Sozialdemokratie in der Krise: den Gerechtigkeitsbegriff neu schärfen

Während sich die SPD an ihrem heutigen Parteitag auf die Bundestagswahl als Kampf ums Bundeskanzelramt einschwört, kommt der Politikwissenschaftern Wolfgang Merkel in der “NZZ am Sonntag” in seiner Analyse der Niederlage der Sozialdemokratie bei den jüngsten Europa-Wahlen zum Schluss: Die Partei muss den fair organisierten Zugang zu individuellen Qualifikationen ins Zentrum ihres neuen Gerechtigkeitsbegriffes lenken.

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Wolfgang Merkel, Direktor des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, analysiert die Zukunft der Sozialdemokratie

Merkel, selber parteilos, aber Mitglied der Grundwertekommission der SPD und Berater des rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck, mag sich bei der Ursachenklärung für den Absturz der europäischen Soziademokratie bei der Wahl ins Europa-Parlamentes nicht mit den viel zitierten Besonderheiten dieser Wahl aufhalten. Vielmehr sieht er die fast flächendeckenden Misserfolg der SP in Regierungen (wie in Grossbritannien, Deutschland, Oesterreich, Spanien, Portugal) wie auch in der Opposition (wie Frankreich, Finnland, Dänemark, Schweden) in den programmatischen Positionen und ihren Umsetzungen.

Die Sozialdemokratie werde, schreibt Merkel, heute von mehreren Seiten gleichzeitig herausgefordert: Zuerst von den regierenden Christendemokraten, die seit der Wirtschaftskrise in der Mitte Terrain zurückerobern würden. Staatseingriffe seien für sie kein Tabu mehr, der Keynesianismus zurück, Regulierungen wieder in und selbst Verstaatlichungen würden nicht mehr überall ausgeschlossen. Die Abkehr von neoliberalen Positionen führe reihum zu vermehrt anerkannter Wirtschaftskompetenz in der Bevölkerung, ohne dass die Liberalen auf der anderen Seite wirklich profitieren könnten.

Zweitens gäbe es, analysiert Merkel, selbst in den Kernschichten der Sozialdemokratie parteipolitische Konkurrenz: die Grünen werben unbekümmert in den mobilen, neuen Mittelschichten, die Postkommunisten bei den gewerkschaftliche organisierten Staatsangestellten und die nationalistische Rechte bei der durch Immigration verunsicherten Arbeiterschaft in der Privatwirtschaft.

Das alles müsse nicht sein, meint Wolfgang Merkel. Denn das Kerngeschäft der Sozialdemorkatie bleibt die Weiterentwicklung ihrer sozialpolitischen Kompetenz. Diese dürfe sich aber nicht auf die Feuerwehrrolle für den Krisenfall beschränken; sie müsse die BürgerInnen mit Fähigkeiten ausrüsten, ihr Leben selber gestalten zu können.

Unter Blair, Schröder und Persson seien die Sozialdemokraten richtigerweise in die Mitte aufgebrochen, dabei aber zu weit gegangen. Denn sie hätten mit ihrem “dritten Weg” die soziale Ungleichheit nicht verringert, sondern ihre Vergrösserung zugelassen. Das habe ihr Projekt flächendeckend diskrediert und die Demobilisierung resp. Abwanderung der Wählerschaft eingeleitet.

Merkel grenzt sich von allen Untergangstheorien in den Sozialwissenschaften und der linken Ideologie ab. Vielmehr sieht er die Sozialdemokratie in einem Wellental, aus dem sie wieder hervorkommen könne, sollte sie sich den Ueberlegungen des indischen Nobelpreisträgers für Wirtschaft, Amartya Sen, anschliessen, der zurecht den fair organisierten Zugang zu individuellen Qualifikationen ins Zentrum seines Gerechtigkeitsbegriffes gerückt habe.

Claude Longchamp

EU-Wahl: Resultateübersicht nach Ländern in zeitlicher Perspektive

Vertiefenden Analysen zur Wahl 2009 ins Europäische Parlament gibt es bisher kaum. Das hat mitunter damit zu tun, dass die gesamteuropäischen Uebersichten sehr mangelhaft sind.

