Unpräzise Diagnose – ungeeignetes Rezept

Das Schweizerische Parteiensystem änderte sich seit 2007 nur beschränkt. Dem Ruf nach eine 5 Prozent Klausel fehlt es an sachlicher Begründung.

Der Abgang von Bundesrat Pascal Couchepin erfolgt nicht ohne Getöse. Dazu gehörte seine Warnung vor einer «Israelisierung der Schweizer Politik», die sich aufgrund des wachsendenen Einflusses von Kleinparteien wie GLP, BDP, EDU und EVP abzeichne und eine Fünfprozent-Hürde für den Einzug ins Parlament nötig mache.

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Die Fragmentierung des Parteiensystems misst sich an der “Zahl der Parteien” im Parlament, wobei in der Lehre zu Parteiensystemen die reele Zahl der Parteien mit deren Grösse verrechnet wird. Der Wert für die Wahlen 2007 beträgt 5,6.

Präzisierung des Problems

Richtig ist, dass sich das Parteienspektrum der Schweiz in den letzten 40 Jahren erweitert hat: Verändert hat sich die Integrationsfähigkeit der vier Regierungspartner von 1959. FDP und CVP gingen in der WählerInnen-Gunst längefristig zurück, die SP schwankte in ihrer Bindungsfähigkeit, während das bei der SVP lange in wachsendem Masse der Fall war. Umgekehrt sind ganz links, ganz rechts und in der Mitte neue Parteien entstanden, von denen die Grünen die stabilsten sind, die an der Schwelle der Regierungsbeteiligung reichen.

Die Zahl der Parlamentsparteien hat in der Schweiz seit den 70er Jahren zugenommen. Höhepunkt der Fragmentierung des Parteiensystems der Schweiz war das Jahr 1991. Seither entwickelt sich die Zahl der relevanten Parlamentsparteien wieder zurück. Im Nationalrat verschwunden sind die Freiheitspartei, die Schweizer Demokraten, der Landesring der Unabhängigen und die POCH.

2007 änderte sich das mit der erfolgreichen GLP erstmals wieder etwas, und die Spaltung der SVP hat die BDP hervorgebracht, ohne dass die Verhältnisse von 1991 wieder erreicht worden wären.

Die Analyse von Pascal Couchepin wirkt damit überzeichnet, von der machtpolitischen Situation geprägt, die durch seine Nachfolge im Bundesrat entstanden ist. Sie ist sowohl mit dem Vergleich zu Israel übertrieben, als auch unpräzise, wenn man sich auf die jüngste Parteiengeschichte der Schweiz bezieht.

Problematisierung der Lösung
Entsprechend quer in der Landschaft steht das empfohlene Rezept. Kauseln wie die 5-Prozent-Hürde gibt es zwar in verschiedenen Ländern mit Verhältniswahlrecht für das Parlament. Zu den prominentesten gehört Deutschland. Hintergrund der Einführung waren die schlechten Erfahrungen mit dem Parlamentarismus während der Weimarer Republik.

Gegen eine 5-Prozent-Klausel in der Schweiz kann man zahlreiche Argumente vorbringen. Zunächst widerstrebt sie dem Gleichheitsgebot bei der Ermittlung von Sitzen aus Stimmen. Es kommt hinzu, dass sie mit der breit zugelassenen Möglichkeiten der Listenverbindungen trickreich umgangen werden können.

Das Hauptargument gegen eine 5-Prozent-Klausel in der Schweiz betrifft aber die Repräsentation der politischen Kräfte in der direkten Demokratie. Wenn es zutreffen mag, dass die Stärke von Nicht-Regierungsparteien im Nationalrat auf diese Weise etwas reduziert werden könnte, würde doch in einem vergleichbaren Masse die ausserparlamentarische Opposition gestärkt. Zu erwarten wäre, dass die Referendumshäufigkeit zunehmen und damit die Chance der Vermittlung zwischen politischen Polen durch das Parlament eher reduziert würde.

Die alternative Deutung
Das führt einen fast zwangsläufig zur Kritik an Diagnose und Rezeptur, die der zurücktretende Bundesrat Pascal Couchepin äusserte. Die Bedeutung neuer Parteien ist durch die Veränderung des Fraktionsverhaltens im Nationalrat entstanden, das immer weniger durch die Bildung von grossen Koalitionen, sondern durch minimal nötige Allianzen geprägt wird.

