Der Superwahlkampf der SVP.

Die SVP gewann die Nationalratswahlen 2007 mit dem historisch besten Ergebnis einer schweizerischen Partei seit Einführung des Proporzverfahrens für die Bestellung der Volksvertretung. Eine Analyse der Wirkungsfaktoren im Wahlkampf-Benchmark präsentierte ich während meiner achten Vorlesung zur Wahlforschung an der Uni Zürich.

28,9 Prozent der Stimmen entfielen bei den Nationalratswahlen 2007 auf die SVP. Damit etablierte sich die Partei in einer Liga, in der nur noch sie figuriert. Einzigartig war auch ihr viel bestaunter und viel kritisierter Wahlkampf

Ergebnisse der dynamischen Wirkungsanalyse
Eine Wirkungsanalyse anhand der Wahlbarometer-Umfragen zeigt in einer für die Schweiz erstmals untersuchten dynamischen Betrachtungsweise, was und wann davon mobilisierend und identifizierend war:

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Demnach waren für die WählerInnen konstant wichtig, dass sich die Partei klar rechts positionierte. Förderlich wirkte sich die hohen Identifikationsangebote insbesondere mit dem Parteipräsidenten Ueli Maurer aus. Und auch der allgemeine Eindruck, den besten Wahlkampf zu führen, überzeugte die WählerInnen.

Doch das erklärt nicht, warum sich die Kampagne der SVP in Fahrt kam. Das Geheimnis erhellen kann man erst aus der Konstellation der variablen Erklärungsansätze.

Zwei Themen zeigten vor allem im Sommer 2007 Effekte: die Debatte über die kriminelle Ausländer der Einsatz für Sicherheit in der schweizerischen Gesellschaft stärkten im August die Vorstellung der SVP als themaktivste Partei. Das verschaffte ihr nicht nur ein Profil, wie es bis am Schluss keine andere Partei kannte. Es definierte auch das Klima, in dem der mediale Wahlkampf schliesslich stattfand.

Dieser focussierte erst mit dem Geheimplan für die Abwahl von Christoph Blocher wirklich auf die SVP, weil die Ereignishaftigkeit des Dramas der Medienlogik entgegen kam. Im gleichen Zeitfenster intensivierte die SVP das kommerzielle Politmarketing weit über das Mass aller anderen Parteien hinaus.

Die Ausrichtung der Kampagne auf die Wiederwahl Blochers, die für die weltanschaulich geprägten WählerInnen bereits genügend zu erhalten hatte, brachte schliesslich die Oeffnung zu Wählenden, für weniger Themen, mehr aber Personen wichtig sind.

Kritisch war die Lage nur während der Manifestation in Bern, die eskalierte und dardurch die Medienaufmerksam nochmals einengte. Doch sicherte gerade die mediale Verarbeitung dieses Ereignisses die Verbindung der emotionalisierten Wählerschaft mit der Partei.

Vorläufige Bilanz
Drei der in der Mediengesellschaft massgeblichen Kriterien des Wahlerfolgs wurden fast ausschliesslich durch die Kampagne der SVP bestimmt: die Themenführung und die Personenorientierung lagen klar bei ihr, und das Meinungsklima weitgehend durch sie bestimmt.

Die Befindlichkeit der Wählenden war so emotional produktiv angespannt, was die Mobilisierung beförderte. Gebtrieben war die Dynamik des Wahlkampfes durch die Medien, welche die SVP nicht eindeutig favorisierten, ihr aber mehr Raum als allen anderen einräumten. Geformt wurde der Prozess zudem durch die intensivsten Aufwand während der Kampagne.

Insgesamt stiess diese für schweizerische Verhältnisse in neue Dimensionen vor, weshalb man sie auch als “Superwahlkampf” bezeichnen kann.

Claude Longchamp

Wahlen in der Mediengesellschaft: gerade in der Schweiz ein Forschungsthema wert.

Die siebte Zürcher Vorlesung zur Wahlforschung, die ich an der Universität Zürich hielt, beschäftigte sich mit dem Forschungsfeld “Wählen und Wahlen in der Mediendemokratie”. Gerade hier zeigte sich, sie wie gross die Forschungslücken hierzulande sind.

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Medialisierte Impressionen aus dem Wahlkampf 2007

Noch ist es umstritten, ob wir in einer Mediendemokratie leben. Otfried Jarren, der führende Medienwissenschafter der Uni Zürich, scheint das zu bejahen, denn er schreibt bereits Lehrbücher zur politischen Kommunikation in der Mediendemokratie. Und Benjamin Weinmann die Professionalisierung, Emotionalisierung und Personalisierung der politischen Kommunikation bei Schweizer Wahlen für ein Fakt, sodass man von einer erheblichen Modernisierung der Wahlkampfkommunikation sprechen könne.

