Wahlforschung in Theorie und Praxis (2): Die Grillini in der politikwissenschaftlichen Analyse

Beppe Grillo ist der neue Star und Schreck der italienischen Politik zugleich, denn der Populist weiss einen Viertel der Wählenden hinter sich und schränkt mit seinen Positionen die Regierungsbildung entscheidend ein. Der italienische Politikwissenschafter Giovanni Sartori hat vor 35 Jahren ein Instrumentarium entwickelt, um die Kennzeichen solcher Wahlergebnisse wissenschaftlich umreissen zu können.

Giovanni Sartoris Idee war es, den parteipolitischen Pluralismus, der beim Uebergang vom Zwei- zum Mehrparteiensystem entsteht, einschätzen zu lernen. Denn anders als in Zweiparteiensystemen mit in der Regel klarem Wahlsieger, können Wahlen in Mehrparteiensystemen zu Regierungsbildungen führen, die von geregelt bis ungeregelt ablaufen. Konkret differenzierte der italienische Experte zwischen gemässigtem, polarisiertem und segmentiertem Pluralismus. Ersteres liegt dann vor, wenn ein Mehrparteiensystem Parteien mit ungleicher Stärke, aber geringer ideologischer Spaltungen kennt; zweiteres wird durch weltanschauliche Distanzen zwischen den relevanten Parteien definiert, und vom dritten Typ kann man dann sprechen, wenn relevante Parteien eine Regierungsbildung mit anderen Gruppierungen ausschliessen. Im ersten Fall ist Regierungsbildung normalerweise ohne Probleme möglich, im zweiten ist sie erschwert, im dritten wird sie verunmöglicht.


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Die Lage in Italien
Ohne Zweifel, Italiens Parteiensystem der Gegenwart ist pluralistisch, ja pluralistischer geworden Drei Parteien-Bündnisse, eine weitere Einzelpartei Partei und drei Regionallisten schafften den Einzug in Kammer und Senat. Zwischen 1994 und 2013 dominierten zwei Bündnisse, das Rechte und das Linke, die sich in der Regierung abwechselten. Seit Neuestem funktioniert das nicht mehr, um gesichert regieren zu können. Hauptgrund ist die 5-Sterne-Bewegung des Politkomikers Beppe Grillo. Denn seine gut 25 Prozent Wählende will er in keine Regierungskoalition einbringen, und auch keine Minderheitsregierung will er auf Dauer dulden. Einzig Uebereinstimmungen in der Sache lässt er mit links und rechts zu, wenn es dem Volk diene.


Beppe Grillo, Chef des Movimento5stelle

Der ausdrückliche Bezug auf das ungeteilte Volk ist typisch für Populisten aller Art. Dazu gehört, dass die neue politische Partei kein entwickeltes Programm vorgelegt hat. Versprochen hat siee, ein Grundeinkommen für alle einzuführen. Zudem will sie sich für ein Referendum einsetzen, mit dem man über den Verbleib Italiens in der Euro-Zone entscheiden will. Seit der Wahl lässt man durchblicken, die Schulden nicht abbezahlen zu wollen, da der jetzige Staat sowieso zusammenkrachen werde.
Ein solches Programm ist nicht ohne Grund: Die Wirtschaftsleitungen Italiens sind klar rückläufig. Die Märkte haben die Regierung Berlusconi ausgehebelt, und die EU führte die Regierung Monti. Denn mit der Entwicklung der drittgrössten Wirtschaft innerhalb der Europäischen Union steht auch die Zukunft des Euros auf dem Spiel. Erschwert werden die institutionellen Reformen in Italien durch ein Parteiensystem, das ausgeprägt dem folgte, was die Politikwissenschafter Richard Katz und Peter Mair “Kartellparteien” genannt haben: politische Gruppierungen, die als Kompensation für ihre verringerte gesellschaftliche Verankerung in erhöhtem Masse vom Staat leben, mit der Folge, dass die Habenden Nichthabende ausgrenzen, derweil die Konsequenzen von Sieg und Niederlage bei Wahlen verringert sind, denn staatliche Unterstützung wird ganz unabhängig davon gewährleistet. Genau dagegen wehren sich die „Grillini“, beispielsweise mit ihrer Forderung, mit einer schnellen Wahlrechtsreform die Zahl der ParlamentarierInnen zu senken.
Dafür das Anhalten des innenpolitischen Drucks auf die kommende Regierung sorgt Beppe Grillo selber. Für ein Parlamentsamt hat sich schon gar nicht beworben. Er zieht es vor, wortgewaltig ausserparlamentarisch Bewegungen auszulösen oder zu stoppen; beispielsweise mit seinen Tiraden auf den Staat, die Institutionen und die Mitbewerber in der Politik, lanciert oder unterstützt via Twitter, wo er auf eine Million Follower zählen kann! Diese neuartigen “Parteiengemeinschaft” vermittelt er erfolgreich das Gefühl, Teil der relevanten Arena der italienischen Politik zu sein.

Nach Giovanni Sartori erfüllt der gegenwärtige Parteienwettbewerb in Italien wichtige Bedingungen, dass das Parteiensystem heute nicht mehr nur extrem fragmentiert ist, und es auch nicht nur durch eine starke Polarisierung prägt wird, sondern eigentliche Antisystemparteien Wahlerfolge feiern. Diese segmentieren die parteipolitische Landschaft so, dass Mehrheitsbildungen und damit Regierungsfähigkeit weitgehend ausgeschlossen werden. Statt stabile Verhältnisse zu gewährleisten, wie es die Theorie vorsehen würde, befördert die Praxis entsprechender Wahlen die Instabilität. Und so zeichnet sich immer deutlicher ein Szenario ab: Pier Luigi Bersani bildet eine Minderheitsregierung, welche die Regierung Monti ablöst, ein Jahr lang ein Notprogramm realisiert, zudem auch ein neues Wahlrecht gehört, auf dessen Basis spätestens 2014 ein gänzlich erneuertes Parlament gewählt wird.

Der Vergleich zur Schweiz

Um mit dem Instrumentarium der Parteisystemanalyse umgehen zu lernen, habe ich meine Studierenden in der gestrigen Vorlesung gebeten, die Schweizer Parteienlandschaft nach den Wahlen 2011 zu beurteilen. Es lag auf der Hand, dass wir keine italienischen Verhältnisse hatten. Zwar ist die Regierungsbildung auch hierzulande etwas erschwert, aber nicht verunmöglicht. Gelegentlich finden sich Spuren der besagten Segmentierung, beispielsweise 2007, als die Grünen den möglichen Eintritt in den Bundesrat mit dem Ausschluss der SVP zu verbinden suchten; oder wenn die SVP, wie 2011 geschehen, damit droht, die Regierungsbildung unter Ausschluss der Linken selber an die Hand nehmen zu wollen, sollte die Mehrheit des Parlaments ihre Wunschkandidaten für den Bundesrat nicht berüchsichtigen. Allerdings, anders als die 5-Sterne können weder die SVP, noch die Grünen die Bildung einer Regierung sperren.


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Typisch für das heutige Parteiensystem der Schweiz ist indessen die Polarisierung geworden. Seit den 90er Jahren haben angesichts neuer Konflikte die weltanschaulichen Differenzen zwischen den Parteien an Bedeutung gewonnen. Wie zahlreiche Studien der letzten Jahre zu WählerInnen-Präferenzen, Parteiprogrammen, Kandidatenpositionen und Fraktionsverhalten belegen, ist die ideologische Distanz insbesondere zwischen der SVP auf der einen, der SP und der GPS auf der anderen Seite gewachsen. Verringert haben sich damit die Gemeinsamkeiten der Bundesratsparteien, wobei FDP und CVP, die sich sachlich noch am nächsten stehen, gemeinsame Positionen im Nationalrat nicht ohne weiteren Partner durchbringen können. Anders als in Italien hat die Schweiz nicht eine blockierende Mitte, sondern eine blockerte.