Bei der erfolgsgewohnten SVP hat das mit ihrer gewachsenen elektoralen Stärke zu tun. Bei der FDP ist es aber eine Folge der Wechsels vom politischen Zentrum auf die rechte Seite. Das hat zur vermehrten Segmentierung von Fraktionen im Nationalrat geführt, die letztlich der sachbezogenen Konkordanz fremd ist.

Oder anders gesagt: Couchepins Analyse und Lösungsvorschlag kommt einem vor, als rufe mitunter der Repräsentant der Brandstifter nach der Feuerwehr, statt dass man Brände verhindert.

Claude Longchamp

Umfragen helfen bei dieser Bundesratswahl (vorerst) nicht viel weiter

Gleich zwei Umfragen von Isopublic erschienen am Sonntag zu den Bundesratswahlen vom 16. September 2009. Die Vielfalt der Ergebnisse macht die Auslegeordnung jedoch nicht einfacher.

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Wer tritt sein Nachfolge im Bundeshaus an? BürgerInnen-Befragung schon kurz nach dem Rücktritt von Pascal Couchepin lassen Vieles offen.

Aktuelle Parteistärken
Die Sonntagszeitung und Isopublic publizierten gestern ihr vierteljährlich erscheinendes “Politbarometer” mit jeweils 1200 repräsentativ ausgewählten Befragten. Demnach sind 23,1 Prozent für die SV, 21,2 Prozent für die SP. Die fusionierten FDP und Liberalen kommen gemeinsam auf 15,7 Prozent, und die CVP liegt bei 14,4 Prozent. Grösste Nicht-Regierungspartei sind die Grünen mit 9,7 Prozent, einiges vor der kleinsten Regierungspartei, der BDP, die es auf 4,5 Prozent bringt, und der GLP mit 3,3 Prozent.

Seit den Wahlen 2007 ist die BDP neu entstanden und es wären die GLP sowie die SP wachsend, während namentlich die SVP Anteile verloren hätte. Der wesentliche Austausch fände damit im bürgerlichen Lager statt, weil sich mit der BDP das Angebot erweitert hat. Die Reihenfolge der Parteistärken bleibt aber gegenüber 2007 unverändert. Die FDP ist vor der CVP.

Popularität der BundesrätInnen

Gut in der BürgerInnen-Gunst schneiden die drei Frauen im Bundesrat ab. Top gesetzt werden Doris Leuthard (72% positive Antworten), Eveline Widmer-Schlumpf (70%) und Micheline Calmy-Rey (63%). Es folgen Hans-Rudolf Merz (59%), Ueli Maurer (57%) und Moritz Leuenberger (56%) praktisch gleich auf. Eindeutig an letzter Stelle ist der zurückgetretene Pascal Couchepin (33%).

Die beiden FDP-Bundesräte sind die grossen Verlierer in der Bundesratsumfrage. Sie haben 19 Prozentpunkte (Merz) resp. 13 (Couchepin) eingebüsst. Die neue Politik des Bankgeheimnisses und ihre Kommunikation können hier als wichtigste Ursache vermutet werden. Die Exponenten der FDP hart’s jüngst hart getroffen. Aber auch die anderen Regierungsmitglieder verlieren 4-6 Prozentpunkte an Unterstützung, was eher mit der Wirtschaftslage in Verbindung gebracht werden kann. Einzige Ausnahme ist Ueli Maurer, der erst vor einem halben Jahr gewählt wurde, und noch im Aufstieg ist.

Profil des künftigen Mitglieds im Bundesrat

Eine zweite Umfrage, spezifisch zu den Bundesratswahlen, von Isopublic auf der Basis von 600 Befragten gemacht und von Le Matin veröffentlicht, lässt gewisse Schlüsse zum Profil der BundesratsbewerberInnen zu. Demnach wird die Sprachenfragen nicht so polarisiert betrachtet (46% nicht zwingend, 42% zwingend aus der Romandie), wie das unter französisch- oder italienischsprachigen PolitikerInnen erscheint. Dafür rangiert das Geschlechtskriterium in der Bevölkerung höhrer als in der Politik (42% eher eine Frau, 22% eher ein Mann). Parteipolitisch tendiert man leicht hin zum Statuo Quo mit einer Zweiervertretung der FDP (23%), während CVP, SVP und Grüne mit einigem Abstand dahinter folgen.

Meine vorläufige Bilanz

Parteistärken und Ersatzpräferenzen sprechen eher für die FDP. Sprachenfrage und Geschlecht werden als etwa gleich wichtig bewertet. Weder FDP noch CVP können damit viel anfangen, denn ihre Favoriten haben alle mindestens einen Makel.