Meine Beurteilung ist differenziert: Ich bin der Auffassung, dass sich die Kommunikationskulturen vor allem bei Abstimmungen und Wahlen im Sinne eines mediengesellschaftlichen Trends entwickeln. Doch die Institutionen der Schweizer Wahlen machen diese Entwicklung kaum mit, sodass eine Neutralisierung der Veränderungen stattfindet.

Das sieht man etwa beim Werbeaufwand der Parteien, bei ihren Medienkampagnen, bei der Wahlberichterstattung der Massenmedien: Parteien werden auf SpitzenkandidatInnen reduziert, Information durch Emotionsmanagement abgelöst und die Milizler in Wahlkampagnen werden mehr und mehr durch Profis ersetzt. Und dennoch: Es finden keine Bundesratswahlen statt, die Wahlkreise sind unverändert die Kantone und die politische Werbung in Fernsehen und Radio der SRG bleiben untersagt. Das alles spricht für ein “stop an go” der mediengesellschaftlichen Trends in der Schweiz.

Die Wahlforschung scheint aber selbst die Mischung von traditionellen und modernen Elementen der Wahlkampfkommunikation auszublenden. Werden Analyse auf der Mikro-Ebene durch solche der Meso- oder Makro-Ebene ergänzt, konzentriert man sich vorwiegend auf die Kampagnen von Parteien und KandidatInnen. Medienkampagnen wurde noch fast nirgends untersuch oder nicht in den Zusammenhang mit den Wahlergebnissen gestellt.

Schade, denn es gibt offensichtlich interessante Fragestellungen, die noch weitgehend unbeackert sind. Drei erwähne ich hier:

. Die Wahkampfausgaben 2007, soweit sie sich Dingfest machen lassen, variieren fast linear im Links/Rechts-Spektrum. Am meisten gab der Wahlsieger, die SVP, aus
. Der Vergleich der Parteistärken bei nationalen und kantonalen Wahlen spricht dafür, dass die SVP klar verschieden gut abschneidet. National kommt sie auf annähernd 29 Prozent, kantonal im Schnitt auf 22 Prozent.
. Der Wahlkampf der SVP 2009 entspricht dem, was meinen Superwahlkampf nennen könnte. Er setzte wie der keiner anderen Partei auf Themen, Emotionen und Personen. Und erreichte ein eindeutige Propaganda-Dominanz.

Ich will hier kein Plädoyer für einfache und einseitige Zusammenhänge halten. Denn ich weiss, dass die Grünen finanziell keinen aufwendigen Wahlkampf führten und dennoch bei den Parlamentswahlen 2007 zulegen konnten. Ich werbe aber dafür, 2011 klar mehr Energie und Mittel in die Erforschug der Zusammenhänge zwischen Medienarbeit einerseits und Wahlergebnissen anderseits zu investieren – auch seitens der Wissenschaft. um empirisch gehaltvolle Fallstudien zu bekommen, welche die Diskussion der übergeordneten Fragestellungen erlauben.

Claude Longchamp

Ab- und Aufbau von Parteibindungen.

Die sechste Zürcher Vorlesung zur Wahlforschung behandelte die Dealignment/Realignment-Perspektive in der Analyse von Parteien. Ich halte das für den besten Ansatz, um mittelfristige Veränderungen in den Voraussetzungen von Wahlergebnissen zu verstehen.

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Bei aller Kritik, die das sozialpsychologische Konzept der Parteiidentifikation zwischenzeitlich erfahren hat: Die “emotionalen Mitgliedschaft” in Parteien bleibt eine entscheidende Verhaltensgrösse bei Wahlen. Sie ist aber weniger konstant, als man lange meinte. Und sie ist nicht die einzige individuelle Entscheidungsgrösse.

Dealignment: Abbau von Parteibindungen
Zahlreiche Studien vor allem von Russel Dalton, der Messungen der Verbreitung von Parteiidentifikation länderübegreifend verglichen hat, dass diese insgesamt zurückgehen. Er nennt das dealignment, zu Deutsch Erosion von Parteibindungen. Immer mehr BürgerInnen haben keine Parteibindung mehr, weil sie auch ohne solche politisieren können und wollen, oder weil sie sich für (Parteien)Politik nicht interessieren. Extrapolitiert man das, kommt man zum Schluss, dass sich eine Politik ohne Parteien etablieren wird.