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Etwas veränderlich ist die Zahl der effektiven Parteien, wie Sartori das Produkt aus Parlamentsparteien und ihrer Wählerstärke nannte. 1991 erreichte unser Parteiensystem den bisherigen Höchstwert an Fragmentierung, der sich angesichts der Konzentrationsbewegungen rund um die SVP vorübergehend verringerte, mit dem Entstehen von GLP und BDP jedoch wieder etwas erhöhte. Unabhängig davon, die Fraktionalisierung des schweizerischen Parteiensystems ist, gerade auch im europäischen Vergleich überdurchschnittlich hoch.

Auch in meiner Analyse passen diese Befunde zum polarisierten Pluralismus. Ich weiss, dass nicht alle Schweizer PolitikwissenschafterInnen das so akzentuiert sehen. Meines Erachtens ist es aber genau das, was auch Wahlforschung hierzulande spannend macht: Die Differenz beispielsweise bei Wahlen zu bestimmen, die entsteht, weil wir ein politisches System haben, das auf Machtteilung angelegt ist und bleibt, derweil für das Parteiensystem Machtkonzentrationen typischer geworden sind, die zur Konkordanz nicht wirklich passen wollen.

Claude Longchamp

Wahlforschung in Theorie und Praxis (1): Analyse der Landtagswahl 2013 in Liechtenstein

Meiner erste Vorlesung “Wahlforschung in Theorie und Praxis” im Frühlingssemester an der Uni Zürich behandelte die jüngsten Wahlen in Liechtenstein. Was taugt Wahlforschung, auch wenn man keine Untersuchungen zu WählerInnen-Entscheidungen hat. Eine Kostprobe.

Das Ergebnis der Liechtensteiner Landtagswahl vom 3. Februar 2012 hallt wohl noch nach. Erstmals hat Liechtenstein vier politische Gruppierungen im Landtag; zur FBP, VU und FL sind die DU (“Die Unabhängigen”) hinzu gekommen. Wahlverluste gab es vor allem für die VU, aber auch für die FBP, derweil die DU abräumte, aber auch die FL zulegen konnte. Mit der Regierungsbildung ist die grösste Partei, diesmal die FBP, betraut. Nach Sondierungsgesprächen mit allen Gruppierungen strebt sie eine Koalition mit der VU an, um dem Land Stabilität zu gewähren, wie sie selber sagt.


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Quantitativ sind zwei Ergebnisse der Wahl von Belang: Liechtensteins Wahlgeschichte legt nahe, dass der Zyklus, während dem eine Partei die stärkste im Ländle ist, immer kürzer wird. Die VU hielt sich eben eine Legislatur in dieser Position, die FBP war das zuvor während zweier Amtsperioden, während frühere Konstellationen mindestens sechs Wahlen in Folge hielten. Man kann es auch so sagen: Mit dem EWR-Beitritt ist das Modell Liechtenstein in Bewegung geraten. Debatten um das Fürstenhaus und seine Stellung im Regierungssystem erschüttert widerkehrend das Ländle. Zudem verzeichnet der Volatilitätsindex, die Richterskala für politische Erdbeben, mit 17,6 einen bisher unbekannten Rekordwert. Auch das hat einen Hintergrund: Der Umbruch im Parteien im Parteiensystem Liechtensteins ist gegenwärtig so gross wie noch nie – die aktuelle Situation stellt die bisherigen Krisen in den Schatten.


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Politikwissenschaftlich kann man von einer Erosion der beiden grossen Volksparteien sprechen, wie man das aus anderen Ländern kennt. In der Schweiz hält der Trend seit Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts an: Symptomatisch dafür ist der Niedergang von FDP und CVP, dem vormals ruhenden Pol im schweizerischen Parteiensystem. Allgemein typisch für den Wandel ist, dass die Bindungsfähigkeit von Volksparteien, insbesondere in jüngeren Generationen nachlässt. Hauptgrund hierfür sie die veränderten Sozialisationsbedingungen in individualisierten Gesellschaft, aber auch der Funktionsverlust von traditionellen Parteien. Das eröffnet Spielräume für neuen Parteien, die ihrerseits die Dekomposition von Volksparteien vorantreiben.

In Liechtenstein begann das in den 80er Jahren mit dem Aufkommen der FL. Seit 1993 ist sie konstant im Landtag vertreten. Soziologisch gesprochen ist sie mit dem Wachstum neuer Mittelschichten und ihren veränderten Wertvorstellungen entstanden. Sich selber sehen sich die FL-Wählenden links der beiden grossen Parteien, ihre Wählerschaft ist mehrheitlich weiblich und überdurchschnittlich gut ausgebildet. Das hat Teile der Gesellschaft Liechtenstein von den vorherrschenden Parteien entfremdet.

Ob 2013 der zweite Schritt gemacht worden ist, muss man offen noch etwas lassen. Ein erster Schritt war die Landtagswahl ohne Zweifel, ob der entscheidende Schritt aber schon gemacht wurde, weiss gegenwärtig niemand. Das hängt zunächst mit der gewählten Mannschaft der DU selber zusammen. Denn die kann und will sich programmatisch nicht so schnell festlegen. Das aber erschwert WählerInnen-Bindungen über den Moment hinaus, und es macht die Bewegung nicht unbedingt allianzfähig, um bei Regierungsbildungen verbindlich mitreden zu können.

Meine These ist, dass die DU dann mittelfristigen Erfolg haben wir, wenn sie sich für eine Nischenpolitik rechts der beiden Volksparteien entscheidet. Ich meine damit nicht rechtspopulistisch, aber rechtsbürgerlich.

Eine Nischenpolitik führen heisst, im Auftritt nicht die Volksparteien kopieren zu wollen, aber auch nicht auf den vermeintlichen “Flugsand” zu setzen, der die FL begünstigen würde. Vielmehr heisst es, Interessenpolitik zu machen. Der Umbruch im Finanzplatz Liechtensteins, aber auch beim öffentlichen Budget im Ländle sowie bei den Pensionskassen dürften genügend Platz schaffen, um Interessen abzudecken, die von der Regierungsposition abweichen werden. Soziologisch gesehen sollte sich die DU als Partei der jüngsten Generation profilieren; und es würde nicht überraschen, wenn Wählerbefragungen in Zukunft zeigen werden, dass sie für Männer attraktiver ist als für Frauen, für gut gebildete eher als für normale BürgerInnen.


Quelle: Gabriel/Westle 2012
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Bis auf Weiteres gilt (auch) für Liechtenstein: Traditionelle Parteibindungen weichen sich auf: einmal, weil die bekannten Sozialisationsmechanismen bei Jungen nicht mehr im gewohnten Masse greifen, dann, weil neue Themenlagen die bisherigen Loyalitäten sprengen. Neuorientierungen, kann man vermuten, finden in oberen Bildungsschichten statt, in unteren nimmt die Parteiungebundenheit zu.

Genau deshalb würde ich heute nicht von einem eigentlichen “realignment” im Liechtensteiner Parteiensystem zu sprechen, von “dealignment” aber schon. “Dealignment” kann man dabei mit Erosion umschreiben, ein Phänomen, von dem aktuell die VU als vormalige Mehrheitspartei betroffen ist, das sich aber auch verallgemeinern kann. “Realignment” wiederum wäre Einbindung in neue oder erneuerte Parteien, und zwar auf Dauer. Dazu reicht das Angebot der DU noch nicht.

Deshalb war die jüngste Wahl trotz erheblicher Veränderungen wohl auch nicht “kritisch”, wie die Wahlforschung es nennen würde, wenn sich nachhaltig etwas ändert. Eine “converting election”, wie es Jürgen Falter vor Jahren definierte, war es jedoch schon. Wenn die Veränderung dennoch überdurchschnittlich gross war, hat das, nebst den aktuellen Themen, mit den Rücktritten in der Regierung auch mit der Sperrklausel von 8 Prozent zu tun. Eine solche verzögert die kontinuierlichen Anpassung des Parteiensystems und der Parteistärken an neue Gegebenheiten. Und wenn es dann dazu kommt, ist der Knall umso lauter.

