dass es vor allem im Zentrum einiges zu verbessern gibt.

Die Kursbestimmungen setzen sich in den Wahlkampfvorbereitungen fort, die schonungslos Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken aufzeigen müssen, damit die Wahlkämpfe nicht nur die bisherige Wählerschaft anspricht, sondern auch neue Schichten unter Nichtwählenden, PersonenwählerInnen und parteipolitischen Schwankenden erschliessen.

Denn das ist eine der grossen Gemeinsamkeiten der heutigen Präsidiumswahlen: Mit ihnen hat ein Teil der Wahlverliererinnen 2011 die Segel Richtung 2015 gestellt, der aufbauend an der Schweizer Politik arbeiten und nicht einfach vom Misstrauen in die Zukunft, den Staat und die Politik profitieren will!

Claude Longchamp

Kurzanalyse der GPS-Niederlage – für die GPS

Meine Analyse, wieso die Grünen bei den Wahlen zu wenig mobilisieren konnten, erstellt für Greenfo.

Am stärksten verloren haben bei den Wahlen 2011 die rechten Parteien SVP und FDP. Was bedeutet das für die Schweiz?

Zunächst ein Novum. Denn die SVP verlor in der Nachkriegszeit noch nie so viel von einer Nationalratswahl zur anderen – und das bei gleichzeitigen Rückgängen von FDP und CVP. SVP und FDP haben gesamtschweizerisch noch 42 Prozent WählerInnenanteil. Sie sind damit klarer denn je von einer Mehrheit unter den Wählenden entfernt. Das muss bei den Bundesratswahlen Konsequenzen haben. Eine Mehrheit der Bundesratssitze für die beiden Parteien, wie sie zwischen 2003 und 2007 bestand, darf es nicht mehr geben.

Weniger Polarisierung – mehr Mitte: Ist das wirklich ein politischer Trend in Richtung Lösungen oder ist es nur, weil es zwei junge und neue Parteien gibt?

Es ist ein Trend im Parteiensystem. Es haben sich zwei neue Parteien etablieren können. Zusammen machen sie 10 Prozent aus. Beide können auf Neuwählende und Unzufriedene bei den grösseren Parteien zählen. Vieles hängt jetzt davon ab, ob sich die neue Mitte sach- und machtpolitisch im Parlament formiert oder nicht. Wenn ja, ist meine Annahme, dass die Pole bei der Lancierung von Lösungen unwichtiger werden, sich häufiger die Frage stellen müssen, ob sie mit dem Zentrum kooperieren wollen oder nicht. Insgesamt wäre mit einer Deblockierung in verschiedenen Bereichen zu rechnen, wie das anhand der Kernenergiefrage schon im Wahljahr sichtbar wurde.

Die Grünen haben Stimmen und Sitze verloren. Wieso ist es ihnen nicht gelungen, mehr Wählerinnen und Wähler zu mobilisieren?

Die «Grünen» haben weder Stimmen noch Sitze verloren. Verloren hat die GPS. Ihr Problem ist, dass sie mit dem Auftreten der GLP «die Grünen» nicht mehr alleine repräsentieren kann, weder mit ihren ökologischen Projekten noch mit ihren sozial-, wirtschafts- und finanzpolitischen Vorstellungen. Mit den Wahlen in Basel-Landschaft und Zürich wurde klar: Die Gewinnchancen Grüner PolitikerInnen stiegen nach dem Reaktorunfall in Fukushima, die der GPS jedoch nicht. 2007 mobilisierten die Grünen ausgehend von der globalen Kampagne von Al Gore auf ihrem Kernthema, der Forderung nach einer neuen Klimapolitik, und in der Schlussphase mit einer klaren Abgrenzung von Christoph Blocher. In beidem stachen sie die SP aus, und sie gewannen am meisten aufgrund Wählerwanderungen im linken Lager. Das war 2011 nicht mehr der Fall, ohne dass die GPS einen Ersatz dafür fand. Vor allem in der Hauptphase des Wahlkampfes, als der starke Franken, die Wirtschaftslage und die Sorge um die Arbeitsplätze an Bedeutung gewannen, konnte die GPS nicht mehr punkten. Die GPS muss wohl auch ihren Wahlkampf kritisch analysieren (lassen).