So bleibt: Bundesratswahlen werden in der Bundesversammlung entschieden. Keine Partei verfügt da über eine gesicherte Mehrheit für einen gesicherten Favoriten, weshalb erst die Allianzbildung unter den Fraktionen Klarheit verschaffen wird. Und das kann noch eine Weile dauern.

Claude Longchamp

Der horse-race-journalism funktioniert auch ohne Umfragen bestens

Horse-race-Journalismus sei eine Folge demoskopischer Instrumente im Wahlkampf, beklagt die Prestigepresse gerne. Wie die NZZ am Sonntag zu den Bundesratswahlen zeigte, berichtet sie ganz ordentlich in diesem Genre, auch ohne sich auf Umfragen zu stützen.

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Man kennt die Kritik am horse-race-journalism vor Wahlen. Beklagt wird, der zentrale Vorgang in der Demokratie, die Auswahl aus Parteien und KandidatInnen, verkomme zum Pferderennen. Das erzeuge zwar Spannung, weil es darum gehe, wer die Schnauze gerade vorne habe. Es gehe aber nicht mehr um Inhalte für die Zeit nach der Wahl, sondern um die Dynamik vor der Entscheidung. Bewerbungen würden im Pferderennen-Journalismus nur noch relativ bewertet. Es interessiere das Schlechtere im Vergleich.

Zu den wiederkehrenden Vorwürfen gehört auch, dass er durch Wahlumfragen entstehe: Die Umrechnung von WählerInnenstimmen in -anteile erst erlaube den Vergleich, die Rangierung untereinander, die Dramatisierung von Unterschieden. Im zeitlichen Ablauf gesehen, verliert nicht,wer keine Stimmen mache, sondern solche einbüsse.

Gerade in Prestigemedien wird seit vielen Jahren in der weicheren Variante unterstellt, das alles gäbe es nur wegen den Umfragen vor Wahlen; der härtere Vorwurf lautet, es werde bewusst mit geringen Unterschieden gearbeitet, um künstliche Spannung aufzubauen.

Hätte es noch eines Beweises gebraucht, dass das alles nicht stimmt, hätte man ihn spätestens heute in der “NZZ am Sonntag” gefunden. Der innert Wochenfrist entbrannte Kampf um die Nachfolge von Pascal Couchepin im Bundesrat zwischen FDP und CVP wird als Pferderennen aufgemacht. Die “Blauen” werden von Parteipräsident Fulvio Pelli angeführt, knapp vor Pascal Broulis und Didier Burkhalter und Martine Brunschwig Graf, die praktisch gleichauf rennen. Aussenseiter bei der FDP sind Ignazio Cassis und Christian Luscher. Bei den “Orangen” wiederum liegt Urs Schwaller vorne. Mit einigem Abstand folgen Christophe Darbelley, Isabelle Chassot, Luigi Pedrazzini, während Jean-René Fournier und Michel Cina fast schon abghängt das Schlusslicht bilden.

Und dann: Nicht-Kandidat Pelli und Favorit Schwaller liegt haarscharf gleich auf, das skizzierte Ziel, die Bundesratswahl vom 16. September, vor Augen.

Was visuell klar hinüber kommt, braucht textlich nicht ausgefüllt zu werden: “Die Grafik zeigt, wie mögliche Kandidaten im Rennen liegen”, heisst es lapidar. Urs Schwaller sei Topkandidat, weil “alle seine Konkurrenten Handicaps aufweisen”, liesst man. Pelli wieder führe, obwohl er ein Kandidatur ablehne; doch seine Kantonalpartei habe ihn aufgefordert, “ins Rennen zu steigen”.

Meine Folgerung: Der horse-rece-Journalismus funktioniert auch ohne Demoskopie bestens, denn er ist eine gängige journalistische Form der Wahlberichterstattung. Alle kritischen Feststellungen hierzu funktionieren auch ohne demoskopische Untermauerung. Mit ihr könnte man die Bewertungen allerdings nachprüfbar machen und so auch Ursachen klären. Oder anders gesagt: Umfragen ermöglichen Pferderennen-Journalismus nicht erst, machen die journalistische Lieblingsform der Wahlberichterstattung aber transparenter.

Claude Longchamp

Man rechne und staune!

Die Sitzverteilung im Bundesrat erfolgt nach der arithmetischen Konkordanz, lautet der Minimalkonsens unter den PolitikerInnen, welche die Nachfolge von Pascal Couchepin regeln wollen. Doch wenn man zu rechnen beginnt, staunt man nur noch!