Realignment: Aufbau von Parteibindungen
Dem muss man jedoch die dealignment-Perspektive, die der Neueinbindung gegenüber halten. Diese Neueinbindung kann taktischer Natur sein; sie kann sich in kritischen Wahlen äussern oder durch Wahlrechtsänderungen ausgelöst werden. Aus meiner Sicht entscheidend ist aber eine vierte Begründung: Die Neueinbindung von Menschen durch mittelfristige Prozesse wie die Verarbeitung von neuen Konflikten über eine Wahl hinaus.

Bei ErstwählerInnen ist das selbstredend. Der Aufbau von Parteibindungen bei Frauen kommt hinzu. Schliesslich weiss man, dass sich ausgehend von höheren Bildungsschichten neue Muster im Verhältnis von BürgerInnen und Parteien zeigen.

Das Beispiel Schweiz
Das Beispiel der Schweiz ist typisch für einen Realignment-Zyklus über eine Wahl hinaus. Zwar sank der Anteil parteigebundener Menschen grob gesprochen zwischen 1980 und 2000 von knapp 50-60 Prozent auf rund 30 Prozent. Seither nehmen die Anteile Parteigebundener aber wieder zu, sodass wir heute wieder annähernd gleich viele Parteibindungen kennen wie vor 30 Jahren.

Allerdings sind die neuen Parteienbindungen nicht die alten. Sie sind rund um die Verarbeitung neuer Fragestellungen entstanden. Erwähnt seien der Postmaterialismus oder der Nationalkonservatismus. Profitiert haben davon die SVP einerseits, die Grünen, zeitweise auch die SP anderseits. Neueinbindungen haben zunächst an den Polen stattgefunden. Der Prozess scheint nun an ein Ende zu gelangen. Das eröffnet im Zentrum neue Möglichkeiten, wie sich an der Entstehung neuer Parteien Mitte-Links und Mitte-Rechts zeigt, die neue Partei-Ein-Bindungen repräsentieren.

Wer weiss, vielleicht erfasst diese Entwicklung bald auch die Mitte!

Claude Longchamp

Wählen – aus der Sicht der Sozialwissenschaften

In meiner Zürcher Vorlesung zur Wahlforschung geht es gegenwärtig um die Theorie des Wählens. Vier verschiedene Annäherungen kommen zur Sprache: soziologische, psychologische, ökonomische und kommunikative Ansätze beleucht den individuellen Wahlakt aus verschiedenen Blickwinkeln. Eine kurze Uebersicht.

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Die Soziologie hält die Familie für den wichtigsten Ort der politischen Sozialisation. So wie die Eltern wählen, so sind auch die Vorgaben für die Jugendlichen. Denn man fühlt sich im Milieu, in das man hineingeboren wurde, in der Regl wohl. Man weiss darum, beispielsweise aus eine katholischen Haus zu kommen oder aus der Arbeiterschaft, dem Bürgertum resp. ist bei den Bauersleuten gut aufgehoben und drückt das mit einer über Generationen unveränderten Parteiwahl aus. Mobilität wiederum ist der wichtigste Grund für Aenderungen in der Wahltendenz aufgrund der Herkunft. Das beginnt mit der Schule, setzt sich eventuell in einem Studium fort, für das man in eine entfernte Stadt geht, neue Lebensweise kennen lernt und sich, vor allem wenn man sich als neue Generation versteht, politische ausrichtet.

Die Psychologie hat uns das Konzept der Parteiidentifikation nahegebracht. Beträchtliche Anteile der Wählenden gehen eine länger anhaltende, bisweilen lebenslange Bindung mit einer Partei ein. Sie wird als psychologische Parteimitgliedschaft verstanden. Diese Bindung ist primär emotionaler Natur. Greift die eigene Partei an, geht man mit; wird sie angegriffen, steht man schützend vor sie. Dies vereinfacht auch den Wahlentscheid, denn der wird nicht von Mal zu Mal gefällt, sondern aufgrund der Parteibindung. Themen, welche die bevorzugte Partei im Wahlkampf vorbringt, aber auch KandidatInnen, die sie zur Auswahl stellt, können die vor vorgeformte Wahlbereitschaft in einer konkreten Situation aktualisieren.

Die Oekonomie interessiert sich vor allem dafür, wie Wahlentscheidungen zwischen zwei gegensätzlichen KanidatInnen oder Parteien zustande kommen. Sie gehen davon aus, dass die WählerInnen ihre Mittel bei der Wahl optimal einsetzen wollen. Sie entscheiden sich, wie sie die Regierungsbildung mit ihrer Stimme am besten einsetzen können. Dabei gehen sie von thematischen Präferenz aus, aufgrund derer sie sich über die Parteienstandpunkte informieren, um sich dann für die Partei resp. die KandidatIn zu entscheiden, die ihnen positionsmässig am nächsten steht. Wirtschaftsthemen wie Arbeitslosigkeit, Inflation, Wachstum sind dabei die entscheidenden Kriterien der Parteiauswahl.