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Das mediale Interesse an der Europawahl schwindet bereits rapide. Der Alltag regiert wieder. Dass es bisher kaum Analysen gibt, hat mitunter damit zu tun, dass Ueberblick über die Zeit und den Raum eher schwer zu finden sind.

Die bisher einzige Uebersicht über Sitze und Parteienstärken nach Ländern bei der aktuellen und der vorhergehenden Wahl findet sich im Vertiefungsdossier von “Financial Times”.

Eine Uebersicht über alle amtlichen Wahlergebnisse zwischen 1979 und 2004 nach Mitgliedstaaten gibt es beim Mannheimer Zentrum für europäische Sozialforschung.

Materialreich ist im Uebrigen die Ergebnisseite des Münchner Centrums für angewandte Politikforschung (CAP). Das gibt es auch zahlreiche Links zu Themenseiten und Blogs, die bei der Materialbeschaffung für vertiefende Auswertungen nützlich erscheinen.

Man könnte als mit der Analyse der grössten demokratischen Wahl in Europa beginnen!

Claude Longchamp

Prognose und Resultat im Vergleich

Im umittelbaren Vorfeld der EU-Parlamentswahlen präsentierte www.predict09.eu eine Vorhersage zum Ausgang der jüngsten Wahlen. Jetzt legte das Team um Simon Hix und Michael Marsh eine Evaluierung in eigener Sache vor: zu 90 Prozent richtig, ist ihr Urteil.

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Die von den Prognostikern von www.predict09.eu kommunizierte und hier auch besprochene Sitzverteilung differiert mit ihrer Analyse des Ergebnisses kaum, – mit der veröffentlichten Sitzverteilung auf der offizielle Website des EU-Parlamentes indessen schon. Das stellt die spannende Frage: Sind Prognosen genauer als Ergbnisse?

In der Tat gibt es bei den EU-Wahlen zwei Sorten von Resultaten. Die faktischen auf dem Stand heute, und die hypothetischen, wie sie bei der Eröffnung der neuen Legislatur sein werden. Bis dann können neuen Fraktionen entstehen resp. können sich fraktionslose Gewählte einer Partei anschliessen.

Nun macht www.predict09.eu auch hierzu eine Prognose. Die wichtigste Aussage ist, dass rund um die britischen Konservativen eine neue Fraktion der Europäischen Konservativen entstehen wird.

Stellt man das in Rechnung sind, die Abweichungen gering: bei der Sozialdemokraten lag die Prognose 10 Sitze zu hoch, bei den Christdemokraten dafür um 5 zu tief. 5 Sitze besser als erwartet dürften auch die neuen Konservativen abschneiden. Abweichung in dieser Grössenordnung gibt es auch bei den Linken, Unabhängigen und Fraktionslosen.

In der Schlussfolgerung heisst es: “Looking at the number of seats won by each national party, our model correctly predicted 661 seats – which is 90% of the total.” Auf der aggregierten Ebene stimmt die Vorhersage nach eigenen Berechnung gar um 98 Prozent.

Vorausgesetzt, die neuen Europäischen Konservativen machen das, was man ihnen auch vorhersagt …

Claude Longchamp

Demobilisierung und Abwanderungen – zwei gleichzeitige Ursachen der SP-Niederlage

Das Ergebnis der SozialdemokratInnen wird wohl noch länger zu Reden geben. Erhebliche Demobilisierung und rechtsnationale Abwanderungen dürften die Hauptursache sein.

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Wählerstromanalyse sind praxisorieniterte Schätzungen der Wanderungen von Wählenden nicht nur zwischen den Parteien, sondern auch zu den Nicht-Wählenden

Die vorläufig interessante Einzelanalyse liegt aus Oesterreich vor, wo die Sozialdemokraten annähernd 10 Prozentpunkte im WählerInnen-Rating verloren.

Gemäss der WählerInnnenstrom-Analyse des Wiener Forschungsinstituts SORA ist die Demobilisierung der bisherigen Wählerschaft die Hauptursache. Der SP gelang es nicht mehr, die bisherige Wählerschaft zu überzeugen, dass sich die Stimmabgabe lohnt. Das spricht für ein erhebliches Mass an Enttäuschung.