Wie ich die Reaktionen der Studierenden während der Veranstaltung wahrgenommen habe, wie mir aber auch die nachträglichen Fragen, die mir gestellt wurden, zeigt, interessiert die Veranstaltung die 60 Teilnehmenden. Es war wohl mehr, als ein blutleeren Rahmenvortrag zum (gewissen) Wahltheorien – es war durchaus als angewandte Wahlanalyse gedacht, die man aus und für die Praxis macht.

Claude Longchamp

Wahlforschung in Theorie und Praxis – Meine Zürcher Vorlesung im Frühlingssemester 2013

Bald schon beginnt das Frühlingssemester an der Uni. In Zürich werde ich meine Vorlesung zur “Wahlforschung in Theorie und Praxis” halten. Hier eine Uebersicht, was ich vorhabe.


Wo die Zürcher PolitikwissenschafterInnen arbeiten, unter andere auch Silja Häusermann, die neue Inhaberin des Lehrstuhls für Schweizer Politik/Politische Oekonomie, an dem der Kurs stattfindet.

Die Veranstaltung richtet sich an Studierende im Haupt- oder Nebenfach Politikwissenschaft offen. Ganz bewusst ist sie interdisziplinär konzipiert, und es geht nicht nur um Theorien, sondern auch um Praxis.

Der erste Teil führt in die gängigen und neuen Theorien der Wahlforschung ein, wie sie meist in den USA entwickelt worden sind und von da aus nach Europa und in die Schweiz ausstrahlen. Vorgestellt werden Klassiker wie Paul Lazarsfeld (Medienwissenschaft), Antony Downs (Oekonomie), Angus Campbell (Psychologie) und Seymour M. Lipset resp. Stein Rokkan (Soziologie). Doch soll es dabei nicht bleiben, denn es interessieren auch integrierte Modelle, wie sie in den letzten 10 Jahren von Michael Lewis-Beck, Russell Dalton, Ronald Inglehart, Herbert Kitschelt oder Rüdiger Schmitt-Beck vorgeschlagen wurden. Teilnehmende sollen entsprechend befähigt werden, die zentralen Argumente der heutige Wahlforschung zu Wählerverhalten, Konfliktregelung durch Parteien und den Auswirkungen des ökönomischen und medialen Wandels zu kennen und anwenden zu lernen.

Der zweite und dritte Teil der Vorlesung ist dem erforschten Teil von Wahlen und dem Wahlgeschehen namentlich in der Schweiz gewidmet. Vorgestellt werden wichtige politikwissenschaftliche Projekte wie “Selects”, “SRG-Wahlbarometer” oder “smartvote”, um das Wähler- und Kandidatenverhalten geprüft beschreiben zu können. Zur Sprache kommen aber auch Studien, wie sie die Statistik-Aemter heute erstellen. Dabei geht es um das, was man zu den Wahlen 2011 weiss. Es soll aufgezeigt werden, wohin sich die Wahlforschung entwickelt, beispielsweise mit Untersuchungen zum geschlechtsspezifischen Wählen, zur Veränderung der politischen Partizipation, zum Einsatz alter und neuer Medien und zu den Unterschieden der Entscheidung bei National- und Ständeratswahlen. Ziel dieses Teils ist es, die konkrete Wahlforschung in der Schweiz auf aktuellem Stand in der Uebersicht zu verstehen.

Der dritte Teil befasst sich mit der Rolle der Forschung zu, während und nach Wahl(kämpf)en. Es geht darum, welche Expertise PolitikwissenschafterInnen in der Praxis haben, beispielsweise wenn sie für Medien oder Parteien arbeiten. Damit wird das Ziel verfolgt, sich Wahlforschung als Arbeitsfeld zu erschliessen, sei es an Universitäten, in Forschungs- oder Beratungsorganisationen.

Ein geeignetes Lehrbuch, das all diese Ziel verfolgt, gibt es nicht. Uebersichten über die Wahlforschung in den USA resp. in Europa geben aber die Sammelbände von Richard G. Niemi et al. “Controversies in Voting Behavior” (Washington 2011) resp. von Oskar Gabriel und Bettina Westle “Wählerverhalten in der Demokratie” (Baden-Baden 2012). Letzteres wird das hauptsächliche Lehrmittel für die Teilnehmenden sein.

Uebrigens, die Veranstaltung findet im Rahmen des Programm statt, das der Lehrstuhl für Schweizer Politik/Politische Oekonomie seit kurzem unter der Leitung von Silja Häusermann anbietet.

Claude Longchamp

Die gestiegene Volatilität als Kennzeichen des neuen Wahlverhalten in Liechtenstein

Erstmals in der Geschichte des Liechtensteiner Landtages ziehen Vertreter von vier Parteien ins Parlament ein. Zu den bisherigen Parteien, der FBP, der VU und der FL, gesellen sich „Die Unabhängigen“ (DU).

Eigentliche Wahlsiegerin ist gemäss vorläufig amtlichen Wahlergebnis die FBP mit genau 40 Prozent der Stimmen, die neu die stärkste Partei in Liechtenstein ist, gefolgt von der VU mit 33,5 Prozent. Die DU schafft auf Anhieb 15,3 Prozent, während die FL auf 11,1 Prozent kommt. Die Wahlbeteiligung liegt bei 79,8 Prozent.

Gegenüber der letzten Landtagswahl im Jahre 2009 bedeutet dies zunächst eine verringerte Teilnahme von rund 5 Prozentpunkte. Anteile verloren haben die beiden grossen Parteien, am meisten die VU (-14,1%), gefolgt von der FBP (-3,5%). Grosse Gewinne setzte es heute für die DU ab, die es bei den letzten Wahlen noch gar nicht gegeben hatte. Entstanden ist sie durch die Abspaltung von Harry Quaderer von der VU. Mit einem Plus von 2,2% leicht zulegen konnte die FL.

Wichtigstes Kennzeichen des Wahlverhaltens in Liechtenstein 2013 ist die gestiegene Volatilität. Sie hat schon in den letzten Jahren zugenommen, erreichte neun aber einen neuen Höhepunkt. Ausdruck der veränderten Position der beiden traditionellen Volksparteien ist, dass ihr Monopol auf Volksvertretung im Parlament nun definitiv gebrochen ist. War es bisher die FL, die namentlich in der bildungsstarken Mittelschicht Liechtensteins punkten konnte, kommt jetzt die DU hinzu, die bei jüngeren Wählerenden Stimmen gemacht haben dürfte. Damit haben die beiden Traditionsparteien, die leicht rechts des Zentrums politisieren, wohl links wie rechts im politischen Spektrum Konkurrenz bekommen.

Nicht bestätigt hat sich die medial verbreitete Annahme, die Abspaltung der DU von der VU werde das bekannte ProtestwählerInnen-Potenzial, das man am ehesten bei der FL ortete, spalten, sodass die beiden Kleinparteien an der Wahlhürde von 8 Prozent scheitern könnten. Vielmehr dürfte die Möglichkeit, im neuen Landtag nicht mehr beteiligt zu sein, die FL-Wählenden besonders zur Teilnahme motiviert haben, während die DU in erster Linie bei den (neuen) WechselwählerInnen gewählt wurde konnte. Die überdurchschnittlichen Verluste der VU beispielsweise in Eschen und Triesen, aber auch der FBP in Ruggell, Mauren und Gamprin, die mit überproportionalen Gewinnen der DU einher gehen, sind ein klares Zeichen für die aktuellen Tendenzen in der Wählerschaft der beiden grossen Volksparteien, die in der Unzufriedenheit mit der bisherigen Politik ihre Ursache haben dürften. Zwar konnte sich Liechtenstein mit seiner Weissgeldstrategie vom internationalen Druck befreien, innenpolitische nagen aber Defizite im Staatshaushalt und in den Pensionskassen an der Glaubwürdigkeit der etablierten Kräfte.