Wieso sind bei den Grünen fast nur Frauen abgewählt worden? Ist das Zufall?

Jede Serie geht einmal zu Ende. Die langfristigen Indikatoren zur Frauenrepräsentation im Parlament auf lokaler Ebene sprechen schon seit einigen Jahren von der generellen Trendumkehr. Hauptgrund ist, dass die «Nachhol»-Argumentation alleine nicht mehr zieht und das generelle Politklima konservativer geworden ist. Das alles müssen Parteien wie die GPS, die sich der Frauenförderung verschrieben haben, ernst nehmen. Darüber hinaus gibt es aber keine Hinweise, dass es eine Zwangsläufigkeit bei einer bestimmten Wahl in einem bestimmten Wahlkreis für eine bestimmte Partei gibt. 2007 trat die GPS bewusst mit Frauen im Wahlkampf auf, allen voran mit Ruth Genner. 2011 gab es das von aussen gesehen nicht mehr. Unglücklich war sicher auch der Auftritt der GPS bei den Bundesratswahlen 2010 – mit einer erfolglosen Frauenkandidatur.

In Zürich und Bern haben die Grünen 2 bzw. 3.4 Prozent Wähleranteil verloren, in Basel-Stadt und Neuenburg 1.3 bzw. 2.3 Prozent zugelegt. Wie erklären Sie sich die unterschiedlichen Ergebnisse in den Kantonen?

Das Parteiensystem ist im Umbruch: Die GLP hat etwas rot-grün Wählende angezogen. Zudem mobilisiert die Abgrenzung von der SVP nicht mehr im gleichen Masse. Und schliesslich müssen Parteien wie die GPS damit werben, was sie an konkreten Veränderungen erreicht haben. Wie stark die Effekte in den Kantonen sind, hängt vom Auftreten der neuen Parteien, in diesem Fall der GLP, ab, von ihrem Personal, von ihren Projekten, aber auch von den Leistungen in Regierung und Parlament auf der städtischen und kantonalen Ebene. In Neuenburg ist die Antwort einfach: Es gibt keine ernstzunehmende GLP. In Basel-Stadt trifft der Trend mehr die SP als die GPS. In Zürich und Bern ist demgegenüber, ausgehend von den grossen Städten, der Umbruch im vollen Gang.

Bedeutet die Abnahme der Polarisierung eine Abnahme der Polarisierung links-rechts oder eine Abnahme der Polarisierung liberal-konservativ?

Parteipolitisch sind die Gegensätze zwischen Links und Rechts grösser. Meines Erachtens sind sie, erstmals seit 1999, nicht mehr gewachsen. Neu aufgemischt wurde die Mitte, weil die FDP diese Position nicht mehr pflegt und die CVP eher macht- als sachpolitisch das Zentrum zu füllen versucht. Die beiden neuen Parteien haben Bewegung in die Polarisierung zwischen Rechts und Links gebracht, weil sie mit querliegenden Themen- und Personenangeboten das Parteiensystem aufgemischt haben. Das ist ihnen bei diesen Wahlen am ehesten mit der Kernenergiefrage geglückt. Die Migrationsfragen, die für den nationalkonservativen Pol von Belang sind, haben dagegen erstmals keine zusätzlichen WählerInnenstimmen gebracht.

Interview: Corinne Dobler

Kurzanalyse der FDP-Niederlage – für die Junge FDP

Die Junge FDP Baselstadt hat mich gebeten, eine Kurzanalyse der Wahlniederlage 2011. Hier die knappeste Form, die auch im Speaker’s Corner, der Zeitschrift Jungfreisinnigen erscheint. Meine generelle These ist: das 20-Prozent-Partei, liberaler Pol und vermehrte Profilierung nicht miteinander aufgehen.