An zweiter Stelle stehen Verluste an die Liste “Martin”, dessen zentrale Figur vormals Mitglied der SPOe war. Er hat sich aber ins Lager der EU-Kritiker verabschiedet, um von einem rechtsnationalen Standpunkt aus die Anliegen des “kleinen Mannes” zu vertreten. Dazu passt auch, dass die dritte und vierte Ursache in den Wechselwählerbewegungen hin zur FPOe, ja selbst zum erfolglosen BZOe zu sehen sind.

Beide Phänomene, Demobilisierung und Wanderungen zu den Rechtsnationalen, sind nicht ganz neu, im Ausmass aber weitgehend unbekannt. Sie dürften durch einen mangelnden Ausweis der gemässigten Linken bei der Arbeitsplatzsicherheit während der Weltwirtschaftskrise verursacht sein. Bei Europawahlen kommen solche Enttäuschung stärker zum Ausdruck als bei nationalen oder lokalen Entscheidungen.

So begründet lassen sich auch die zentralen Hypothesen formulieren, wie die Verluste anderer Sozialdemokraten in Regierungspositionen analysiert werden können.

Spezifisch “österreichisch” dürfte sein, dass die Niederlage der SPOe noch deutlicher ausgefallen wäre, hätte die Partei nicht ein positive Wechselbilanz gegenüber den Grünen gehabt. Diese hatten im Vorfeld der Wahl ihre eigen EU-Position soweit demontiert, dass sie unglaubwürdig wurden. Auf europäischer Ebene wird man diesen Befund nicht finden; da dürften die Sozialdemokraten eine beschränkt negative Wechselbilanz zu den Grünen haben.

Claude Longchamp

Das (vorläufige) Ergebnis der EU-Wahl 2009

Die zentralen Stichworte zum Ergebnis der Wahlen 2009 ins Europäische Parlament sind Demobilierung, Verluste für die Sozialdemokratie, Gewinne für die EU-kritischen Rechtsnationalisten und die Grünen.

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Nimmt man die vorläufigen Endergebnisse zur Wahl 2009 ins Europäische Parlament als Massstab, sind die Sozialdemokraten die grossen Verlierer der Wahl. Ihr WählerInnen-Anteil verringert sich um 5,5 Prozentpunkte. Einzige sichere Gewinnerin in Prozent sind die Grünen, die 1,6 Prozentpunkte zulegen. Alle anderen Parteien können sich halten oder erleiden minimale Verluste.

Entscheidend ist aber, was die 90 gegenwärtig fraktionslosen PolitikerInnen machen werden. Sie repräsentieren 12,4 Prozent der Wählenden; 8,6 Prozentpunkte mehr als vor 5 Jahren.

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Der Wert wird sich bis zur konstituierenden Sitzung des Parlamentes am 14. Juli 2009 mit Sicherheit verrringern. Denn mehr als die Hälfte der “Fraktionslosen” entsteht durch die britischen Konservativen und den italienischen Partito Democratico. Hinzu kommen die tschechische ODS, die niederländisch PVV und die österreichischen Listen der FPOe und des Dissidenten Martin. Ohne sie machen die Fraktionslosen noch 21 Sitze oder knapp 3 Prozent der Wählenden aus.

Aufgrund der wahrscheinlichsten Entscheidungen ist davon auszugehen, dass die rechtsnationale Fraktion “für eine Europa der Nationen” (UEN) noch klar gestärkt werden wird und sich die Verluste für die Europäischen Sozialdemokratie durch Italiens Demokraten verringern werden.

Damit dürfte die Verteilung der Kräfteverhältnisse im neuen Europäischen Parlament ähnlich wie bisher sein. Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale stellen unverändert die drei grossen Fraktionen, dahinter dürften sich neu die Rechtsnationalen vor den Grünen und den Linken etablieren. Mitte-Rechts macht das Schwergewicht aus, für eine absolute Mehrheit sind Christdemokraten und Liberale aber auf weitere Unterstützungen angewiesen.

Insgesamt halten sich die Veränderungen aufs Ganze gesehen damit in Grenzen. Verringert hat auch die Wahlbeteiligung. Das spricht dafür, dass Demobilisierung das zentrale Stichwort bei der Wahl ist und namentlich die Sozialdemokraten getroffen hat. Hinzu kommen Wechselwählen und Umpositionierungen der Parteien.