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Fast unbemerkt publizierte der Zürcher Politikwissenschafter Daniel Bochsler unmittelbar nach den Parlamentswahlen 2007 seine Berechnungen zur Sitzverteilung im Bundesrat als Folge der damaligen Wahlergebnisse. Jetzt, wo es konkret wird, ist diese Publikation von höchster Brisanz. Ihr Zentrales Fazit: Der Anspruch der FDP auf die Nachfolge von Pascal Couchepin lässt sich arithmetisch kaum begründen.

Verteilung nach Hagenbach-Bischoff
Wendet man den Proporzschlüssel wie beim Nationalrat (das sog. Hagenbach-Bischoff Verfahren) an, scheidet die FDP aus, egal ob man auf WählerInnen-Anteil oder Fraktionsstärken abstellt.

Die Gewinnerparteien sind je Indikator unterschiedlich. Stellt man auf die Parteienstärken ab, geht der frei gewordene Sitz in der Bundesregierung an die Grünen. Nimmt man dagegen die Fraktionsstärken von 2009 als Massstab, kann die Zentrumsfraktion, bestehend aus CVP/EVP und glp, effektiv einen rechnerischen Anspruch auf den Sitz von Couchepin/FDP erheben.

So oder so stehen der SVP im Proporzverfahren zwei Sitze zu, der BDP keinen. Entwicklungsgeschichtlich kann man allerdings begründen, dass jener der BDP bis zum Rücktritt oder zur Abwahl von Eveline Widmer-Schlumpf der SVP abgezogen wird.

Variante nach Sainte-Lagué

Rechner Bochsler bleibt allerdings nicht bei dieser Verteilung stehen. Als Variante spielt er durch, was geschehen würde, sollte man das Rechenverfahren von André Sainte-Lagué anwenden, dem Verteilschlüssel, der neuerdings bei einigen kantonalen Wahlen zum Einsatz kommt.

Danach gewinnen erneut die Grünen als kleinste Partei auf jeden Fall einen Bundesratssitz. Nach Parteistärken kalkuliert haben weder die FDP noch die CVP einen Anspruch auf zwei Sitze, bevor die Grünen aufgewertet werden. Stellt man auf die Fraktionsstärken ab, bekommt die Zentrumsfraktion tatsächlich einen zweite Sitz gutgeschrieben, der aber bei der SP verlustig geht.

Das Ganze wirkt jedoch ziemlich hypothetisch, da hier nach einem Verfahren gerechnet wird, das gesamtschweizerisch nicht einmal beim Nationalrat gilt.

Variante: Abbild der gegenwärtigen Polarisierung
Die Rechenbeispiele können auch anders gemacht werden: Denn die aktuelle Debatte nicht mehr durch den Gedanken der Proportionalität von Parteien geprägt, sondern durch die Verteilung entlang möglicher Polarisierung im Parlament.

Davon gibt es drei, die wesentlich sind: das bürgerlichen Lager gegen die Linke, alle gegen die SVP und Mitte-Links gegen Mitte-Rechts.

Die jetzige Verteilung und Diskussion entspricht der hergebrachten Polarisierung von Bürgerlich vs. Linke. Das Verhältnis ist dann 5:2, – und innerhalb des bürgerlichen Lagers ist die erweiterte CVP-Fraktion an zweiter Stelle, unter den Wählenden an dritter. Das gilt auch, wenn mit umgekehrten Vorzeichen, wenn man die Polarisierung “Alle gegen die SVP” durchrechnet.

In der Polarisierung zwischen linker und rechte Hälfte des Parlaments stehen Mitte-Links 4, SVP, FDP und BDP 3 Sitze zu. Das Quartet aus Mitte und Linken besteht dann aus je zwei SPlern und 2 CVPlern.

Bilanz

Die FDP steckt in einem tiefen Dilemma. Mit ihrer Neuorientierung weg von der Mitte hin nach rechts ist sie ihrer Scharnierfunktion in der Bundesversammlung verlustig gegangen, ohne dass sie nur mit der SVP die aktuellen Verhältnisse im Bundesrat numerisch erzwingen kann.

Wer rechnet, merkt’s!

Claude Longchamp

Bundesrat: Wohin des Weges?

Vor gut 30 Jahren formulierte Raimund Germann, erster Leiter des IDHEAP in Lausanne, ein ambitiöses Programm für einen zukunftstauglichen Bundesrat. Heute kann man sagen: Die Politik funktioniert weitgehend anders als damals vorgeschlagen; nicht so jedoch ihre Wissenschaft, die zahlreiche Modelle diskutiert und dabei eine gewissen Konsens entwickelt hat.