Die Kommunikationswissenschaft interpretiert die Wahlentscheidung als Prozess, während dem die Wählenden vorwiegend medial verfügbare Informationen über Parteien und KandidatInnen verarbeiten. Sie machen das aber nicht als unbeschriebene Blätter, sondern auf der Basis einer Grundlinie, die ihre Herkunft, ihre Werte und ihre Interessen reflektiert. Parteien und KandidatInnen, die in einer bestimmten Situation zur Auswahl stehen, lassen diese Grundlinie oszillieren, verleihen ihr Gestalt, geben ihre Farbe und Inhalt. In der Regel sind bei diesem Meinungsbildungsprozess die Netzwerke im eigenen Umfeld entscheidend. Je weniger über Politik aber geredet wird, umso wahrscheinlicher ist es, dass die Medienpräsentationen selber die Wahlentscheidungen prägen.

Soweit die vier Zugänge, jedenfalls auf der Ebene der Individuen! Ueber die Konsequenzen für die Parteien bald mehr.

Claude Longchamp

Klassiker der Wahlforschung:
Paul Lazarsfeld et. al. (1944): The People’s Choice. New York.
Angus Campbell et. al. (1960): The American Voter. New York.
Downs, Antony (1957): A Economic Theory of Democracy. (deutsch.: Oekonomische Theorie der Demokratie, 1968).
Schmitt-Beck, Rüdiger (2000). Politische Kommunikation und Wählerverhalten, Ein internationaler Vergleich. Wiesbaden.

Als Einführung:
Bürklin, Wilhlem, Klein, Markus (1998): Wahlen und Wählerverhalten. Eine Einführung. 2. Auflage.

Der schweizerische Nationalkonservatismus in der Gestalt der SVP

Die vierte Zürcher Vorlesung zur Wahlforschung war der Entstehung und Transformation von Parteiensystemen in Europa gewidmet. Mit Bezug auf die schweizerische Gegenwart war der Nationalkonservatismus ein zentrale Thema, das von der politischen Philosophie wie auch der massenmedialen Publizistik mehr behandelt wurde als von der Politikwissenschaft.

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Nationkonservatismus wird meist als Sammelbegriff für verschiedene politische und gesellschaftliche Bewegungen innerhalb des Konservatismus verwendet. Ihren gemeinsamen Kern haben sie im Streben nach einem unabhängigen Nationalstaat, und ihr wichtigster politischer Programmpunkt ist die Ablehnung der Einwanderung.

Parteipolitisch gesehen ist der Nationalkonservatismus verschiedenerorts zu Hause: bei den amerikanischen Republikanern und bei den britischen Tories findet man ihn. Ohne Zweifel hat er gerade im alpinen Raum breiten Rückhalt. Das gilt etwa für die österreichische BZOe, die (vormalige) italienische Alleanza nazionale und die Schweizerische Volkspartei. Anti-europäische Haltungen sind gerade in diesen Parteien stark verankert; nationale oder regionale Identitäten werden von Nationalkonservativen als wichtigste Barrieren gegen supra- und internationale Organisationen gesehen, die mit der zugelassenen Migration die Eigenheiten der nationalen und regionalen Kulturen bedrohen. Nicht selten geht der Nationalkonservatismus Verbindungen zu religiösen Strömungen ein, welche die christlichen Werte der westlichen Gesellschaft verteidigen. Gerne kennt er auch Schriftstellern und Intellektuellen Anhänger.

Selber verwende ich den Begriff seit den Wahlen 1999 um die weltanschauliche Entwicklung der SVP zu charakterisieren. Themen wie die Ueberfremdung der Schweiz, der schleichende EU-Beitritt, Probleme im Asylwesen und Missbräuche in den Sozialversicherungen haben der ehemaligen Mittelstandspartei eine neue Identität gegeben, Wahlsiege und Macht gebracht, konservativen Gesellschaftsvorstellungen Auftrieb verliehen und den politischen Stil in der Schweiz durch einen anhaltenden Rechtspopulismus verändert.