Sie haben das Wahlergebnis der FDP.Die Liberalen mit einer Differenz von 0.1 Prozent sehr genau prognostiziert (effektives Ergebnis 15.1%, Ihre letzte Prognose 15.2%). Wieso wurde der «Krebsgang» der FDP.Die Liberalen in den vergangenen Wahlen nicht gestoppt?Die Fusion mit den Liberalen und der Ersatz beider Bundesräte haben der Partei neuen Schwung gegeben. Der Reaktorunfall in Fukushima brachte die Fahrt der FDP aber jäh ins Stocken. Die Reaktionen der Parteien waren mehrfach unklar. Davon hat sich die Partei nicht erholt. Während der Frankenkrise handelte zudem der Wirtschaftsminister wenig erfolgreich. Das alles hat der FDP als Partei nicht geholfen und verhindert, dass die FDP den angestrebten Tournaround schaffte. Immerhin, sie reduzierte die Verluste auf kantonaler Ebene während den letzten vier Jahren um rund die Hälfte.

Was braucht es, um die FDP.Die Liberalen wieder auf Wahlerfolge zu trimmen?
Aus meiner Sicht braucht es eine saubere Wahlanalyse. Die FDP träumt, der liberale Pol im Parteiensystem zu sein, damit an Profil zu gewinnen und 20 Prozent WählerInnen zu haben. Ob das alles miteinander zu haben ist, wurde bisher nicht untersucht, und es gibt kaum einen Benchmark unter den europäischen liberalen Parteien, dem man einfach so nacheifern könnte. Jetzt ist Grundlagenarbeit gefragt.

Wieso hat die FDP.Die Liberalen als einzige Partei ehemalige Wähler an die Nichtwähler verloren (laut Ihrer Umfrage)?
Die FDP hat in jüngster Zeit zu viele Neupositionierung aus der Situation heraus vorgenommen, ohne dass dabei eine erfolgreiche Parteistrategie sichtbar geworden war. Themen wie das Bankgeheimnis und die Kernenergie stehen typischerweise dafür. Oder: 2010 machte man bei der Allianz der Mitte mit, 2011 distanzierte man sich regelmässig davon. Das verunsichert jedes Mal einen Teil der bisherigen Wählerschaft. Einigermassen gebettet war meines Erachtens nur die Kurskorrektur in der Migrationsfrage, verbunden mit dem Nein zur EU, aber dem klaren Ja zu Personenfreizügigkeit.

Die Wahlumfragen zeigten denn auch, dass die Abwanderung von FDP-Wählenden zur SVP gestoppt werden konnte. Dafür ist der Übergang zur glp weiter offen denn je. In welche Richtung soll die kommende Parteipräsidentin bzw. der kommende Parteipräsident die FDP.Die Liberalen führen?
Zuerst eine Warnung: Die FDP hat in den letzten Jahren mehrfach die Köpfe an der Spitze ausgewechselt und gehofft, nun komme alles gut. Das war ein regelmässiger Trugschluss. Denn es braucht auch eine politische Analyse, ein Programm, das dazu passt, eine Generationenerneuerung, die damit verbunden wird, und einen Gesamtauftritt, der das klarer macht. Der momentane Stand der Dinge zeigt, dass man nur den ersten und letzten Punkt diskutieren will: die Parteispitze und die Kommunikation.

Wie soll die FDP.Die Liberalen auf die mögliche Bildung einer lockeren Fraktionsgemeinschaft von CVP, BDP und glp reagieren?
Kurzfristig können solche Veränderungen die Bundesratswahlen beeinflussen, mit dem ungemütlichen Aspekte, dass SVP und FDP zusammen Anspruch auf drei Sitze anmelden können. Aus meiner Sicht gibt es für die FDP aber zwei generellere Fragen zu klären: die erste betrifft das elektorale Phänomen, dass die Polarisierung gestoppt ist und sich ein neues Zentrum ohne weite Teile der FDP formiert hat, und die zweite betrifft die organisatorische Stärke dieser neuen Mitte. Lockere Gemeinschaften sind auch aus FDP Sicht einfach zu kritisieren. Eine gemeinsame Fraktion zwischen CVP/EVP und BDP oder eine Union zwischen CVP und BDP würden die FDP indessen ernsthaft herausfordern.