Claude Longchamp

Ratlosigkeit, Angst und Zorn

Ralf Dahrendorf ist der Altmeister der Gegenwartsanalyse. Letzte Woche las ich von ihm unter dem Titel “Die Revolution bleibt aus!” eine Kolumne, die mir angesichts der ersten Ergebnisse zur Wahl ins Europäische Parlament unweigerlich wieder in den Sinn kommt.

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Ralph Dahrendorf, vormals EU-Kommissar, Soziologe, analysierte letzte Woche die Stimmungslage in Europa treffend

Die Grundstimmung beschrieb der liberal eingestellte, in der Oeffentlichkeit sehr präsente Soziologe so: Die Welt wird durch die Wirtschaftskrise geschüttelt. Doch steckt sie nicht in einer revolutionären Situation. Es gibt keine Energie der Veränderung. Denn es überwiegt die Ratlosigkeit. Sie ist gepaart mit Angst. Und diese verbindet sich mit Zorn.

Diese Mischung, sagt der Professor für sozialen und politische Theorie, kann jederzeit explodieren, wo auch immer. Das soll aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die realen Aussichten für die meisten BürgerInnen nicht rosig sind. Und das nicht nur für den Moment.

Dahrendorf, vormals EU-Kommissar für Deutschland, verglich in der Kolumne die jetzige Stimmungslage mit der der 30er Jahren des 20. Jahrhunderts Mustergültig erarbeitet worden seien die Reaktionsweisen der Arbeiterschaft nicht durch Karl Marx, sondern durch Marie Jahoda. Wer galubte, es folge die Zeit des Aufbruchs, liege falasch. Denn damals wie heute überwog und überwiegt die Resignation. Und die ist keine politisch gestaltende Kraft. Maximal eine der Abrechnung.

Die Resultate zur Wahlbeteiligung, mit 43 Prozent ein historischer Tiefstwert (und gar noch tiefer als bei schweizerischen Parlamentswahlen!), aber auch die Ausschläge bei den Parteien lassen kaum einen anderen Schluss zu.

Claude Longchamp

Die Resultatevermittlung der Wahlen ins Europäische Parlament beginnt mit einer Panne

laufende Resultateübersicht hier
offizielle Wahlergebnisse hier

Vor Schliesslung der letzten Wahlurne am Sonntagabend um 22 Uhr darf nach Vorgaben der EU-Kommission kein Ergebnis zur Wahl ins Europäische Parlament veröffentlicht werden. Doch ist der Bann mit der Veröffentlichung der voraussichtlichen Resultate in den Niederlanden seit Donnerstag abend gebrochen.

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EU-Parlament in Strassburg, wo am 14. Juli 2009 die neue Legislatur eröffnet wird. Morgen abend werden offiziell die Wahlergebnisse bekannt geben.

Die Niederländer und Briten waren am Donnerstag die ersten Mitgliedstaaten der EU, die über das neue EU-Parlament in Strassburg entschieden. Zwischenzeitlich sind die Wahlen auch in Irland, Lettland, Malta, der Slowakei, Tschechien und Zypern abgeschlossen. Die letzten Urnen schliessen in Italien und Portugal am späten Sonntag abend.

Um zu verhindern, dass die Wahlergebnisse in einem Mitgliedstaat die Entscheidungen in einem anderen beeinflussen, empfahl die EU-Kommission alle Mitgliedern mit der Resultatevermittlung bis am Sonntag abend 22 Uhr zuzuwarten. Die Wahlbeteiligung wird offiziell um 21 Uhr mitgeteilt.

Das alles hat sich schnell als frommer Wunsch erwiesen. Die Ergebnis in den Niederlanden mit dem Sieg der rechtsnationalen PVV von Geert Wilders konnten nicht unter dem Deckel gehalten werden und wurden umgehend verbreitet. In Den Haag begründete man dies damit, die niederländischen WählerInnen hätten ein Recht, das Wahlresultat sofort zu erfahren.