Im neuen Landtag stellt die FBP mit 10 Mandaten (-1) neu die stärkste Vertretung; hinter ihr liegt die VU mit 8 Abgeordneten (-5), gefolgt von der DU mit 4 (+4) und der FL mit 3 (+2). Noch ist die Regierungsbildung offen. Die besten Karten für die Regierungsbildung hat aber die FBP unter dem bisherigen Polizeichef Adrian Hasler, und am wahrscheinlichsten erscheint aber eine Neuauflage der grossen Koalition, diesmal allerdings mit umgekehrten Vorzeichen.

Wie auch immer, die erhöhte Bereitschaft, mit bisherigen Parteiloyalitäten zu brechen, beschränkt auch die nochmals verringerte Beteiligung zu den Herausforderungen, denen sich die Parteien stellen müssen. Denn diese haben zu einer bisher nicht gekannten Pluralisierung der Landtagsabgeordneten geführt. Rein rechnerisch sind die beiden grösseren Parteien nicht mehr sicher in der Mehrheit zu sein, wenn sie sich nicht einigen, denn beide können durch eine Allianz aller Konkurrenten überstimmt werden. In den letzten vier Jahren hatte die VU (bis zum Ausscheiden von Quaderer) die absolute Mehrheit auf sicher, während es für die FBP auch mit der FL nicht zur Mehrheit reichte.

Claude Longchamp

Was Ständeratswahlergebnisse bestimmt

In meiner heutigen Vorlesung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis werde ich zwei Stunden über Wege der Forschung bei Schweizer Ständeratswahlen sprechen. Majorzwahlen in Zweierwahlkreise sind wenig verbreitet. sodass die Schweiz durchaus als Feldexperiment für die Wahlforschung angesehen werden kann.


Personen- wie Kontextmerkmale bestimmen den Wahlerfolg bei Schweizer Ständeratswahlen. Hier die sechs relevantesten und signifikanten Faktoren, welche die jüngste Studie nachweisen konnte.

„Den Ständeratswahlen wurde seitens der Forschung bisher relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt.” So bilanziert das Handbuch Politisches System der Schweiz den Stand der Dinge.

Zurecht geben sich die Autoren verwundert, denn Ständeratswahlen böten eine ausgezeichnete Möglichkeit, etwas über das strategische Zusammenspiel der Parteien und Wähler zu lernen. Die 20 resp. 26 Wahlkreise bei Ständeratswahlen gäben zudem fast schon ideale Vergleichmöglichkeiten ab, um Einzelbeobachtungen zu verallgemeinern.

Nimmt man den jüngsten Berichts zur grossen Selects-Wahlstudie zur Hand, wir man allerdings erneut arg enttäuscht. Die halbamtliche Wahlforschung zur Schweiz befördert keine nennenswerten neue Befund zu Tage.

Ganz anders beurteile ich eine studentische Gruppenarbeit, im Herbstsemester 2011 ihm Rahmen des Berner Masterprogramms “Schweizerische und vergleichende Politik” erstellt. Carole Gauch, Simon Hugi, Raphael Jenny und Joel Weibel heissen die vier findigen Nachwuchsforscher, welche den Bericht “Der Weg in den Ständerat” verfasst haben.

Die Stärke der Arbeit liegt darin, alle (1. Wahlgänge) der Wahlen im Herbst 2011 in die kleine Kammer untersucht zu haben. Dokumentiert wurden Wahlergebnisse einerseits, Personen- und Kontextmerkmale anderseits. Gestest wurde ein neues Modell zur Erklärung der Stimmanteile, das anschliessend, soweit bewährt, als Prognose verwendet wurde.

Erstaunlichster Befund: In 140 von 145 Fällen kann man heute korrekt voraussagen, ob eine Bewerbung (in der ersten Runde) erfolgt hat oder nicht.

Das schrittweise erarbeitete Modell berücksichtigt sowohl Personen- wie Kontextmerkmale. Signifikant miteinbezogen werden müssen mindestens 6 Variablen:

. ob der/die AmtsinhaberIn wieder kandidiert
. ob die Partei der/des AmtinhaberIn wieder antritt
. wie intensiv die Medien über eine Kandidatur bericht
. die Stärke der Partei einer Kandidatur
. die Stärke der Allianz, die eine Kandidatur unterstützt und
. das Wahlrecht, insbesondere ob die Leerstimmen in die Berechnung des absoluten Mehrs miteinbezogen werden oder nicht.

Vielleicht kommen noch zwei weitere Bestimmungsgründe hinzu: ob man ein Ratspräsidium hatte oder Regierungserfahrung mitbringt. Die Fallzahl ist hier zu gering, um verallgemeinernde Aussagen zu machen; indes die Wirkung ist positiv. Eindeutig nicht der Fall ist dies, wenn man im Nationalrat sitzt; dafür hat es zwischenzeitlich viel zu viele Alibi-Ständeratskandidaturen, deren einziger Zweck ist, die Wiederwahl in die Volksvertretung zu sichern.

Selbstredend gibt es eine gesicherte siebte Variable: ob es sich um einen Zweier- oder Einerwahlkreis handelt.

Das neue Modell ist elaborierter als alle Faustregeln aus der Praxis, aber auch als die einzige wissenschaftlichen Annahme, nach den 1995er Wahlen von Hanspeter Kriesi formuliert.

Vorentscheidend ist (und bleibt), ob der/die Bisherige erneut kandidiert. Ist dies der Fall, bestehen gut Aussichten, dass er oder sie wieder gewählt wird. (Amtsdauer könnte sich zwischenzeitlich als negative Einflussgrösse erweisen.) Ist dies nicht der Fall, hat die Partei des bisherigen Amtsinhabers einen Vorteil. Der ist allerdings nicht mehr so ausschliesslich, wie man das bisher annahm. Vielmehr wirkt sich die Medienpräsenz der (neuen) KandidatInnen bereits halb so stark auf das Wahlergebnis aus. Modelliert wird das Ganze durch die kantonal verschienenen Definitionen der Berechnung der Mehrheit, denn das hat auch Auswirkungen, ob KandidatInnen aus mittelgrossen Partei(allianz)en ein Chance haben. Das Neue an der Analyse besteht eindeutig in der Bedeutung des Medieneinflusses. Bisher ging man davon aus, dass die Absprachen unter den Parteien alleine das Wahlergebnis determinieren. Nun konnte gezeigt werden, dass die wachsende Aufmerksamkeit der Regionalzeitungen, der Lokalradios, ja selbst des Fernsehens von Belang sind.

Noch fehlt es an einem Modell für zweite Wahlgänge. Doch sind diese in der Regel besser beurteilbar. Denn da spricht die Primärerfahrung dafür, dass die Grösse und Zusammensetzung des Kandidatenfeldes – und damit die Allianzbildungen von Belang sind.

Der studentischen Forschungsarbeit habe ich entnommen, dass Befragungen wenig geeignet sind, um Ständeratswahlen zu verstehen. Denn die WählerInnen-Präferenzen sind nicht der Input ins Wahlergebnis, sie sind modulieren bloss den Output des Wahlgeschehens. Ohne eine vergleichende Analyse der Voraussetzungen, die sich aus den Eigenheiten des Kantons und der KandidatInnen ergeben, wird man auf diesem Feld nicht weiter kommen.

Die fünf Fälle, welche den vier Studierenden noch entschwappen werden helfen, den eingeschlagenen Weg der Forschung zu verfeinern. 2 bis 3 der Abweichungen erscheinen mir unerheblich, denn sie bewegen sind in einem kleinen Rahmen, wenn auch gleich rund um die Schwelle des absoluten Mehrs; mit solchen Ungenauigkeiten wird man auch in Zukunft leben müssen. Indes, die Differenzen zwischen Prognose und Ergebnis sind bei den heutigen Ständeräten Karin Keller-Sutter in St. Gallen und Pascale Bruderer im Aargau erheblich; beide Bewerbungen wurden durch das Modell unterschätzt.