Diese Perspektive bevorzuge ich gegenüber der des (alpinen) Rechtsextremismus resp. des Rechtsautoritarismus. Zwar zeigen sich Elemente, wie sie etwa Herbert Kitschelt für die Analyse neuer Strömungen im Parteiensystem herausgearbeitet habt, auch innerhalb der SVP. Und es ist unbestritten, dass sich die SVP als Gegenpol zu linkslibertären Strömungen versteht, wie es Kitschelt in seiner Erweiterung der klassischen Links/Rechts-Achse durch Weltanschauungen herausgearbeitet hat, die für die Gewinner und Verlierer des Globalisierungsprozesses typisch sind.

Doch verstellt die Rechtsextremismus-Analyse den Blick auf das Entscheidende an der Transformation der SVP. Denn anders als der Rechtsextremimus, der durch seine Programmatik in der Regel nur Aussenseiter und Minderheiten anspricht, ist der Nationalkonservatismus eine populäre Strömung innerhalb der Wählerschaft, die sich in einer breiten Unterstützung einer restriktiven Asylpolitik ausdrückt, die den Patriotismus bürgerlicher Parteien kontert und die namhafte Teil der Unterschichten anspricht. Typischer als antidemokratische Haltungen der Rechtsextremen sind bei der SVP zudem staatskritische Positionen aufgrund der propagierten Eigenverantwortung und geforderten Steuersenkungen, die eher dem liberalkonservativen Spektrum zuzurechnen sind.

Zu den Eigenheiten der SVP gehört aber, dass sie sich gegen politischen Bewegungen zwischen dem Nationalkonservatismus einerseits, dem Rechtsextremismus anderseits offen erweist, um das Entstehen einer Partei rechts von ihr zu verhindern. Das ergibt sich aus der Grösse und Funktion der Partei, die zwischenzeitlich am meisten Wählende in der Schweiz hat und die – anders als die Republikaner in den 70er Jahren – für sich beanspruchen kann, das rechtskonservative Spektrum alleine abzudecken.

Claude Longchamp

Literatur:

Analysen des Nationalkonservatismus in der Schweiz
Claude Longchamp (2000): Die nationalkonservative Revolte in der Gestalt der SVP. Eine Analyse der Nationalratswahlen 1999 in der Schweiz, in: Fritz Plasser/Peter A. Ulram/Franz Sommer (Hg.): Das österreichische Wahlverhalten. Wien: WUV, 393-423
Hanspeter Kriesi (u.a.) 2005: Der Aufstieg der SVP. Acht Kantone im Vergleich, Zürich: NZZ-Verlag

Vergleichende Analysen des Rechtspopulismus
Hans-Georg Betz 2001: Exclusionary Populism in Austria, Italy, and Switzerland, in: International Journal 56: 393-420
Oscar Mazzoleni: Nationalisme et populisme en Suisse. La radicalisation de la ‘nouvelle’ UDC. Lausanne 2003

Vergleichende Analysen des alpinen Rechtsradikalismus

Anthony J. McGann/Herbert Kitschelt 2005: The Radical Right in the Alps. Evolution of Support for the Swiss SVP and Austrian FPÖ, in: Party Politics 2/2005: 147-171

Zur Verortung von Grundlagen- und Anwendungsforschung in den Sozialwissenschaften

Die heutige dritte Vorlesung an der Universität Zürich zur Wahlforschung war der Wissenschaftstheorie und -praxis gewidmet. Dabei stellte ich ein Schema vor, das ich speziell zur Verortung von Grundlagen- und Anwendungsforschung in den Sozialwissenschaften entwickelt habe.

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Karl Popper Wissenschaftstheorie bildet den Ausgangspunkt. Wirklichkeit und Wissenschaft werden getrennt. Wissenschaft ist der Wahrheitssuche verpflichtet. Dabei nähert sie sich der Realität heuristisch an. In dieser Phase müssen fehlerhafte Beobachtungen und widersprüchliche Konsequenzen ausgeschlossen werden. Was sich darüber hinaus bewährt, wird verallgemeinert. Etablierte Theorien zeichnen sich dadurchaus, dass sie in der Regel Ableitungen zulassen, die Prognosen liefern, welche mit der Wirklichkeit übereinstimmen.

Doch bin ich nicht bei der klassischen Zweiteilung von Induktion und Deduktion stehen geblieben. Vielmehr habe ich die Logik der Forschung nach dem deutschen Soziologen Volker Dreier viergeteilt, der die Wissenschaftspraxis untersucht hat. Demnach kommen die Konstruktion und Reduktion hinzu. Denn die Beobachtung der Forschung selber zeigt, dass die Induktion nur zu brauchbaren Hypothesen führt, auf denen eigentliche Theorien konstruiert werden müssen. Und die Deduktionen sind selten so trennschaf, dass sie ohne Reduktionen der entwickelten Vielfältigkeit zu eindeutigen Ergebnissen führen. Das Erste ist eine Präzisierung der Arbeit in der Grundlagenforschung, das zweite in der Anwendungsforschung.