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Raimund E. Germann, Professor in Lausanne, formulierte 1975 das Programm für eine Regierungsreform, die heute in der Wissenschaft auf Zustimmung stösst, von der Politik aber negiert wird.

Nach den Nationalratswahlen 1975 trat der zwischenzeitlich verstorbene Raimund Germann prominent hervor. Die anstehende Verfassungsrevision wollte er mit drei Forderung zur Reform des Regierungssystems inspirieren:

Erstens, mit einem gestärkten Präsidium für den Bundesrat;
zweitens, mit einer erweiterten Zahl von Mitglieder in der Bundesregierung;
und drittens, mit einem Wahlverfahren, das sich an den Gegebenheiten des Parlamentarismus orientiert.

Man weiss es: Die Totalrevision der Bundesverfassung wurde zur Jahrtausendwende in Kraft gesetzt; die Staatsleitungsreform scheiterte dagegen kläglich.

Wenigstens in der Politik. Denn in der Politikwissenschaft ist seither eine breite Debatte entstanden, welche die NZZ jüngsten auf einer Sonderseite mit Beiträgen des Staatsrechtlers Daniel Thürer, des Politikwissenschafters Peter Knöpfel und des Demokratieforschers Daniel Kübler zusammengefasst hat.

Einig ist man sich unter den Experten, dass das Bundespräsidium gestärkt werden muss. Mehr Koordination ist das Thema von Knöpfel. Mehr Leadership im Sinne der Steuerung empfiehlt Thürer. Mehr strategische Führung verlangt Kübler.

Diskutiert werden ein rotierendes Präsidium mit 2 bis 3 Mitgliedern und ein auf zwei Jahre gewählter Bundespräsident ohne Fachministerium, aber mit Weisungsbefugnis. Thürer und Knöpfel verwerfen frühere Vorstellungen, den Bundesrat in zwei Ebenen mit weniger Bundesräten und mehr Staatssekretären aufzuteilen. Kübler gibt sich hier offen, denn die vertikale Erweiterung laufe bereits jetzt, derweil der horizontale Ausbau rechtliche Klippen kenne.

Ziemlich gross ist die Einigkeit der befragten Politikwissenschafter, wenn es um die Erweiterung der Bundesregierung geht. Kübler nennt zwar keine Zahl der Bundesrät, bejaht aber eine Vermehrung. Thürer optiert für 9 oder 11 Mitglieder. Knöpfel wiederum ist für 13.

Vor allem das UVEK, aber auch das EDI werden als Departemente mit zu vielen Aufgaben angesehen. Am wenigsten wichtig ist das Thürer, dem eine Staatsleitung à la IKRK mit einem breit austarierten Beraterstab vorschwebt. Knöpfel schlägt 12 FachministerInnen und ein Bundespräsident oder eine Bundespräsidentin vor. Da erhält er vor allem von Kübler Unterstützung, für den der Kanton Baselstadt mit seinem fest gewählten Regierungspräsidenten auf vier Jahre Vorbildfunktion hat.

Die beiden Politologen reflektieren, wie man das erstarkte Parlament mit den fragmentierten Parteienlandschaft in die Regierung einbinden soll. Am konkretesten ist dabei Peter Knöpfel. Als Begründung für seinen 13er Bundesrat bringt er vor, dass nur diese Zahl eine genügend feine Aufteilung der Sitze auf die Parteien erlaube. Aktuell hätten nach seiner Rechnung die SVP (inkl. BDP) 4, die SP 3, die FDP, die CVP und die Grünen je zwei Mitglieder im Bundesrat.

Am wenigstens klar sind die Vorstellungen der Experten bei der Wahl des Bundesrates. Thürer interessiert sich kaum dafür; Knöpfel und Kübler sind für eine Blockwahl auf Zeit. Bei Knöpfel schwingen konkordante Verteilungsregeln mit. Kübler favoriert das freie Ringen nach Mehrheiten, die sich anschliessend auf ein Programm festlegen.

Vergleicht man das mit dem Aufruf von Germann aus dem Jahre 1975 kann man sagen: Gewichtige Stimmen der Wissenschaft sind heute klar weiter als die Politik. Bei der Stärkung des Präsidiums herrscht weitgehend Einigkeit, bei der Erweiterung der Bundesratsmitlieder auch. Danach franzen die Vorstellungen aber aus.