Was verstehen Sie unter Konkordanz?
Dass die relevanten politischen Kräfte, Parteien und Verbände, weitgehend auf Machtkämpfe verzichten, um in der Sache gemeinsame Lösungen zu finden, das an Personen delegieren, die ihre Gruppen vertreten, aber auch bereit sind, mit Repräsentanten anderer zusammenzuarbeiten und flexible Mehrheiten akzeptieren, damit sich alle Beteiligten auf Dauer identifizieren können. Das nenne ich Regierungskonkordanz, von der wir nach meiner Einschätzung einiges entfernt sind, während wir mit der plurikulturellen Gesellschaft, dem Föderalismus und der direkten Demokratie unverändert starke Konkordanzzwänge haben, die struktureller Natur sind.

Interview mit Speeker’s Corner, der Zeitschrift der Jungfreisinnigen in Basel

Die neuen Erfolgsfaktoren bei Ständeratswahlen

“Volatilität” ist das Zauberwort der Wahlanalyse, wenn sie das Mass der parteipolitischen Veränderungen von Wahl zu Wahl beurteilen müssen. Für die Wahl 2011 gilt: Nie in der jüngeren Wahlgeschichte gab es so viele Aenderungen wie diesmal. Und zwar im National- wie auch im Ständerat.

volatil
Die Volatilität ist eine Masszahl, um die absolute parteipolitische Veränderung von Sitzen von einer Wahl zur anderen zu beurteilen.

Nun wissen wir es: Nie wurde der Ständerat so umgekrempelt wie aktuell. Der Volatilitätsindex für die parteipolitischen Veränderungen erreichte den bisherigen Höchstwert. Der Ständerat rückte demnach nicht nur nach links, es veränderte sich auch seine Zusammensetzung. Besser als Bilanzen von Sitzverschiebungen, die Veränderungen in die eine mit denjenigen in die andere verrechnen, eignet sich der Volatilitätsindex die Bruottoverschiebungen zu beurteilen. Er ist damit ein Mass für die Stabilität resp. Labilität der parteipolitischen Zusammensetzung.

Uebertragen auf die individuelle Ebene der gewählten spricht man eher von Fluktuation. Dies ergibt sich aus den Rücktritten und Abwahlen. Sie kann analysiert werden, um die alten und neuen Erfolgsfaktoren abzuleiten, wie man StandesvertreterIn wird. Hier eine erste Uebersicht:

Zunächst trifft zu, dass das “Bisher” eine starke Empfehlung bleibt. Unfreiwillig ausgeschieden sind Bruno Frick von der CVP Schwyz und Adrian Amstutz aus den Berner SVP-Reihen. Etwas abgeschwächt gilt sodann, dass die KandidatInnen aus der Partei des bisherigen Sitzinhabers einen Vorteil haben. Das missriet der FDP in Schaffhausen, und es gelang der SVP der (erzwungene) Personalwechsel im Aargau nicht. In St. Gallen konnte die CVP mit dem Kandidaten, der erst im zweiten Wahlgang antrat, nicht halten.

Quereinsteiger wie Thomas Minder bleiben im Ständerat die Ausnahme. Erfolgversprechend ist es, das Mandat als Höhepunkt einer politischen Karriere anzustreben. Praxiserfahrung einerseits, Bekanntheit anderseits zählen. Dazu zählen, dass man bereits politische Aemter inne haben mussten; förderlich ist auch eine regelmässige, anhaltende Medienpräsenz.

Aus dem Profil der Neugewählten kann man schliesslich folgern, dass ehemalige und bestehende RegierungsrätInnen (Eberle/TG, Keller-Sutter/SG) gute Chancen haben, diese Aussage selbst auf Stadtpräsidenten (Stöckli/BE) ausgeweitet werden kann. Es gibt auch einen Trend gibt, dass PolitikerInnen, die sich als RatspräsidentInnen (Bruderer/AG) einen Namen gemacht haben (2003 Egerszegi, 2011 Bruderer), den Sprung ins Stöckli schaffen. Hingegen ist die Qualifikation “Nationalrat/Nationalrätin” nicht hinreichend, um in den Ständerat gewählt zu werden. Das hat auch damit zu tun, dass zahlreiche von ihnen die Doppelkandidatur anstrebten, nicht zuletzt um den Sitz in der grossen Kammer zu sichern; das Ständeratsergebnis war ihnen sekundär.