Damit bin ich beim eigentlichen Zweck des Schema. Die Grundlagenforschung, meist von akademischen ForscherInnen betrieben, beschäftigt sich vor allem mit der Entwicklung von Theorien. Dabei setzt sich zunächst auf die Falsifikation von Irrtümern, zusehens aber auf die Bestätigung und Verfeinerung von an sich bewährten Hypothesen. Minimales Ziel ist die Erklärung von bestehenden Sachverhalten, maximales die Prognose neuer Zustände oder Trends. Die Anwendungsforschung übernimmt diese zwei Operationen, erweitert sich aber durch zwei andere Kompetenzen: die Beschreibung des Ist-Zustandes einerseits, die Deutung dessen, was ist anderseits. Beides kommt dann zum Zug, wenn es um Realitätsausschnitte geht, für die noch keine gesicherten Theorien bestehen. Das ist so, ob ausseruniversitäre oder universitäre WissenschafterInnen angewandt forschen.

Claude Longchamp

Prognosetools im Praxistest

Die zweite Vorlesung an der Uni Zürich zur Wahlforschung bot am Freitag vor der Entscheidung Gelegenheit eine Uebersicht zu den Prognosen zu den deutschen Bundestagswahlen zu geben. Jetzt kann man sie die eher theoretischen Ueberlegungen aufgrund des Praxistests überprüfen.

Zur Sprache kamen (unter anderem) Stärken und Schwächen der drei Tools, die bei den Bundestagswahlen 2009 angewandt wurden: politökonomische Schätzgleichungen, Wählerbefragungen und Wahlbörsen.

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Weitere Ergebnisse finden sich hier aufgearbeitet.

Zwischenzeitlich kann man nicht nur eine konzeptionelle Beurteilung vornehmen, vielmehr ist es auch möglich, die Instrumente zu bewerten.

. Die Befragungen lagen grösstenteils richtig. Generell wurden die grösseren Parteien leicht überschützt, während die kleineren minimal zu schwach ausgewiesen wurden. Damit lag die Ueberzahl der Institute bei den Koalitionsaussagen richtig.
. Die Wahlbörsen überschätzten die SPD recht klar, und sie lagen auf der bürgerlichen Seite leicht zurück. Die Koalitionsaussage war bis eine Woche vor der Wahl falsch, suggerierte sie doch eine Fortsetzung der grossen Koalition.
. Die Schätzgleichung zu deutschen Wahlen, die Thomas Gschwend entwickelt hat, lag für die siegreiche Koalition von CDU/CSU und FDP richtig, wenn sie auch den Wähleranteil überschätzte.

Aus diesen Beobachtungen heraus kann man zwei Folgerungen ziehen: Umfragen, die kurz vor Schluss gemacht werden, sind das präziseste Prognosetool. Der Ausreisser von 2005 hat sich nicht wiederholt; bedingt war er durch die Unsicherheit, die durch die neu auftretende Linke entstanden war. Politökonomische Schätgleichungen haben sich etabliert, auch wenn man noch zu wenig Erfahrungen mit ihrer Robustheit hat. Schliesslich können auch Wahlbörsen eingeschränkt verwendet werden.

Es ist nicht auszuschliessen, dass sich die drei Tools gegenseitig beeinflussen: Schätzgleichungen liefern als Erstes Prognosen. Die können Umfrageergebnisse beeinflussen, namentlich die Gewichtung von Rohdaten. Schliesslich bestimmt beides Erwartungshaltungen, auch die der Börsianer.

Claude Longchamp

Beschreiben, diagnostizieren, erklären und vorhersagen

Was muss ein Wahlforscher, eine Wahlforscherin in der Praxis können? Vier Fähigkeiten sollte man entwickeln: die der Beschreibung von Wahlen, der Diagnose von Ergebnisse, der Erklärung von Ursachen hierfür und der Vorhersage von Wahlen. Das ist eine der Quintessenzen aus meiner ersten Einführung in die Vorlesung der Wahlforschung.

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Jürgen Falter, Professor für Politikwissenschaft in Mainz, einer der führenden Wahlforscher in Deutschland, der eine eigene Praxis entwickelt hat

Das letzte ist gleichzeitig das Spektakulärste und Schwierigste. Wer weiss, wie etwas ausgeht, und das im Voraus mitteilt, ist eine gemachte Person in der Wahlforschung. Und trotzdem sollte man nicht damit anfangen. Denn es gibt vielfach nur Ansätze für Prognose, keine fertigen Theorien, keine eindeutigen Methoden.