Die Zustimmung zum Konkordanzsystem begründet Peter Knöpfel so: Bei der Problemlösungsfähigkeit kann die Schweiz mit Konkurrenzsystemen nicht kurz-, aber mittelfristig durchaus mithalten.

Das ist es denn auch, was die PolitikerInnen bei der Staatsleitungsreform zögern lässt. Aktuell ist Eveline Widmer-Schlumpf am ehesten dafür, doch reicht auch bei ihr der Reformwille nicht über die strategische Stärkung der Führung des Bundesrates hinaus.

Claude Longchamp

Die BDP bringt sich in Position

Die BDP entdeckt ihren Wert: Wenn FDP und SVP für die Nachfolge von Pascal Couchepin im Bundesrat einen Pakt eingeht, will die BDP für die zwei CVP-Vertreter im Bundesrat votieren. Um zu verhindern, das FDP und SVP 2011 wieder nach der Mehrheit im Bundesrat greifen.

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Auf dieser Grafik sind die Parteien/PolitikerInnen aufgrund ihres Stimmverhaltens im Parlament im zweidimensionalen Feld positioniert worden (Quelle: sotomo/NZZamSonntag)

Die BDP ist aus den Parteiwirren nach der Abwahl von Christoph Blocher aus dem Bunderat als konkordante, bürgerliche Kraft entstanden, von der man erwartete, dass sie vor allem in der Europafrage offener als die SVP und insgesamt gouvernementalrer als die Partei politisieren werde, aus der sie hervorgegangen ist.

Eine Auswertung des Stimmverhaltens im Nationalrat während der laufenden Legislatur, die Politgeograph Michael Hermann erstellt hat, lässt erstmals interessante Rückschlüsse zur Position der jüngsten Partei in der schweizerischen Politlandschaft zu:

Erstens, die BDP politisiert in einem klar anderen Segment als die SVP. Sie steht der CVP am nächsten, befindet sich aber in ähnlicher Distanz auch zur FDP. Sie ist etwas weniger reformorientiert als die beiden grösseren bürgerlichen Parteien, steht aber weniger klar rechts als die FDP und weniger deutlich in der Mitte als die CVP.

Zweitens, die 5 Fraktionsmitglieder im Nationalrat stimmen allesamt anders als die SVP. Das gilt selber für den Bündner Hansjörg Hassler, der ihr noch am unmittelbarsten geblieben ist, aber deutlich weniger konservativ votiert. Hans Grunder, der Fraktionspräsident der BDP, ist am klarsten im Magnet der FDP, gefolgt von seiner Berner Mitstreiterin Ursula Haller. Brigitta Gadient, die zweite Bündnerin, ist ihrersetis am deutlichsten im Gravitationszentrum der CVP, und auch Martin Landolt befindet sich dem sehr nahe.

Aufgrund der Affinitäten sind bei der Nachfolge für Bunderat Couchepin Stimmen aus den Reihen der BDP sowohl für die FDP wie auch für die CVP denkbar. Sollte es aber zur erwarteten Blockbildung zwischen FDP und SVP kommen, könnte das die BDP ganz ins Lager der CVP treiben. Denn eine solche Allianz auf der rechten Seite wird von der BDP-Parteispitze als Zeichen gedeutet, die FDP werde seitens der SVP jetzt bedient, um nach den nächsten Wahlen mit Hilfe der FDP mit zwei Sitzen im Bundesrat vertreten zu sein.

Das kann eigentlich nur zu Lasten der kleinen BDP resp. ihrer Vertreterin in der Bundesregierung, Eveline Widmer-Schlumpf, gehen. Womit sich die Zusammenarbeit in der Fraktion einer grösseren Partei mit ähnlicher soziologischer Voraussetzung und gemeinsamen politischen Position erst recht empfehlen würde. Zur Stärkung des politischen Zentrums in der Schweiz!

Claude Longchamp

SVP und Grüne: geringe Aussichten auf die Couchepin-Nachfolge, aber …

24 Stunden nach dem Rücktritt von FDP-Bundesrates Pascal Couchepin haben vier Parteien ihre Ambitionen für die Nachfolge angemeldet: die FDP selber, die CVP, die SVP und die Grünen. Die Aussichten der SVP und der Grünen erscheinen eher gering. Das heisst indessen nicht, dass sie das Endergebnis nicht beeinflussen können.

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Stellt man auf die Stärke der Parteien in der Wählerschaft oder in der Bundesversammlung ab, können SVP und Grüne gute Argumente vorbringen, im Bundesrat besser oder überhaupt vertreten sein zu müssen.