Die Erfolgskriterien im ersten und zweiten Wahlgang sind unterschiedlich: In der ersten Runde spielt die Stärke der eigenen Partei als Hausmacht eine wachsende Rolle, im zweiten ist die Fähigkeit der Kandidatur massgeblich, über Parteigrenzen hinweg Positiv- oder Negativ-Allianzen eingehen zu können. Letzteres gelingt der SP immer besser, derweil die SVP gerade hier ein Problem hat. Die bisher wichtige Unterscheidung zwischen Erfolgsfaktoren in der Romandie und in der Deuschschweiz ist eher geringer geworden; dafür gibt es zunehmend divergente Entwicklungen in urbanen und ruralen Kantonen. So sind in Zürich zwei Standesvertreter aus mittelgrossen Parteien erfolgreich gewesen, die breite Ausstrahlung als (mediatisierte) Personen hatten, während der Kanton Schwyz neu gleich zwei SVP-Standesherren nach Bern schickt.

Claude Longchamp

Der Ständerat rückt nach links

Eben ist die letzte Ständeratswahl entschieden worden. Im Kanton Solothurn nimmt die CVP der FDP einen Sitz ab. Damit ist auch die kleine Kammer des eidgenössischen Parlaments komplett. Gegenüber 2007 rückt der Ständerat dank den Sitzgewinnen der SP etwa nach links, und in der kleinen Kammer wurden die kleinen Parteien etwas gestärkt. Eine Uebersicht.

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Am besten vertreten ist im neuen Ständerat die CVP, gefolgt von FDP und SP, die gleich auf sind. Sie stellen 13 resp. 11 KantonsvertreterInnen. Danach klafft eine grosse Lücke; die SVP kommt auf 5 Vertreter, die GPS und die GLP auf je 2 Mandate, während die BDP 1 Standesvertreter hat. Hinzu kommt Thomas Minder aus Schaffhausen; er will sich als Parteiloser der SVP anschliessen.

Gegenüber der Vorwahl im Jahre 2007 legt die SP mit 2 Sitzgewinnen am meisten zu; gestärkt werden auch GLP, BDP und Parteilose. Es verlieren die SVP und CVP je 2 Mandate und die 1 hat eines weniger. Halten kann sich die GPS.
Deutlicher nich wird die Entwicklung weg vom Zentrum hin zu rotgrün, wenn man auf die Trends über eine Wahl hinweg abstellt. Augenfällig ist der Niedergang der FDP, die im Ständerat von 1999 noch 18 Sitze hatte. 19 hatte die CVP 1987. Beide Parteien verlieren seither bei den Ständeratswahlen Mandate, können sich bestenfalls halten.
Im neuen Ständerat verfügen CVP und FDP noch über eine gemeinsame Stärkte, die für das absolute Mehr gerade noch reicht. Die CVP hat die Möglichkeit, das auch via SP zu suchen. Hatte diese Partei 1991 nur 3 VertreterInnen in der kleine Kammer, ist sie heute mit 11 auf dem historischen Höhepunkt. Aufgestiegen sind auch die GPS und GLP, die beide im Ständerat von 2003 noch nicht repräsentiert waren. Das gilt auch für die BDP, die offiziell seit neuestem ein Ständeratspartei ist. Der SVP, stärkste Partei im Nationalrat, gelang es dagegen nicht, im Ständerat zuzulegen. Zum zweiten Mal in Serie verringerte sich die Zahl ihrer Vertreter in der kleinen Kammer.
Spannen CVP, FDP und SVP zusammen, hat das bürgerlichen Lager eine konfortable Mehrheit im Ständerat. Das können aber auch CVP, SP und GPS erreichen, genauso wie CVP, SP, GLP und BDP. Trotz den Sitzverlusten bleibt die Scharnierfunktion bei der CVP; sie wurde eher noch gestärkt, denn sie kann sie in Bündnissen von 3 Parteien nach rechts und links herstellen, während die FDP das nach links nicht mehr wirklich kann.

Claude Longchamp

Dem Sturm aufs Stöckli ist die Luft ausgegangen

Die SP ist die Wahlsiegerin bei den diesjährigen Ständeratswahlen. Ganz anders als es die SVP anfangs Jahr prophezeit hatte. Eine ausgebaute Version meiner Instant-Analyse.