Es kann durchaus sein, dass hier qualitative Ansätze nötig sind, um Kandidaturen präziser bewerten zu können. Die Bundesratsbewerbung von Frau Sutter im St. Gallischen, aber auch der SwissAward für die beste PolitikerIn des Jahres für Frau Bruderer im aargauischen gaben den beiden neuen Stars der Schweizer Politik den Status einer nationalen Heroin, deren Bewerbungen einen eigenen Zusatzwert hatten.

Claude Longchamp

Die Schweizer Parlamentswahlen – in der Brille der Selects-Wahlstudie

Vor Wochenfrist erschien der Bericht zur Selects-Wahlbefragung, dem grössten Einzelprojekt der politologischen Forschung in der Schweiz. Für meine Vorlesung zu Wahlforschung in Theorie und Praxis an der Uni Zürich habe ich eine Durchsicht der ersten Ergebnisse 2011 vorgenommen, die meines Erachtens zwischen erhellend und verstellend ausfallen.

Am spannendsten in der Selects-Studie 2011 fand ich den Nachweis, dass es auch bei Schweizer Nationalratswahlen taktisches Wählen gibt. Verglichen wurde die effektive Parteiwahl mit den Wahlabsichten kurz vor der Entscheidung. Am klarsten war die Sache für die SVP-Wählerschaft; 87 Prozent blieben bei ihrer Vorentscheidung. Das Gegenstück bildeten die grünen Parteien: 42 Prozent der vormalig GLP-Interessierten wählten schliesslich FDP, BDP oder GPS. Auch bei eben dieser GPS lösten 36 Prozent ihre Wahlabsichten anders als anfänglich geplant ein: Relevanten Stimmentausch gab es hier gegenüber der SP und der GLP. Damit ist nicht das klassischen Wechselwählen gemeint, das heisst der Wechsel von der zurückliegenden zur aktuellen Wahl. Vielmehr geht es um kurzfristige Entscheidungen, die durch allerlei situtative Umstände verursacht sein können. Demnach schwankt ein beträchtlicher Teil der WählerInnen bis am Schluss, wer ihre Stimme bekommt – und wechselt rund eine Viertel auch.

Möglich wurde dieser Test durch zwei Arten von Befragungen, der Vorbefragungen in den 6 Wochen vor der Wahl, und einer Nachbefragung der gleichen WählerInnen, in den Tagen nach der Nationalratswahl. Ueberhaupt, das Methodendesign der Selects-Studie ist umfassender geworden, was weitere spannende Vergleiche verspricht. Denn die bisher dominierende Nachbefragung der InlandschweizerInnen wurde durch eine erstmalige Online-Erhebung bei AuslandschweizerInnen erweitert worden, und die Strukturanalyse der Wählerschaft ex post ist durch eine dynamische Betrachtung der Meinungsbildung von Tag zu Tag ergänzt worden. Und jene, die vorher interviewt wurden, befragte man im Nachhinein nochmals separat. Damit hat die Schweizer Wahlforschung methodisch an die Trends angeschlossen, die in den USA schon länger bekannt sind, neuerdings aber auch in Deutschland etabliert worden sind.

Trotz dieser Verbesserungen in der Datenlage hat das Selects-Projekt gerade im Konzeptionellen auch Schwächen. Zu ihnen gehört, dass die Operationalisierung der Wahlentscheidung fraglich bleibt. Denn die Studie unterstellt, als wählten alle SchweizerInnen Parteien. Effektiv geben sie jedoch ihre Stimmenen KandidatInnen von Parteien. Wählen sie Bewerbungen mehrer Parteien, verteilen sie ihre Stimmen auf die entsprechenden Parteien. Bisherige Schätzungen zeigen, dass rund die Hälfte reine ParteiwählerInnen sind, gut 40-45 Prozent auf der Parteiliste panaschieren, also Parteifremde berücksichtigen, und 5-10 Prozent mit einer Liste ohne Parteibezeichnung KandidatInnen wählen. Genaue Zahlen dazu hat man aber kaum, und vor allem kennt man die Struktur der drei Wählertypen nicht. Schliesslich bleibt es ein Geheimnis, wer – warum – unter den Parteien Nutzniesser und Geschädigter von dieser Eigenheit des Wahlrechts ist.

Weit im Voraus sind solche Differenzierung nicht auszumachen. Denn das Ausfüllen der Wahlzettel (und damit die Personenentscheidungen) geschieht im Wesentlichen in den 3 Wochen vor der Wahl. Indes, die neue Umfragetechnik unmittelbar vor der Entscheidung wurde nicht dazu eingesetzt, dem zentralen schwarzen Loch in der hiesigen Wahlforschung auf die Spur zu kommen. Nicht ausgeschlossen werden kann deshalb, dass ein Teil des beträchtlichen Taktierens, das der Bericht von Georg Lutz nachweist, auf eben solche Effekte zurückgeht: Man wählte effektiv mit der CVP-Liste, schrieb aber zahlreiche KandidatInnen von FDP, ja auch von SVP und SP auf die eigenhändig veränderte Liste.

Damit bin ich bei einem zweiten Mangel der vorgelegten Wahlanalyse. Die Personeneffekte beim Wählen werden in der Studie unterschäzt. Der Ansatz der Selects-Studie bewegt sich ganz auf der Linie der Theorien der rationalen Wahl, wonach Parteien aufgrund von individuellen Präferenzen hinsichtlich ihres Engagements und ihrer Kompetenz in Sachfragen gewählt werden. Das gibt denn auch Hinweise auf die Bedeutung von Migrations- resp. oder Umwelt- oder Energiefragen für einen Entscheid zugunsten der SVP oder einer grünen Partei. Entscheidungen für Parteien, die näher dem Zentrum sind, können in der Regel auf diese Art und Weise weniger gut erklärt werden. (Das gilt besonders für die aktuelle Erhebung, welche die Kompetenz der Parteien in Wirtschaftsfragen gar nicht ausweist). Denn in der Mitte sind Ideologien weniger wichtig, auch eignen sich die Streitthemen weniger für die Parteiprofilierung. Dafür spielen Traditionen eine grössere Rolle, ist der Stil wichtiger, und vor allem kommt es auf die Personenprofile an, die sich bewerben. Dabei geht es nicht einmal um die ganz grossen Alphatiere, die meist nur rechts für die Mobilisierung massgeblich sind; es interessiert mehr die KandidatInnenauswahl der Partei(en), die einen überzeugen soll, für eine Partei zu stimmen. Gerade hier, wo es um eine dem speziellen Wahlsystem der Schweiz angemessene Erklärungen gehen würde, stockt das Selects-Projekt seit längerem.

Dies wird immer problematischer, weil das Wahlgeschehen, wie überall in modernen Wahlkämpfen, auch in der Schweiz stark medialisiert worden ist. Von postmodernen Kampagnen sagt man, dass sie durch medienspezifische Zielgruppenansprache wirken. Das legt auch die KandidatInnen-Befragungen im Rahmen der Selects-Studie nahe, nicht zuletzt durch die eindrücklichen Auflistung, das nur rund 20 Prozent der Wahlkampf-Ausgaben unserer gewählter ParlamentarierInnen von ihren Parteien stammen, während je zirka 40 Prozent aus dem eigenen Sack resp. aus Spenden Dritter kommen – und das gesamte Geld vor allem für persönliche Give-Aways, Plakate und Inserate eingesetzt wird. Eine Uebersetzung dieses löblich dokumentierten Kommunikations-Trends in die Befragungen, welche die Partei- und Personenwahl bei schweizerischen Nationalratswahlen analysieren, blieb indessen 2012 weitgehend aus.

