Lernprozesse von BürgerInnen-Initiativen

(zoon politicon) BürgerInnen-Initiativen entstehen in aller Regel aus direkter Betroffenheit. Sie fordern in politischen Entscheidungen, die sie betreffen, Rechte ein. Zu ihrem Programm gehört es deshalb normalerweise, mehr Partizipation zu verlangen. Denn sie wollen an den Entscheidungen, die sie angehen, teilhaben.

Der häufigsten Stärke von BürgerInnen-Initiativen, der Engagementbereitschaft, stehen typische Schwächen gegenüber. Der Mangel an professioneller Handlungsfähigkeit gehört dazu.

Rose als Inspiration in einer Dialogrunde einer BürgerInnen-Initiative

Die Politische Soziologie, die sich als Demokratiewissenschaft versteht, beschäftigt sich unter anderem mit genau solchen Voraussetzungen. Zu ihren Erkenntnissen zählt, dass erfolgreiche BürgerInnen-Initiativen vier Phasen durchlaufen; namentlich sind dies:

Erste Phase: Reflexion
Mit dem Bewusstwerden von Problemen, ihren Ursachen und ihren möglichen Lösungen beginnt meist alles. Die reflexive Phase besteht darin, die eigene Situation zu beschreiben, und sie einer ersten Analyse zu unterziehen. Zur Reflexion zählt auch, nach guten und schlechten Beispielen zu suchen, wie andere mit dem gleichen Problem umgegangen sind. Und ganz sicher kann man die Fähigkeit, eigene kreative Ideen zu entwickeln, wie man selber handeln könnte, zu dieser Phase. Möglichkeiten und Grenzen der Initiative kennen zu lernen, Chancen und Riskien des Handelns abzuschätzen, beschliesst den Einstieg in die Entwicklung.

Zweite Phase: Rollenbildung
Die Betroffenheit, die am Anfang steht, führt das gerne dazu, dass alle alles machen wollen. Das mag bei spontanen Aktionen richtig sein. Um die gezielte Handlungsfähigkeit zu erhöhen, empfielt es sich allerdings, spezifische Rollen auszuscheiden. Jede(r) macht das, was er oder sie am besten kann, und was im Verbund den Herausforderungen der BürgerInnen-Initiative dient. Zu den typischen Rollen, die man hierzu zählen kann, gehört die interne und externe Kommunikation in einer BürgerInnen-Initiative. Aber auch die Beziehungspflege zu Austauschpartnern bei verbündeten Inititiven, zu politischen Parteien und zu Interessengruppen, die einen unterstützen könnten,gehört dazu. Meist muss man sich auch über Rollen Gedanken machen, die einem (finanzielle) Mittel erschliessen helfen.

Dritte Phase: Aktionsplanung
Aktion, die gezielten Erfolg bringen sollen, müssen geplant werden, um folgende Frage zu beantworten: Was ist das Ziel? Was sind die Mittel? Wer trägt die Verantwortung? Wer ist wofür zuständig? Was ist der Zeitplan? Welche Mittel stehen einem zur Verfügung? Damit verlässt man in einer BürgerInnen-Initiative die Phasen, in der der eigene Mikrokosmos im Vordergrund stand. Jetzt geht es darum, sich den Makrokosmus zu erschliessen: Die Aktion ist an das Umfeld gerichtet: den Staat, die Behörden, die Oeffentlichkeit. Dabei soll die Planung der Aktion verhindern, dass die Initiative versagt, erfolglos bleibt.

Vierte Phase: Organisation
Vor allem wer längerfristig aktiv bleiben will, muss sich eine dauerhaft tragfähige Organisation geben. Mit ihr wird die individuelle Betroffenheit definitiv in ein Kollektiv überführt, das Bestand hat. Vor allem dort, wo BürgerInnen-Nähe ein zentrales Thema der Initiative war und bleibt, gilt es, Formen zu finden, die Konstanz versprechen, ohne neue Hierarchien des Wissens, der Erfahrung und damit des Zugangs zu Entscheidungen aufzubauen. Denn genau solche Ausschlüssen sind und waren es, die am Anfang von BürgerInnen-Initiative stehen. Partizipation in der eigenen Organisation ist also das Ziel der vierten Phasen.