Doch ist das Ansinnen der Kommission auch aus einem anderen Grund illusorisch: Wahlnachbefragungen lassen sich im vorhandenen Zeitraum durchführen, sodass mit einer Reihe inoffizieller Ergebnisverkündigungen zu rechnen ist.

Morgen Sonntag ist auch damit zu rechnen, dass der Resultatefluss zu den besten Zeiten für die Abendsendungen im Fernsehen wieder einsetzen wird. Ab 18 Uhr erwartet man deshalb Hochrechnungen in verschiendenen Mitgliedstaaten.

Claude Longchamp

Link zu den offiziellen Ergebnissen

EU-Parlament: eine Wahl der “zweiten Wahl”?

Die erwartete tiefe Beteiligung bei den Wahlen ins Europäische Parlament ist ein wichtiges Kennzeichen für eine “Wahl zweiter Wahl”. Das Konzept der “second-order-election” lässt erwarten, dass rechtskonservative wie linksgrüne Protestparteien gegen die jeweiligen Regierungen über dem bekannten Masse hinaus Erfolge erzielen.

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In der einfachsten Definition sind Wahlen da, um die politische Machtverteilung zu regeln. Wenn der Präsident nicht direkt gewählt wird, hängt doch minimal die Wahl des Parlaments direkt von der Volkswahl ab.

Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts verwendet die Politikwissenschaft die Begriffe der first- or second-order-election, um die Wichtigkeit von Wahlen zu kennzeichnen. Von Letzterem spricht man, wenn eine Wahl als zweitrangig angesehen wird. Das äussert sich einerseits in einem geringeren Engagement von Parteien, die nicht selten nur zweitklassige VertreterInnen für die Parlamentsämter nominieren. Es kommt aber auch in der geringeren Aufmerksamkeit einer Wahl durch die Medien zum Ausdruck. Schliesslich kann die Höhe der Wahlbeteiligung herangezogen werden, um eine first- von einer second-order-election zu unterscheiden.

Eingeführt wurde der Begriff im Zusammenhang mit den Wahlen ins Europäische Parlament von 1979, die in der Folge als weniger wichtig gelten. In der Tat zeigten die meisten EU-Wahlen in den westlichen Demokratien die Kennzeichen einer Entscheidung der “zweiten Wahl”; das war aber 2004 in den neuen Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa nicht der Fall.

Das Konzept ist nützlich, weil es ein in mehrfacher Hinsicht ein besonderes Wählerverhalten annimmt. Zu der geringeren Mobilisierungsbereitschaft des Elektorates kommt eine steigende Bereitschaft hinzu, second-best Entscheidungen zu treffen, das heisst, auch als WählerIn einer Regierungspartei bei nationalen Wahlen eine Aussensseiter- oder Protestparteien auf EU-Ebene zu unterstützen. Hauptgrund hierfür ist, dass Unzufriedenheit mit der bestehenden Regierung ausgedrückt wird, ohne diese direkt zu sanktionieren.

Angesichts der Wirtschaftskrise und politischem Protest von rechts und links gegen die nationalen Regierungen kann man auch am kommenden Sonntag von entsprechenden Signalen einer second-order-election ausgehen. Bedroht erscheinen vor allem die Regierungen in Grossbritannien und in Ungarn.

Claude Longchamp

Wo stehen Sie in der europäischen Parteienlandschaft?

“smartvote” kennt in der Schweiz bald jede und jeder. “euprofiler” indessen noch nicht. Das ist eigentlich schade, denn die Uebertragung der Schweizer Erfolgsgeschichte zur eWahltechnik ist auch auf europäischer Ebene instruktiv.

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Die wesentlichen Parteienfamilien bei den europäischen Wahlen kennt man. Doch weiss man auch wofür sie stehen? Und wie gross die nationalen Unterschiede zwischen den Parteien der gleichen Richtung sind?

Wenn nein, kann man auf www.euprofiler.eu angenehm locker viel lernen, – über die europäischen Parteien und über sich selber!

Analog wie bei smartvote muss man einleitend Fragen zu politischen Issues beantworten. Bei euprofiler sind es 30; das braucht 5 Minuten Zeit. Damit positioniert man sich selber in den wesentlichen policy-Bereichen.