Die Forschung ist heute vor allem im Bereich der Erklärung tätig. Wenn das Ergebnis bekannt ist, will man es erklären können. Die Ursachenklärung ist etwas weniger schwierig als die Vorhersage. Denn sie hat eine andere Logik. In diesem Bereich gibt es sehr wohl Theorie, Methoden und Verfahren, die sich in den Fachdisziplinen bewährt haben.

WahlforscherInnen können nicht immer warten, bis sie aufwendige Untersuchungen abgeschlossen sind. Sie müssen aus ihrem Wissen heraus, aber auch mit ihrer Erfahrung eine geeignete Diagnose stellen können, was Sache sein könnte. Dabei stützen sie sich in der Regel auf frühere Untersuchungen, und machen sie Analogieschlüsse zu Geschehenem anderswo oder frühr, um eine Fährte zu legen, die ans Ziel führen kann.

Die einfachste, aber grundlegendste Fähigkeit von Wahlforschung ist die Beschreibung: Beim Ergebnis ist das in der Regel sehr einfach. Schwieriger ist es, wenn es um Prozesse geht, beispielsweise um den Wahlkampf, und um das Umfeld, in dem dieser stattfindet. Schwierigkeiten ergeben sich auch, weil man für die wissenschaftliche Beschreibung eine Fachsprache braucht, um nicht ideologischen Fallen der Politiksprache zu erliegen.

Die Grundlagenforschung konzentriert sich in der Regel auf die Entwicklung der beiden ersten Fähigkeiten. Sie sind auch die beiden, die am stärksten theorie-orientiert sind. Die Anwendungsforschung ist nicht so eingeschränkt. Gerade die Kompetenz zur Diagnose, zur Deutung eines Geschehens, um es verständlich zu machen, ist hier wichtig. Und auch die Beschreibung will gelernt sein, denn sie kommt der Realität am nächsten, und sie bildet gleichzeitig die Basis, auf der alle anderen Kompetenzen erst entwickelt werden können.

Ausgestattet mit diesen wissenschaftstheoretischen Kompetenzen kann man sich als WissenschafterIn in eine Praxis begeben.

Claude Longchamp

Das www der Wahlforschung

“Wer wählt wen?”, interessiert in der Wahlforschung sowohl die Theorie wie auch die Praxis.

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Lichthof im Hauptgebäude der Universität Zürich, auf den ich bei meiner inneren Vor- und Nachbereitung zur Vorlesung sehe

Klassische Vorlesungen zu diesem Thema beginnen mit dem Satz, die Wahlforschung sei die Königsdisziplin der Politikwissenschaft und die Umfrageforschung der Königsweg der Datenbeschaffung. Theorien des Wählens und Bevölkerungsstudien hierzu bilden die Basis, auf der Studierende lernen, wissenschaftliche Fragen zu stellen, entsprechende Hypothesen anhand zu testen und statistische Verfahren und Kennzifferenz anzuwenden, um zu gesicherten Aussagen zu kommen.

Für diese Vorlesung habe ich, wie Untertitel antönt, ein breiteres Vorgehen im Sinn. Mir geht es um Wahlforschung in Theorie, Empirie und Praxis. Ich werde also nicht nur den wissenschaftstheoretischen Teil der Wahlforschung ausloten, sondern auch den wissenschaftspraktischen.

Das unbestrittene Bindeglied zwischen allen drei Aspekten der Wahlforschung ist die Empirie. Die heutigen Theorien, egal ob sie aus der Politökonomie, der Sozialpsychologie, der Gesellschaft- oder Medienwissenschaft stammen, sind samt und sonders empirisch geprüft, korrigiert und weiterentwickelt worden.

Aber auch die Praktiker der Wahlforschung kommen ohne ihre Daten nicht aus. Diese gewinnen sie aus Umfragen, Inhaltsanalysen, real-time-Beobachtungen, um zu sagen, was gilt, was nicht ist, allenfalls um zu spekulieren, was wird.

Zwar gibt es immer noch Vorurteile auf allen Seiten: Demnach sind Empiriker reine Fliegenbeinchenzähler, Praktiker verhinderte Politiker und Theoretiker nutzlose Denker. Doch hat mich die Beobachtung der Wahlforschung selber in den letzten 15 Jahren gelehrt, dass die drei Felder näher gerückt sind. Die Denker, die Rechner und die Vermittler sind mit Ausnahmen dabei, sich näher zu kommen. Denn zwischenzeitlich ist man sich der Grenzen wissenschaftlicher Theorie bewusster, und umgekehrt weiss man auch, dass Zahlen für sich nicht sprechen.