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Die 3B der SVP: Brunner, Blocher, Baader, Spitzenkandidaten bei den Ständeratswahlen 2011, sind in der Volkswahl alle gescheitert.

Es war nicht Christoph Blochers Tag. Zuerst scheiterte seine zweite Kandidatur für den Ständerat im Kanton Zürich grandios. Damit war er indes nicht allein. Nach Bern verlor seine SVP auch den Ständeratssitz im Aargau, und neben Zürich hatte die SVP auch in St. Gallen keinen Erfolg. Noch schlimmer: Vor laufender Kamera negierte der SVP-Stratege, es habe je einen Generalangriff auf den Ständerat, den Sturm auf Stöckli, gegeben. So verärgert war er.
Die Fakten jedenfalls zeigen, dass die kleine Kammer nicht die Dunkelkammer der Nation ist, wie es im Wahljahr von der SVP beklagt worden ist. Sicher, Namensabstimmungen werden, anders als im Nationalrat, im Ständerat nicht elektronisch dokumentiert. Doch heisst das nicht, dass man nichts über das Stimmverhalten der Standesvertretungen und die Präferenzen der kleinen Kammer wüsste. Ueberhaupt, seit der jüngst erfolgten Renovation des Ständeratssaals könnte man die zweite Parlamentsabteilung auch die chambre de lumière nennen.

Der neu erleuchtete Saal wird, bei der Eröffnung der neuen Legislatur, neu besetzt sein. Bis auf den zweiten Sitz in Solothurn ist zwischenzeitlich alles klar: Der neue Ständerat wird 12 oder 13 CVP-VertreterInnen haben, 11 bis 12 Abgeordnete mit FDP-Parteibuch, 11 von der SP, 5 aus den SVP-Reihen, je 2 der GPS und GLP und 1 der BDP. Hinzu kommt der parteilose Thomas Minder, der sich einer Fraktion anschliessen will, ohne schon zu wissen welcher.
Insgesamt ist der neue Ständerat nicht rechter, sondern linker bestückt sein. Verglichen mit 2007 hat die SP zwei Mandate mehr, die GLP, die BDP und die Parteilosen je eines. Die CVP verliert 2 oder 3, die SVP 2, die FDP allenfalls 1. Da während den letzten 4 Jahren je ein Sitz von der SVP zur BDP, von der CVP zur GLP und von der SP zur SVP verschob, sind die kurzfristigen Veränderungen quantitativ recht gering.
Stellt man dagegen auf den Ueberblick der letzten 20 Jahre ab, hat sich die SP von 3 auf 11 Sitz gesteigert, und ihren Rekordstand erreicht. Die SVP legte von 4 auf 5 zu, war vorübergehend einmal bei 8. Neu im Ständerat sind die GPS und die GLP. Zugenommen hat damit die Pluralisierung der vertretenen politischen Richtungen, etwas höher ist auch die Polarisierung. Bezahlt haben diesen Wandel weitgehend die FDP, die von 18 auf 11 oder 12 sinken wird, und die CVP deren Vertretung sich von 16 auf 12 oder 13 verringern könnte. Für beide Parteien ist dies ein historischer Tiefststand.

Hauptgrund für diese Entwicklungen sind die Veränderungen in der Allianzbildung. Majorzwahl gewinnt man als Minderheitspartei jedweder Grösse nur mit überparteilichen Absprachen. Im zweiten Wahlgang mögen diese rein taktisch sein, im ersten sind sie strategisch. Genau das hat sich in den letzten zwei Dekaden verändert. Gewachsen ist die Zahl der KandidatInnen im ersten Wahlgang, was das parteiegoistische Stimmen vermehrt hat; das hat die Abwahlchancen selbst Bisheriger erhöht, und den direkten Einzug in den Ständerat erschwert. Dabei hat sich der vormals entscheidende bürgerliche Schulterschluss Stück für Stück verringert, was insgesamt allen Parteien rechts der Mitte geschadet hat. Gleichzeitig ist insbesondere im zweiten Wahlgang einiges mehr möglich geworden, vor allem die Abgrenzung gegenüber Polparteien.