So kann man schliessen: Mit der Selects-Studie 2011 erfahren wir einiges über den Zusammenhang von Themen und Parteienwahl, auch etwas über Kampagnen, Parteientscheidungen und Mobilisierung. Jedoch, die Personalisierung und Medialisierung in und von Wahlkämpfen bleiben in ihren Wirkungen weitgehend unerklärt.

Claude Longchamp

Zur Transformation der Parteiidentifikationen in der Schweiz.

Die siebte Vorlesung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis an der Uni Zürich beschäftige sich mit der Transformation der Parteiidentifikation in der Schweiz. Hier einige thesenartige Aussagen von der gestrigen Veranstaltung.

Die Wahlnachbefragung 2007 zeigte, dass zwei Drittel der heutigen CVP-Wählenden Väter haben, die Gleiches tun. Bei der FDP beträgt derAnteil die Hälfte, bei SP, und SVP noch einen Drittel, und bei den Grünen ist das gerade bei jedem 20. der Fall.

Die klassischen Theorien der politischen Sozialisation in der Familie zur Entstehung von Parteiidentifikation bilden damit in der Schweiz eher den Spezial-, weniger den Normalfall ab. Zudem, Parteien, bei denen in der überwiegenden Zahl der Fälle gilt, dass die Familie die Zelle der Parteibindungen ist, gehören meist zu den Verlierer-Parteien. Denn sie stützen sich auf die immer gleichen Gesellschaftsgruppen, bei denen sie einen abnehmenden Erfolg haben.


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Parteien, denen die Erneuerung am besten gelingt, haben heute Wählende, die nicht mehr das Gleiche wählen wie ihre Eltern. Vielmehr haben sie gelernt, neue Gesellschaftsgruppen, anzusprechen, die eine Generation zuvor noch kaum Entsprechendes gemacht hätte. Zudem gelingt es ihnen Individuen als Wählende anzusprechen, die sich, abgekoppelt von ihrem sozialen Hintergrund für sie entscheiden. Weltweit analyisiert man das unter dem Aspekt von Dealigment, der Erosion von Parteibindungên, was in der Schweiz aber wenig Sinn macht.

Thomas Milic, der Zürcher Parteienforscher, hat in seiner Dissertation eine der interessantesten Ansätze vorgeschlagen, um solche Phänomen zu untersuchen. Er unterscheidet zwischen unparteilichen, parteilichen und überparteilichen BürgerInnen. Erstere kommen vor allem in den Unterschichten vor, bei Jüngerem, insgesamt bei Unpolitischen, die sich in der Parteienlandschaft nicht wirklich orientieren können, vielleicht hie und da abstimmen gehen, an Wahlen aber kaum teilnehmen. Die Stammwählerschaft der Parteien rekrutiert sich im Wesentlichen aus den parteilichen BürgerInnen. Sie haben eine gefestigte Parteiidentifikation, wie auch immer die entstanden ist. Im Normalfall wählen sie so und stimmen sie auch entsprechend der Parteiparole ab. Die Ueberparteilichen sind das eigentlich neue Phänomen: Anders als die Unparteilichen sind sie absolut befähigt, sich politisch zu orientieren. Sie verarbeiten am meisten Informationen, definieren sich aber nicht mehr eindeutig über Parteien, vor allem über Werthaltungen. Sie sind Feministinnen, Wertkonservative oder Wirtschaftsliberale. Ihre Parteienwahl ist noch gerichtet, aber kaum mehr eindeutig an einer Partei festzumachen, die man auf dauer unterstützen würde. Vielleicht haben sie noch eine Parteibindung, zum Beispiel die aus früheren Zeiten, aber sie entscheiden sich bei Abstimmungen immer häufiger selbständig, und sie wählen mit Vorliebe Personen aus verschiedenen Parteien.

Leider weiss die Wahlstatistik darüber nicht allzu viel, und die empirische Wahlforschung hat erst wenig hierzu zu Tage gefördert. Immerhin, man hat Anhaltspunkte: So wählen, je nach Wahl, 5-10 Prozent der Teilnehmenden mit der leeren Liste, ohne übergeordnete Parteibezeichnung, KandidatInnen, meist querbeet aus den Wahllisten aus. Rund 50 Prozent der Wählenden nutzen die Möglichkeiten des hiesigen Wahlrechts aus und panaschieren. Man könnte es auch so sagen: Sie kennen eine Parteibindung, aber keine exklusive Orientierung mehr. Dabei zeigt, sich, dass diese Phänomene bei CVP und FDP am häufigsten vorkommt, ausgerechnet bei den Parteien also, bei denen die familiale Sozialisation noch am verbreitetsten ist. Mit anderen Worten: Die Parteientscheidung ist ein Ritual, das bei der Personenentscheidung stark ausgehöhlt wird.

Die stärkste exklusive Neueinbindung hat heute die SVP, das wichtigste Gegenprojekt zu den bestehenden Parteien. Ich schätze, dass sie knapp 20 Prozent Wähleranteil bei BürgerInnen macht, die nur sie Partei wählen; hinzu kommen 5-10 Prozent Stimmen, die sie via KandidatInnen auf Listen mit Bewerbungen mehrerer Parteien macht. Bei der CVP liegen die Vergleichswerte bei rund 5 Prozent Exklusiver Parteiwählerschaft, und 5-10 Prozent weitere Stimmen kommen von Panaschierlisten.

Auf der linken Seite ist nur beschränkt eine neue Ausschliesslichkeit in den Parteibindungen entstanden. Etabliert hat sich eine neue Art der Ueberparteilichkeit. Die reicht zwar nicht bis rechts. Man fühlt sich schon noch als Wählerin, als Wähler, die, der rotgrün wählt, mal mehr rot, mal mehr grün, aber auch offen für KandidatInnen anderer Parteien, seien es solche der GLP, der FDP, der CVP, aber auch der EVP, ja selbst der BDP.

In den Termini der Wahlforschung könnte man sagen: Einzig der SVP ist es in den letzten 20 Jahren gelungen, einen neue affektive Parteibindung aufzubauen, die ihren Kern nicht in der Herkunftsfamilie hat. Vielmehr nährt sie sich aus dem täglichen Frust mit der Politik und dem System. Die Neuerung reicht aber nicht aus, um dauerhaft sehr hohe Wähleranteile garantiert zu haben. Speziell mit der Abspaltung der BDP ist eine, via Personenbildungen, relevante Alternative entstanden. Auf linker Seite gibt es eher Strömungen in der Wählerschaft, die mehr sozialistisch, liberal oder konservativ sind, über die sich die Parteien und ExponentInnen links der Mitte mehr oder minder konstant profilieren, um von den Wählenden in einem Mix aus kognitiv-emotionalen Entscheidungen honoriert zu werden. Von alle dem merkt man jedoch noch fast nicht, wenn man sich mit der Wählerschaft der FDP oder CVP beschäftigt.

Claude Longchamp

Der Schweiz mangelt es an einer ausgebauten politischen Partizipationskultur

“Politische Kultur und Wahlbeteiligung” war das Thema meiner jüngsten Vorlesung zur Wahlforschung an der Universität Zürich. Ein Plädoyer für mehr Partizipationskultur, gerade zugunsten kommender Generationen.


Quelle: Gabriel/Plasser (Hg.): Deutschland, Oesterreich und die Schweiz im neuen Europa. Bürger und Politik. Studien zur Wahl- und Einstellungsforschung, Baden-Baden 2010, eigene Darstellung

“Musterhafte Einstellung, wie Politik und Staat geführt werden sollen”, ist eine der gängigen Definitionen von politischer Kultur. Relevant ist, was dem politischen Handeln vorausgeht, ohne dass dieses selbst zur politischen Kultur gehört.