Dann werden die Antworten mit den Positionen der Parteien in Europa verglichen. Man erhält eine Uebersicht über die Uebereinstimmungen mit den Parteien des eigenen Landes, kann es aber für die Parteien eines jeden Mitglieds der EU durchspielen.

Die Systematik dahinter gleicht jener, die man von smartvote her kennt. Die Antworten werden nach policy-Bereichen geordnet auf einem spider dargestellt, und die Positionierung erfolgt anhand von zwei Konfliktdimensionen, hier der links/rechts-Achse einerseits, der EU-Integration anderseits.

Da sind von mir aus auch gewisse Probleme zu nennen. Den spider kann man selber einfach nachvollziehen. Wie daraus die beiden Achsen entstehen, ist indessen nicht direkt nachvollziehbar. Ziemlich unklar bleibt schliesslich, wie die Parteien im zweidimensionalen Schema verortet wurden. Auf einen Staat bezogen mag das zwar recht schlüsig sein, im gesamteuropäischen Vergleich fehlen einem aber die Massstäbe.

Eine Variante hierzu findet sich übrigens unter www.votematch.net, – ein Tool, das dem deutschen Wahl-O-Mat nachempfunden ist. Analytisch ist dieses Instrument weniger anspruchsvoll, dafür aber anschaulich und transparent. Es basiert auf dem gleichen Grundgedanken, und das Vorgehen für Teilnehmende ist gleich. votematch arbeitet aber strenger die konkreten thematischen Unterschiede zwischen sich und den europäischen Parteien heraus, als dass es eine eigene Positionierung in den nationalen Kontexten anstrebt.

Claude Longchamp

Die Prognose zu den Wahlen ins EU-Parlament

www.Predict09.EU geht bei den kommenden Wahlen für das Europäische Parlament von insgesamt stabilen Verhältnissen aus. Stärkste Fraktion dürften wiederum die Christdemokraten werden, gefolgt von den Sozialdemokraten, obwohl beide Parteien Sitzanteile verlieren dürften. Relativ gestärkten werden könnten die Grünen und die rechten Parteien.

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Simon Hix und Michael Marsh sind keine Unbekannte unter Wahlforschern. Bei ihrem neuesten Projekt zu den EU-Wahlen werden die beiden Politikwissenschafter aus London und Dublin durch Nick Vivyan unterstützt, der ebenfalls an der LSE arbeitet. Gemeinsam haben sie ein statistisches Modell entwickelt, das sowohl nationale Wahlergebnisse wie auch aktuelle Umfragewerte berücksichtigt, um die Sitzverteilung in jedem Mitgliedstaat und im EU-Parlament insgesamt zu errechnen.

Ihre Prognose unmittelbar vor der Wahl sieht die Christdemokraten vorne, gefolgt von den Sozialdemokraten und den Liberalen. An vierter Stelle dürften sich die neue Fraktion etablieren, die sich durch die Abspaltung der britischen von den europäischen Konservativen etablieren wird. Ihr Vorsprung auf Grüne und Linke ist gering. Es folgen Rechtsextreme und Anti-EU-Abgeordnete.

Stärker als bisher dürften gemäss Prognose die Grünen und die Konservativen vertreten sein, schwächer als bisher werden die beiden grössten Fraktionen der Christ- und Sozialdemokraten dastehen. Das dürfte zu einer grösseren Fragmentierung im Parlament führen.

Direkte Vergleiche mit dem bestehenden Parlament müssen wegen der veränderten Sitzzahl jedoch ausbleiben. Zudem wird das konservative Lager durch Abspaltungen neu geordnet. Dennoch rechnen die Wahlforscher damit, dass die bisherge Mitte/Rechts-Mehrheit bestehen bleibt; theoretisch könnte mitte-links mit den Liberalen ebenfalls mehrheitsfähig sein.

Eine Frage bleibt mir allerdings auch so: Allgemein rechnet man nach dem eher lauen Wahlkampf mit einer sehr tiefen Wahlbeteiligung. Diese wird eindeutige geringer ausfallen als bei nationalen Wahlen. Mit anderen Worten: Wer kann wie gut mobilisieren und sich damit Vorteile bei der Sitzverteilung verschaffen?

Claude Longchamp