Auf den ersten Blick mag das alles recht banal tönen. Theoretisch trifft das wohl auch zu. Doch das Schema entstand aus der Praxis. Denn es will verhindern, dass man bei der ersten Phasen, der Identitätsfindung stehen bleibt, bei der man mit seiner Betroffenheit selber das Thema ist. Diese Phase schaffen BürgerInnen-Initiative von alleine. Aber sie dürfen dabei nicht stehen bleiben. Doch spätestens bei der zweiten Phase setzen die Widerstände ein. Und genau deshalb sind Lernprozesse in BürgerInnen-Initiativen, wie sie skizziert wurden, wichtig.

Claude Longchamp

Beispielhafte Vertiefungsliteratur:
Leo Kissler: Politische Soziologie. Einführung in die Demokratiewissenschaft, UTB, Stuttgart 2007

Demokratisierung als politischer Lernprozess

(zoon politicon) Ich war letzte Woche als Beobachter bei der Initiative für direkte Demokratie im Südtirol. Die dortige Bürgerbewegung strebt an, 2009 über eine Volksabstimmunngen die Möglichkeiten der lokalen direkten Demokratie im Lande Südtirol nachhaltig zu verbessern. Sie hat festgestellt, dass verschiedene Vorstösse zur Demokratisierung in Norditalien, so in Aosta, aber auch in der Südschweiz, so im Tessin, in jüngster Zeit auf begrenzte Unterstützung stiessen: Ein typischer Fall also, bei dem man Expertenwissen zur Demokratisierung von Politik nachfragt, um das eigene, selbstgesteckte Ziel besser erreichen zu können!

Eingang zum Rathaus von Bozen:. Trotz symbolisierter Transparenz besteht ein Bedürfnis nach mehr Partizipation im Land, die sich in der südtiroler Initiative für mehr Demokratie ausdrückt.

Meine Einblicke
Ich habe in den zwei Tagen viele spannende Einblicke in das politische Leben des Südtirols erhalten.

. Zum Beispiel in die eigene Lagebeschreibung: Wirtschaftlich gesehen geht es demnach dem Südtirol so gut wie noch nie. Von einer Mangelgesellschaft ist man innert zweier Generationen zu einer Ueberflussgesellschaft übergegangen. Doch sind die Menschen weder individuell noch kollektiv besonders glücklich geworden. Die italienschsprachige Minderheit fühlt ihre regressive Entwicklung, und die deutschsprachige Mehrheit möchte mehr Autonomie von Italien. Verbreitet ist in einer solche Situation das “Jammern”.

. Zum Beispiel auch in die Situationsanalyse: Politik ist in Italien nicht (mehr) “in”. Es dominiert der Rückzug vom Oeffentlichen ins Private. Die gegenwärtige Regierungskrise hat die Hoffnung mitte/links auf eine Besserung zerstört. Es regieren verbreitet der Konsumimus und der Hedonismus. Politik findet maximal noch bei Wahlen statt. Dann bestimmt man eine Mehrheit, und der übergibt man dann die Verantwortung, alle anstehenden Probleme zu lösen.

Meine Analyse
Doch was sagt man als Politikwissenschafter dazu, wenn es gilt, über die Möglichkeiten der direkten Demokratie nachzudenken?