Es zählt zu den Eigenheiten des Kulturellen, dass man nur im Vergleich über die eigene Kultur differenziert genug sprechen kann. Denn ohne das tappt man gerne in der Falle der Selbstbilder, ohne die Fremdbilder zu gehen, hält man das Selbstverständliche für unumgänglich, ohne es als Möglichkeit zu durchschauen.

So sind wir in der Schweiz gewohnt, uns als Musterdemokratie zu sehen, was nicht ganz falsch, aber auch nicht einfach richtig ist. Denn die politische Kultur der Schweiz ist, gerade im internationalen Vergleich, stark auf Fragen der Demokratie in Verfassungs- und Gesetzesrevisionen ausgerichtet, die den Staat betreffen, was uns geläufig ist. Dagegen übersehen wir gerne, dass es Bereiche wie die Demokratie in der Wirtschaft gibt, die bei uns fast ganz ausgeblendet werden.

Ein Projekt zur politischen Kultur Deutschlands, Oesterreichs und der Schweiz im Vergleich, an dem ich vor wenigen Jahren mitgewirkt habe, stellt der Schweiz eine durchaus etablierte und gereifte demokratische politische Kultur aus. Sie ist, im oben definierten Sinne entwickelter und, besser ausgebaut als in vielen Nachbarstaaten.

Indes, sie ist mit einem deftigen Mangel behaftet. Denn die politische Involvierung in die Breite bleibt in der Schweiz zurück: Das gilt nicht nur für das Stimmrecht von AusländerIn, beispielsweise auf lokaler Ebene. Die Einschätzung trifft auch nicht einfach, wegen dem Frauen-Stimm- und Wahlrecht, Nein, zur dieser Einschätzung kommt man insbesondere, wenn man sich die Wahlbeteiligungswerte nach Alter ansieht.

Wenn die allgemeine Wahlbeteiligung mit knapp 50 Prozent international tief ist, gilt das ganz besonders für die Teilnahme an nationalen Wahlen in den jüngeren Gesellschaftsgruppen. Werte von drei Viertel Abwesenden sind keine Seltenheit. Typisch dafür, bis jetzt fehlt es an einer gesamtschweizerischen Statistik, die uns sagen würde, wie tief der Wert bei den Parlamentswahlen 2011 gewesen ist.

Was der Schweiz fehlt, ist eine Kultur der politischen Involvierung junger Menschen in die Politik. Klar, es gibt Jugendparteien, die etwas mehr Zulauf haben als auch schon. Sicher, in den Medien findet man Jugendkulte, sei es im Sport, der Unterhaltung oder der Mode. Doch bleibt das alles ohne grosse Wirkung auf die Politik. Selbst der Staatskunde-Unterricht, vielerorts versorgt in Gesellschaftsfächern, befördert die politische Partizipation Jugendlicher kaum.

Vor einem Viertel Jahrhundert galt es, ähnliche Defizite bei der politischen Aktivierung der Frauen in der Schweiz zu machen. Da ist seither einiges in Gang gekommen. Der Wertwandel hat die Aufteilung in Männeröffentlichkeit und Frauenprivatraum fraglich erscheinen lassen. Der Frauenstreik von 1991 hat Ansprüche der Frauen auf gelebte Gleichstellung erhoben. Zahlreiche Programme in Städte und Kantonen, die Zahl politisierender Frauen zu erhöhen, haben einiges in Veränderung gebracht. Diesbezüglich ranigert die Schweiz heute im oberen Mittelfeld moderner Demokratien.

Genau eine solche Kultur fehlt uns aber, wenn es um den politischen Nachwuchs insgesamt geht. Es scheint, als verteidigten die Inhaber der politischen Pfründe diese so heftig, dass sie selbst die Probleme, die dabei entstehen, übersehen.

Dem sollte etwas gegenüber gestellt werden: Als Erstes müssten wir uns bewusster werden, dass die Schweizer Demorkatie hier gefodert ist, und dass es ohne regelmässige Programme in diesem Bereich keine Besserung gibt. Als Zweites bräucht es auch ein klares Signal der jungen Menschen, dass sie in die Politik wollen. Und drittens wäre eine breite Debatte angezeigt, wie etablierte und neuen Vorstellungen politischer Partizipation in Uebereinstimmung gebracht werden können.

Natürlich, man kann auch einfach warten, bis sich die politischen Beteiligung als Gewohnheit einstellt. Erfahrungsgemäss nimmt das ab dem 30. Altersjahr in der Schweiz zu, und erreicht es mit 70 den Höhepunkt. Doch nur darauf zu zählen heisst, Rekrutierungsprobleme in lokalen Behörden, in Parteivorständen und Vereinsgremien, wie sie heute verbreitet vorkommen, als gegeben in die Zukunft zu verlängern. Gerade angesichts der ausgebauten Mitsprachemöglichkeiten darf man solche Defizite nicht einfach übersehen und hinnehmen.

Das kann meines Erachtens nicht die Absicht einer zukunftsträchtigen Demokratie sein, maximal ein Missverständnis, dessen man sich kulturell zu wenig bewusst ist und es deshalb auch nicht aktiv beseitigt.

Claude Longchamp

Politiker als Eisverkäufer …

Am Dienstag staunte ich nicht schlecht, denn der Blick am Abend behandelte das Medianwählermodell ebenso ausführlich, wie ich es für meine Wochenvorlesung an der Uni Zürich vorgenommen hatte. Anders als ich glauben die Blick-Leute jedoch, damit das taktische Verhalten von Parteien verstehen zu können, während ich die Theorie nur für die strategische Analyse gelten lasse.

Der Ausgangspunkt ist einfach: Ein Strand von beispielsweise 10 m Breite und 100 m Länge sei im Osten und Westen durch Felsen begrenzt, im Norden durch das Meer und im Süden durch eine Uferpromenade. An diesem Strand gibt es genau zwei Eisverkäufer mit je einem mobilen Eisverkaufsstand, der aber nur längs der Uferpromenade bewegt werden kann, nicht im Sand. Der Strand ist gleichmäßig mit Badegästen gefüllt. Beide Eisverkäufer bieten das gleiche Eis zum gleichen Preis an. Gesucht ist die optimale Position beider Eisverkäufer.

Sprechen sich die beiden Eisverkäufer ab, teilen sie den Strand in zwei gleich grosse Rayons auf. Beide bekommen einen Bezirk exklusiv, wenn sie auf die andern verzichten. Ihr idealer Standort ist jeweils in der Mitte ihres Sektors. Stehen sie jedoch in Konkurrenz zueinander, werden sie sich in die Mitte des gesamten Strandes bewegen, und zwar wechselseitig, weil sie da die grösste Chance haben, alle Besucher anzusprechen. Indes, sie müssen sich bei identischem Eis mit tieferen Preise bekämpfen oder aber die neue Glaces anbieten, auf die möglichst viele Strandbesucher stehen.
Auf die Politik übertragen heisst das: Zwei Parteien sprechen sich entweder untereinander ab, wer welche Wahlkreise bekommt, oder sie wetteifern untereinander in allen Wahlkreisen, wobei, in einem Zweiparteiensystem die Partei gewinnt, welche die Präferenzen der WählerInnen in der Mitte, die Medianwähler eben, besser abbildet.

Das so skizzierte Modell ist ebenso häufig kritisiert wie zitiert worden. Weil Parteien nicht einfach Eisverkäufer sind, die x-beliebig dem Volk folgen. Vielmehr sind sie gewachsene Gebilde, die Teile der Bürger in regionaler, werte- oder interessenmässiger Hinsicht vertreten. Ihren einmal eigenommen Standort können sie nicht einfach ändern, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Anders als am Strand, wo die Leute für einige ausserordentliche Tage hingehen, sie die WählerInnen mehr oder minder permanent da.

Dennoch, die Annahme, dass die Zahl, die Position und das Verhalten der Parteien einen Einfluss hat auf ihre Wahlchancen hat, ist auch politikwissenschaftlich berechtigt.