Meine Absicht in diesem Kurs ist es zu zeigen, dass sowohl die Praxis von der Theorie wie auch die Theorie von der Praxis lernen kann. Denn alle WahlforscherInnen interessieren sich letztlich fürs Gleiche: “Wer wen wählt?”, ist die minimale Formel, “warum wer wen mit welche Wirkungen wählt” die maximale – sei dies in Praxis oder Theorie.

Claude Longchamp

Von der Theorie zur Praxis und zurück: meine Vorlesung zur Wahlforschung

Heute beginnt meine Vorlesung an der Universität Zürich zur “Wahlforschung in Theorie, Empirie und Praxis“. Ein Glanzlicht während der Vorbereitung hierzu sei hier nochmals angezündet.

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Richard Lau, Psychologe und Professor für Politikwissenschaft, der eine neue Theorie des Wählens entwickelt hat.

Während meinen Vorbereitungen entdeckte ich eine Theorie, die mir so nicht bekannt war. Publiziert wurde sie vom Psychologen Richard R. Lau, Inhaber eines politologischen Lehrstuhls an der Schule für Künste und Wissenschaft der Ruthgers Universität in der Vereinigten Staat. Gemeinsam mit seinem Schüler David P. Redlawsk fasst seine Ueberlegungen aus 25 Jahren emprischer Forschung mit Blick auf die amerikanischen Präsidentschaftswahlen von 2008 in einem von der Internationalen Vereinigung für politische Psychologie preisgekränten Buch zusammen.

Ausgangspunkt der so dargestellte Theorie sind Beobachtungen zu simulierten Kandidatenauswahlen, die 4 Entscheidungsarten nahelegen:

Die wenigsten verarbeiteten alle verfügbaren Informationen, um dann die Bewerbung auszuwählen, die ihren Präferenzen am nächsten kommt. Doch genau das postulierte die Rational-Choice-Theorie vor rund 50 Jahren. Häufiger nachweisbar sind drei andere Vorgehensweisen. Eine davon besteht darin, KandidatInnen zu vergleichen und sich anhand der Uebereinstimmung zu Grundwerten festzulegen, die man in der Regel in der frühen politischen Sozialisation via Eltern, Schulen oder Medien entwickelt hat. Eine zweite setzt vor allem auf Effizienz. Die vorhandene Informationen hinsichtlich der Charakteristiken ausgewählt, die Bewertungen zu den unmittelbaren Problemen der Wählenden im Moment der Entscheidung machen. Drittens gibt es Alltagserfahrungen, die in früheren, vergleichbaren Situationen zu Entscheidungen geführt haben, die bisher nicht bereut wurden. Diese Schematas lassen schon bei geringer Information intuitive Entscheidungen zu.

Nach den Beobachtung von Richard Lau können nur einzelnen Entscheidungen, nicht aber einzelnen Menschen klassiert werden. Denn Lebensgeschichten, bisher gemachte Erfahrungen und Interessenlagen können ebenso zu Veränderungen der Entscheidungsmodi führen, wie die Variantion von Wahlen, Parteien und KandidatInnen.

Das Buch hat mich aus drei Gründen angeregt: Erstens, weil hier nicht der klassischen Frage der Wahlforschung nachgegangen wird, wer wen wählt, vielmehr der Prozess der Entscheidung selber interessiert. Zweitens, weil das einzigartige Modell der Entscheidung, wie es die rational-choice Theorie meist unterstellt, empirisch hinterfragt und zu einer umfassenderen Entscheidungstheorie weiterentwickelt wurde. Und drittens, weil politische Entscheidungen, die davon abweichen, nicht zwingend identisch, aber auch nicht einfach unkorrekt ausfallen müssen, denn BürgerInnen sind aufgrund von Erfahrung und Intuition selbst unter knapper Zeit, die sie für Entscheidungen aufwenden, in der Lage, (einigermassen) kohärente Entscheidungen zu treffen.

Selbstredend wird nicht nur diese Studie in der Vorlesung diskutiert. Denn es geht um eine Uebersicht zu allen vorherrschenden Theorie des Wählens, um die Frage, wie diese aufgrund von Fakten geprüft, kritisiert und weiterentwickelt werden können, und was Forschung in der Praxis als PolitikwissenschafterIn bringt, sei es, wenn man Parteien berät, Kampagnen plant, für Medien Analysen verfasst oder bloggend Vorträge hält. Werde laufend berichten …

Claude Longchamp

Richard R. Lau, David P. Redlawsk: How Voter Decide. Information Processing during Election Campaign, Cambridge 2006