Zuerst fragt man sich als Politikwissenschafter, was für eine politische Kultur da beschrieben wurde. Die beiden Prioniere auf diesem Forschungsgebiet, die beiden Amerikaner Alond und Verba, haben eine Unterscheidung mit drei Typen vorgeschlagen:

. die parochiale, auf den kleinen, eigenen Raum bezogene Politkultur, die sich nach aussen abgrenzt,
. die Politkultur der Untertanen, die sich auf den Staat bezieht, von diesem aber in erster Linie materielle Leistungen und Sicherheit erwartet ohne selber Eigenständiges dazu zu leisten, und
. die Partiziaptions-Kultur, für die die BürgerInnen selber die politschen Subjekte sind, die sich über Wahlen hinaus einbringen wollen, die aber auch gehört werden müssen.

Angewandt auf obige Lagebeschreibung und Situationsanalyse ist recht klar: Die politische Kultur des Südtirols ist wie in vielen nationalstaatlichen Demokratien eine Mischung. Die eher passive Ausrichtung der Partizipation, die sich weitgehend auf das Wählen beschränkt, ist eine beschränkt partizipatorische Untertanenkultur. Vor allem die komplexe Lage zwischen den Sprachgruppen in Italien führt zu weiteren Mischungen. Namentlich unter den deutschsprachigen Südtirolern gibt es auch parochiale Züge in der beschränkt partizipatorische Untertanenkultur.

Die so typische Delegation der nationalen Politik an Parteien, die sich in Rom um die Regierungsmehrheit streiten, ist Ausdruck der Untertanen-Kultur. Die zentrale Einstellung ist eher passiv, und an den Leistungen der eigenen Parteien bei der Verteilung staatlich produzierter Güter interessiert. Dabei erwartete man sie entweder vom Nationalstaat Italien, oder aber lokaler ausgerichtet vom Land Südtirol.

Von einer eigentlichen BürgerInnen-Kultur, die Voraussetzung für Demokratisierungen aller Art sind, ist man damit im Südtirol noch einiges entfernt. Das ist weiteres nicht überraschend, für ein dauerhaft auf verstärkte Partizipation ausgerichtetes politisches System aber ein Problem. Denn es muss auf Instabilität beruhen, wenn Struktur und Kultur in zentralen Erfordernissen nicht übereinstimmen. Die wichtigste Folgerung daraus ist, dass politische Kultur im Sinne der Partizipationskultur entwickelt werden muss.

Meine Folgerungen
Was empfiehlt die politikwissenschaftliche Kulturforschung in diesem Zusammenhang? Zentral ist hier Ueberlegung, die aus dem engen Zusammenhang von Systemlegitimation und politischer Effektivität folgt. Seymour Marty Lipset ist hier der massgebliche Forscher gewesen, der auf die entsprechenden Zusammenhänge aufmerksam gemacht hat. Seine Hauptaussage: Wenn ein bestehendes oder auch ein neues System der Politik legitim sein soll, dann muss es den BürgerInnen das Gefühl vermitteln, dass das bestehende oder das neue ihnen mehr Möglichkeiten gibt.

Daraus folgte für mich das Nachstehende:

Erstens, was auch immer geschieht, BürgerInnen-Bewegung für direkte Demokratie, wie jene, die ich im Südtirol besuchte, brauchen einen langen Atem. Das Ziel, das sie erreichen wollen, wird sich nicht sofort und umfassend einstellen.
Zweitens, dennoch braucht es schnelle Erfolgserlebnisse. Es braucht Identifikationsmöglichkeiten. Es empfiehlt sich, eine positive Oeffentlichkeit zu schaffen, die aufzeigt, wie oft und und wie breit BürgerInnen-Initiative Themen aus der eigenen Betroffenheit aufnehmen und versuchen, auf der Basis von Selbsthilfe auch ohne politische Entscheidungen zu regeln. Diese guten Vorbilder kann mit professioneller Medienarbeit bekannter machen, sie auch zu Vorbilder werden lassen.
Drittens, dazu bedarf es einer Reihe Verbündeter: die Selbstaktiven in einer Gesellschaft müssen gesammelt und vernetzt werden, die Massenmedien müssen für die andere Sichtweise der Dinge und für die Alternativen in den Lösungsansätzen, die nicht auf Delegation von Politik basieren, gewonnen werden. Und zu den Parteien, möglichst im übergreifenden Sinne, sollen Kontakte soweit aufgebaut werden, dass sie sich als Verbündete oder wenigstens als Interessierte des Demokratisierungsprozesses verstehen.