Was lange links geschadet hat, wirkt sich heute gegen rechts aus. Konnte die SVP bis 2003 ihre Ständeratsvertretung schrittweise verstärken, wird diese seither ebenso von Mal zu Mal geringer. Warum? Hier meine Hypothesen:
Erstens, die SVP hat sich zusehends parteipolitisch isoliert. Sie hat das Profil der Partei bei der Benennung von Missständen über alles gestellt. Das hilft in polarisierten Wahlen neue Wählende zu mobilisieren, was im Proporzwahlrecht ein Erfolgsgarant ist. Bei Majorzwahlen kann dies jedoch genau den gegenteiligen Effekt haben. Den nötigen Sprung zur staatstragenden Partei hat sie definitiv nicht geschafft.
Zweitens, die SVP setzte insbesondere bei diesen Ständeratswahlen auf ihre schwergewichtigen Nationalräte. Das ist angesichts der Funktion des Ständerates, die Kantonsvertretung im Bund zu sein, aber auch der Kultur des überparteilichen aufeinander Zugehens, kein Erfolgsrezept. Zu gut weiss man: zu profilierten Köpfen versagt man im Ständerat gerne die Unterstützung bei ihren Vorstössen.
Drittens, die SVP lancierte ihren Ständerats-Angriff 2011 zentralisiert mit der übergeordneten Botschaft, Licht in die Dunkelkammer zu bringen. Das alleine war ein Anspruch voller Despektierlichkeit, die in einem rechtspopulistischen Umfeld gehen mag, für eine Kantonsvertretung indessen keine gültige Basis abgibt.
Viertens, die SVP übertrieb es mit ihrer Wahlwerbung. Was 2007 wegen den Inhalten schon Thema war, wurden 2011 schlicht als Versuch gewertet, politischen Erfolg erkaufen zu wollen. Das ruft bei der Konkurrenz Nein hervor, und es hinterlässt bei den Wählenden den Eindruck, dass mehr vor und weniger hinter der Aktion steckt.

So war das Rezept falsch, auch wenn die Diagnose der SVP nicht einfach von der Hand zu weisen ist. Der Ständerat hat sich nach strukturell nach links bewegt, für rote und grüne Parteien geöffnet. Das hat mit der Neudefinition der politischen Lager zu tun, vor allem zwischen Stadt und Land. Auf dem Land mag der Rechtskurs gehen. Die Doppelvertretung der SVP im Kanton Schwyz ist Ausdruck davon. In den Städten ticken die BürgerInnen jedoch anders: nicht mehr nur in der Romandie, auch in beiden Basel, Bern, Aargau und St. Gallen schicken lieber (parteipolitisch)gemischte Doppel nach Bern, die unter sich ausmachen sollen, was wohin das Pendel der ungeteilten Standesstimme in wichtigen Fragen ausschlagen soll, als dass ungeschaut das bürgerliche Lager, das es immer weniger gibt, stimmen würden.

Auch das ist ein Teil der neuen Abstimmung, Harmonisierung oder Zentrumsbildung, von der man seit diesen Wahlen wieder vermehrt spricht. Wahrlich, kein Tag für Alt-Bundesrat Blocher, der so vieles erreicht hat, wohl aber nie Zürcher Ständerat werden wird.

Claude Longchamp

Von der Allianzbildung im neuen Parlament

Die neue Legislatur rückt näher, die Fraktionen bilden sich und die letzten Stichwahlen in den Ständerat finden demnächst statt. Ein guter Moment, über Allianzbildung im neuen Parlament nachzudenken.

Noch kennt man die definitive Zusammensetzung des Ständerats nicht. Unterstellt man aber, dass an diesem Wochenende Verena Diener und Felix Gutzwiller im Kanton Zürich, Bruno Frick in Schwyz, Markus Stadler in Uri sowie Toni Brunner oder Paul Rechsteiner in St. Gallen gewählt werden und sich in einer Woche Pirmin Bischof in Solothurn durchsetzt, wird die SVP unverändert die grösste Fraktion stellen, neu die SP folgen, dann die vergemeinschaftteten CVP/EVP kommen und die FDP die viertgrösste Gruppe im Bundeshaus sein. Dahinter reihen sich GPS, GLP und BDP ein. Keine eigene Fraktion bilden können die Lega und das MCR; das gilt auch für den Schaffhauser Ständerat Thomas Minder.