Das Dilemma der SVP
Die SVP ist seit dem Ausschluss von Eveline Widmer-Schlumpf, die gegen den Willen der Partei als Nachfolgerin von Christoph Blocher in den Bundesrat gewählt wurde, mit nur noch einem Mitglied in der Bundesregierung.

Um zum zweiten Sitz, der ihr nach Berechnung der numerischen Konkordanz zusteht, zum Kommen, ist sie mindestens auf die Stimmen der FDP angewiesen. Diese könnte, so sie selber mit zwei Sitzen im Bundesrat vertreten bliebt, zu Beginn der nächsten Legislatur, gewillt sein mitzuhelfen, Eveline Widmer-Schlumpf von der BDP abzuwählen, und den Sitz der SVP zu überlassen. So hätten die beiden Parteien im Bundesrat 2012 zusammen wieder eine Mehrheit.

Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass die SVP jetzt den FDP-Sitz angreift. Vielmehr dürfte sie an einer klar bürgerlich ausgerichteten Kandidatur aus den Reihen der FDP interessiert sein. Es ist zu erwarten, dass sie sich entsprechend ausrichtet. Sollte das jedoch nicht der Fall sein oder sollten die Aussichten auf eine FDP-Nachfolge für Pascal Couchepin sinken, ist – bis zum letzten Moment – nicht auszuschliessen, dass sich die SVP zu einer eigenen Kandidatur entscheidet.

Das Dilemma der Grünen

Nach numerischen Kriterien steht den Grünen eindeutig vor der BDP ein Sitz im Bundesrat zu. Doch geht es auch hier um die Frage der Realisierung, denn ohne die Zustimmung der CVP und der SP wird es kein grünes Mitglied in der Bundesregierung geben. Und das ist, solange die CVP den selbstformulierten Anspruch, wieder zwei eigene BundesrätInnen zu haben, nicht eingelöst hat, unwahrscheinlich.

Entsprechend kann man dieses Szenario bei der Nachfolge für Pascal Couchepin praktisch ausschliessen. Immerhin gibt es für die Grünen eine second-best Lösungen: eine Kandidatur aufzubauen, die zurückgezogen wird, sollte sich die CVP bei ihren personellen Entscheidungen für eine Nachfolge für den zurückgetretenen Innenminister auch an Vorstellungen der Grünen ausrichten. Diese Bedingung ist nicht unwahrscheinlich, weil die CVP in der jetzigen Situation keinen zweiten Bundesratssitz ohne die Stimmen der Grünen bekommt. Das Taktieren ist aber nur solange möglich, als auch die SP eine Bewerbung aus der CVP vorzieht.

Meine Erwartungen

Voraussichtlich am 16. September 2009 bestimmt die Vereinigte Bundesversammlung die Nachfolge von Pascal Couchepin. Parteipolitisch sind Bewerbungen aus den Reihen der FDP und CVP aussichtsreich. Solche aus den Fraktionen der SVP und der Grünen dürften dagegen wenig Wahlchancen haben.

Zu erwarten ist unter der Bedingung einer Einervakanz aber, dass SVP und Grüne ihre Taktik so ausrichten, dass sie mit ihrem Verhalten die personelle Auswahl in der FDP und der CVP optimal mitbestimmen können. Und da sind die Stimmen der SVP und der Grüne nicht unerheblich.

Claude Longchamp

Pascal Couchepin in der Retrospektive

Pascal Couchepin ist als Bundesrat heute zurückgetreten. Ein Rückblick auf seine Leistung als freisinniges Regierungsmitglied für das Newsnetz der grossen Schweizer Tageszeitungen und eine persönliche Einschätzung hier.

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Von hoffnungsvoll über irritiert bis hinzu ablehnend: der Wandel meiner Einstellung zu Bundesrat Pascal Couchepin

11. März 1998
Am Tag der Wahl von Pascal Couchepin in den Bundesrat hielt ich abends in Sursee einen Vortrag. Ich habe das Manuskript spontan beiseite gelegt, um meine damalige Analyse der Bundesratswahlen vom Morgen und die Aussichten, die sich durch den Entscheid der Bundesversammlung eröffneten, dargelegt. Ich war in Sachen Couchepin ziemlich optimistisch, weil ich sein Talent als animal politique schätzte.