Sicher, das ist nur eine kleine Auswahl aus den denkbaren Schlussfolgerungen. Aber es sind meine, die ich als praxisorientierter Politikwissenschafter vor Ort und auf der Rückreise gezogen habe. Ich verstehe sie nicht als “must”, aber als Ernst gemeinte Anregungen in einem anstehenden politischen Lernprozess.

Claude Longchamp

Ich stelle mich vor …

Gerne stelle ich mich noch vor: Mein Name ist Claude Longchamp.

Ich bin am 14. März 1957 in Freiburg im Üchtland als Sohn von Pierre und Claire Longchamp-Stehli geboren. Ich bin in Fribourg französischsprachig, in Oberwil bei Basel und Buchs bei Aarau deutschsprachig aufgewachsen. Ich habe die Schule im Aargau gemacht und in Zürich und Bern studiert. Von meiner Ausbildung her bin ich Historiker, von meiner Tätigkeitkeit her eher Politik- oder Sozialwissenschafter.

Claude Longchamp, Politikwissenschafter/Historiker, Institutsleiter gfs.bern

Seit 2004 bin ich Institutsleiter, Mitglied des Verwaltungsrats und Vorsitzender der Geschäftsleitung des Forschungsinstituts gfs.bern. Seither bin ich auch Verwaltungsratsmitglied des gfs-Befragungsdienstes. am GfS bin ich seit 1986 in verschiedensten Funktionen tätig gewesen.

Meine Forschungsgebiete sind vor allem die Schweizer Politik (Wahlen, Abstimmungen, Parteien), aber auch die öffentliche Meinung (generell, namentlich zum Staat, aber auch zu neuen Technologien, zur Gesundheitspolitik und zur Europapolitik). Ich mache zudem Verhaltens- und Imagestudien zu politischen Akteuren im Entscheidungsprozess.

Bis 1992 unterrichtete ich als Lehrbeauftragter an der Universität Bern im Fach Politikwissenschaft. Seither bin ich als freier, aber regelmässiger Dozent an verschiedenen Universitäten (Universität Freiburg, Universität Zürich, Universität Bern, Universität Lausanne) und an verschiedenen Fach(hoch)schulen (Winterthur, Zürich, Luzern) tätig. Ab 2008 werde ich an der Universität St. Gallen im Rahmen des Lehrganges International Affairs das Fach „Politik in der Praxis“ unterrichten. Meine sonstigen Themen in der Lehre sind vor allem Tools wie die Demoskopie zur Analyse der BürgerInnen-Meinungen, aber auch das Lobbying als konkrete Form des politischen Handelns.

Seit 1992 bin ich in ausseruniversitären Vermittlung von Forschung aktiv. Ich habe seit 1992 an alle eidg. Abstimmungssonntagen Analysen und Kommentare für die SRG SSR idée suisse gemacht. Ich habe auch die Wahlen 1995 bis 2007 für das gleiche Medienunternehmen untersucht und vermittelt. Meine Aktivitäten bei anderen Massenmedien waren früher ausgiebig. Sie sind heute, wegen eine gewissen Distanz zum vorherrschenden Thesenjournalismus geringer geworden. Ich ziehe es dafür vor, mich via Blog wie den Kommunikationsblog direkt an die Oeffentlichkeit zu wenden.

Seit 2004 führe ich zudem regelmässig historisch-politisch-kulturelle Stadtführungen durch, vornehmlich für internationale Delegationen, PolitikerInnen, Verwaltungsmitglieder und Medienschaffende. Ich führe hierzu auch den Stadtwanderer-Blog.

Claude Longchamp

Longchamp 2008: damit habe ich fast gar nichts zu tun