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Die von links geforderte Mitte-Fraktion aus CVP und kommt offenbar nicht zustande. Das liessen CVP und BDP gestern von sich hören. Damit tauschen die SP und die CVP ihre Positionen in der Fraktionsgrösse definitiv. Die CVP, aufgestockt durch CSP und EVP, rangiert indessen unverändert vor der FDP-Fraktion.

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Was heisst das für die anstehenden Bundesratswahlen? – Relativ wenig, ist meine erste Antwort. Bezogen auf die Parteistärke ist die FDP vor der CVP, wenn man auf die Parlamentssitze abstellt, ist es umgekehrt. Ohne starke Zentrumsfraktion bleibt das numerische und politische Gewicht der neuen Mitte zurück. Die Arithmetik spricht für je 2 SVP- und SP-Regierungsitze, während es auf die verwendete Kennzahl ankommt, ob FDP, CVP auf zwei Sitze kommen. Rechnerisch nicht begründen lässt sich der BDP-Sitz, denn die GPS ist stärker. Eveline Widmer-Schlumpf wird man also nur aus der Konstellation heraus für den neuen Bundesrat empfehlen können: im Sinne des Status Quo, zur personellen Stabilisierung des Gremiums oder als Beitrag zur parteipolitischen Sicherhung der Ausstiegsmehrheit im Bundesrat.

Sachpolitisch sind im kommenden Parlament mehrere Zusammenschlüsse mehrheitsfähig. Reduziert man das auf zwei Parteien, erfüllen SVP und SP das Kriterium im Nationalrat, nicht aber im Ständerat. Politisch macht das aber am wenigsten Sinne, allenfalls als Blockiermehrheit in der grossen Kammer. Numerisch über keine Mehrheit verfügen SVP und FDP, die beide damit liebäugeln, im Bundesrat eine Mehrheit stellen zu können. Diese wäre aber in keiner der beiden Kammer abgestützt, sodass es einen weiteren Partner bräuchte.

Treten Links und Mitte geeint auf, verfügen sie sowohl im National- wie auch im Ständerat über eine Mehrheit. Einfach ist das indessen nicht, denn es braucht eine Koordination von GPS, SP, GLP, CVP/EVP und BDP. Das stärkt die Position der CVP. Denn kann auch nach rechts Mehrheiten beschaffen. Im Ständerat reicht es wohl ganz knapp mit FDP und BDP, im Nationalrat indessen nicht. Da braucht es entweder ein Zusammengehen mit der SVP, zumindest mit einer Minderheit deren Fraktion. Generell wird auch die FDP die Möglichkeit haben, eine Scharnierfunktion einzunehmen. Kooperiert sie mit den linken neuen Mitte-Parteien, reicht es ebenfalls für Mehrheiten in beiden Kammern, selbst wenn die CVP dagegen hält. Die Wahrscheinlichkeit einer solchen Allianz ist aber gering. Mehrheitsfähig ist schliesslich auch die bürgerliche Allianz, zusammengesetzt aus SVP, CVP/EVP und FDP. Da braucht es die BDP nicht.

Oder anders gesagt: Sichere Allianzen ergeben sich nur aus drei Fraktionen: Das ist der Fall, wenn sich SVP, FDP und CVP absprechen oder wenn dies zwischen SP, CVP und FDP der Fall ist. Denkbar sind aber Allianzen aus SP und CVP, erweitert durch die kleinen Fraktionen von GPS, GLP und BDP, und à la Limit funktioniert dies auch mit der FDP- statt der CVP-Fraktion.

Das ist nicht ganz anders als im alten Parlament, aber auch nicht mehr ganz gleich. Gestärkt wurde auf jeden die Mitte/Links-Variante in beiden Kammer, geschwächt die Allianzbildung der FDP nach links. Bei einer Fusion oder Fraktionsgemeinschaft von CVP und BDP würde alles klarer. Denn nur die neue Mitte hätte die Möglichkeit, sowohl nach rechts wie auch nach links Mehrheiten herzustellen. Die FDP wäre dieser Möglichkeit beraubt.

Claude Longchamp