4. Dezember 2002
2002 wurde ich vom Generalsekretär des Volkswirtschaftsdepartementes eingeladen, die Rede am internen Jahresrapport zu halten. Ich nahm die Herausforderung an, sprach über die verunsicherte Mitte und meinte damit dem Umgang des damaligen bürgerlichen Zentrums mit dem unaufhaltsamen Aufstieg der SVP zur grössten Partei. Das Referat wurde zu einer Art Verabschiedung von Bundesrat Couchepin im EVD, denn es war sein letzter Auftritt vor seinen Spitzenbeamten vor dem Wechsel ins EDI. Unsere Einschätzungen ging damals schon deutlicher auseinander. Der Bundesrat erwidert auf mein Referat kurz und bündig: “Nein, isch bin nischt verunsischert.”

12. Juni 2009

Jetzt, beim Rücktritt von Pascal Couchepin, sind unsere Sichtweisen auf seine Leistung in der Schweizerischen Bundesregierung ziemlich polar und gegensätzlich geworden. Ich mag mich der Selbstbeweihräucherung nicht anschliessen; zu grosse ist meine Enttäuschung. Meine spontane Würdigung am Morgen des Rücktritts auf dem Newsnetz ist soeben erschienen.

Claude Longchamp

Die CVP entscheidet über die Zukunft der FDP – wenn sie es richtig macht

In der Schweiz ist Bundesrat Pascal Couchepin, der Vertreter der französischsprachigen FDP, zurückgetreten. Ueber die Nachfolge entscheidet nicht seine Partei alleine, sondern die Vereinigte Bundesversammlung. Da hat die CVP die besten Karten in der Hand, mit einer Mitte-links getragenen Kandidatur die FDP-Vertretung im Bundesrat zu ändern.

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Pascal Couchepin, FDP, wegen seines Verhaltens der umstrittenste aller gegenwärtiger Bundesräte, ist heute zurückgetreten. Ueber die Nachfolge in der Bundesregierung entscheidet letztlich die CVP.

Im Nationalrat herrscht zwischen Mitte-Rechts (SVP, FDP, BDP, EDU, Lega) und Mitte-Links (SP, CVP, Grüne, GLP, EVP, CSP und PdA) ein Patt. Beide Blöcke bringen es in der Volksvertretung auf je 100 Stimmen. Im Ständerat hat dagegen die Allianz aus CVP, SP, Grünen und Grünliberale die Ueberhand: 27 zu 19 lautet das Kräfteverhältnis in der Kantonsvertretung.

In der Vereinigten Bundesversammlung hat Mitte-Links damit eine knappe Mehrheit. Entscheidend ist aber, was die CVP macht. Stimmt sie bürgerlich, überwiegt diese Seite eindeutig. Stimmt sie geschlossen mit der Ratslinken, hat dieser Teil des Parlamentes das Sagen. Stimmt sie in alle Richtungen, vergibt die CVP ihre eigene politische Kraft.

Bei den anstehenden Bundesratswahlen ist das von Bedeutung. Die FDP kann ihre eigene Stärke im Bundesrat nur behaupten, wenn sie die Unterstützung der SVP, der BDP und der rechten Kleinparteien einerseits hat, den Zuspruch eine relevanten Minderheiten aus der CVP findet. Bei blockweisen Entscheidungen braucht es mindestens 5 Abweichler in der CVP, damit Mitte-Rechts mehrheitsfähig wird. Sollte die BDP nicht stramm rechts stimmen, erhöht sich der Anteil in der CVP, der die Seite wechseln müsste, entsprechend. Das wären dann im schlechtesten Fall 10 Mitglieder aus der Zentrumsfraktion.

Die Begründung jenseits dieser theoretischen Ueberlegungen sind kontrovers. Die Zentrumsfraktion zählt 36 Sitze im Nationalrat, jene der FDP-Die Liberalen kommt auf 35 Mandate. Im Ständerat liegt die CVP mit 15 zu 12 Sitzen der FDP ebenfalls vorne. Fraktionsmässig ist die Zentrumsfraktion durch den Zusammenschluss von CVP, EVP und glp die Nummer zwei unter der Bundeskuppel geworden.

Einen Einwand gibt es allerdings: Stimmenmässig ist die FDP seit dem Zusammenschluss mit den Liberalen eindeutig stärker als die CVP, deren Fraktionspartner parteipolitisch ganz bewusst eigenständig bleiben wollen. Das spricht gegen einen parteipolitischen Wechsel bei der Nachfolge von Pascal Couchepin.

Oder für einen rotierenden Sitz zwischen FDP und CVP solange es zwischen diesen beiden Parteien nicht klar ist, wer im bürgerlichen Lager den eigentlichen Lead inne hat.

Claude Longchamp