Bis 1991 funktionierten Schweizer Wahlen weitgehend nach dem Konkordanzmuster, samt Gebietsabsprachen. Dann positionierte sich die SVP neu, als Partei gegen die EU, und liess ihre früheren Hemmungen fallen, zum Beispiel in Gebieten anzugreifen, die der CVP gehörten. Die Folge kennen wir: Die SVP stieg von der 4. Zur Wählerstärksten Partei der Schweiz. Auch die Grünen legten seit den 80er Jahren schrittweise zu, weil sie sich den ökologischen Themen annahmen und so vor allem einen Teil der linken Wählerschaft für sich gewinnen konnten. Aufgelöst wurde so der Zwang der Parteien, sich gegen die Mitte zu bewegen und die Konkurrenz als Partner zu akzeptieren. Zuerst gab es im linken, dann im rechten Lager politischen Wettbewerb. Die Chancen neuer oder neupositionierter Parteien erhöhen sich, gerade in der Schweiz, wenn es ihnen gelingt bisherige Nicht-WählerInnen zu mobilisieren. Die findet man vor allem an den Polen der neuen Konfliktlinie am ehesten: also klar gegen Autos, klar gegen EU. Ihr Erfolg nimmt zu, wenn sie auf diesem Weg auch unzufriedene WählerInnen der bisherigen Parteien für sich gewinnen können.

Einiges spricht dafür, dass sich die Parteienlandschaft der Schweiz seit den 90er Jahren so entwickelt hat. Neuerdings scheinen die Potenziale, welche die Veränderungen bewirkt haben, jedoch ausgereizt. Denn es verlieren heute nicht nur die traditionellen Mitte-Parteien, auch die Polparteien wachsen elektoral nicht mehr. Vielmehr kennen Schweizer Wahlen mit der BDP und GLP zwei neue Angebote. Entstanden sind beide Parteien als Abspaltungen von Polparteien, die sich zu einseitig positioniert haben: die GLP weil die GPS mit ihrem Etatismus nicht mehr alle ökologischen WählerInnen abdeckte, und die BDP, weil die SVP mit ihrer Oppositionsneigung nach der Abwahl Blochers aus dem Bundesrat gemässigte Konservative mit Vertrauen in den Staat bei sich halten konnte. Auch hier gilt: Es sind die nur die Abgespaltenen, die zählen, es werden auch die Neu- und WechselwählerInnen von Belang.

Meines Erachtens ist die Medianwählertheorie gut und schlecht zugleich. Schlecht ist sie, wenn sie, wie vom Blick zitiert, zur Analyse von taktischen Positionsbezügen verwendet wird. Denn wer sich als bestandene Partei positioniert, setzt sich dem Vorwurf aus, opportunistisch zu sein. Gut ist sie hingegen, wenn sie für die strategische (Um)Positionierung von Parteien eingesetzt wird. Das heisst auch, dass es nicht um den Tageserfolg der Eisverkäufer geht, sondern um die mittel- und langfristige Profilierung von Parteien geht. Dabei darf sie sich zwangsläufig nicht auf das Publikum stützen, dass an einem Wochenende die Strände bevölkert, sondern muss sich an den Generationen ausrichtigen, die in 10 bis 20 Jahren die Politik ausmachen werden. Zudem, und da endet die Analogie zum Konsumismus ganz: Es geht in der Politik auch um adäquate Antworten einer Gesellschaft auf neue Herausforderungen, die durch den Parteienwettbewerb entwickelt und durch die WählerInnen-Entscheidungen bewertet werden.

Oder noch klarer: Die einfachen und kurzfristigen Interessen der Strandbesucher und Eisverkäufer erklären und die Politik nicht; es kommt darauf an, sie in einem gegebenen Politsystem, angesichts vorherrschender Demokratiemuster und unter Einbezug des Beteiligungsverhalten und der Generationenfolge zu bestimmen. Denn erst dann wird das Verhalten neuer Parteien oder eines veränderter Auftritt bis Parteien von Belang. Und nur dann machen Wahlanalysen mit Theorie wie der hier beschrieben Sinn, um zu verstehen, was bei einer Wahl geht.

Claude Longchamp

Was die Parteienforschung für die Wahlanalyse zu bieten hätte.

Meine dritte Vorlesung zur Wahlforschung an der Universität Zürich beschäftigte sich mit der Parteienanalyse. Zur Sprache kamen drei sozialwissenschaftliche Ansätze mit unterschiedlicher Sichtweise. Damit schloss ich den Einstieg ins Thema ab.

parteien
Stufen in der Entwicklung des Parteiensystems der Schweiz (1848-2011)

Konfliktlinien
Der eigentliche Klassiker der (makro)soziologischen Analyse von Parteiensystem stammt aus dem Jahre 1968, verfasst von Seymour Lispet und Stein Rokkan. Die Polity eines Landes, sprich das Parteiensystem, aber auch das Wahlrecht und die politische Kultur, sahen sie, in Europa, bestimmt durch zurückliegende Konflikt ökonomischer und kultureller Natur, entstanden während der Reformation, der französischen, bürgerlichen und russischen Revolution. Daniele Caramani hat das für das zwanzigste Jahrhundert nachgezeichnet, und er fügte die Parteiwandlungen angesichts der Totalitarismen, den postmateriellen Wertewandel und den Konflikt zwischen offener und geschlossener Gesellschaft der Gegenwart bei.
Auf die Schweiz angewandt heisst das, der Konfessionalismus durch die Glaubensspaltung prägte lange die politischen Kulturen als geschlossene Räume, die Industrialisierung polarisierte zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern und der Postmaterialismus hat neuen Lebensweisen Platz gemacht. Namentlich mit der Oeffnung der Schweiz unter den Bedingungen der Globalisierung entstand der Gegensatz zwischen modernen, aussenorientierten und traditionellen binnenorientierten Werten. Letzteres hat den Aufstieg der SVP bewirkt, der Postmaterialismus die Grüne Partei entstehen lassen. Die herkömmlichen Polarisierung zwischen Links und Rechts hat die SP der FDP gegenübergestellt, während der Gegensatz zwischen FDP und CVP weitgehend durch die Konfession bestimmt wurde.

Organisationstypen

Anders setzten die Parteienforscher Richard Katz und Peter Mair an. Sie analysierten die verschiedenen Organisationstypen der Parteien. Frühe Demokratie kannten vor allem Eliteparteien, auf in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Massen(integrations)Parteien folgten. Nach dem zweiten Weltkrieg machten sich die Volksparteien breit, deren Sammlungskraft indessen nachgelassen hat, weshalb neuen Parteitypen entstehen. Katz und Mair sprachen von Kartellparteien, die sich mit dem Staat verschmelzen, während Analytiker wie Klaus von Beyme das Hauptmerkmal auf professionalisierte Wähleransprache legte.
Mit ihren Strukturen waren CVP und FDP lange die typischen Volksparteien der Schweiz, neigen zum Typ Kartellparteien. Das trifft beschränkt auch auf die SP zu; mindestens in den 90er Jahren zeigt sich auch Ansätze einer professionalisierten Wählerpartei. Dieser Typ wird in der Schweiz am klarsten durch die neue SVP repräsentiert. Kleinere Parteien wie die GPS, die BDP und die GLP lassen sich mit dieser Typologie nicht wirklich beschreiben.
Vielleicht braucht es auch einen fünften Typ, um neue Parteien, wie sie in ganz Europa neuerdings entstehen, zu beschreiben. Die niederländischen Partei der Freiheit jedenfalls passt in keine dieser Schubladen; am ehesten sie sie aber eine (rechts)populistische Protestpartei, die anders als professionalisierte Wählerparteien von der Mobilisierung aus dem Moment heraus auf spektakuläre Wahlerfolge setzten, um Druck auf etablierte Parteien auszuüben.

Systematik der Ursachen für Wahlveränderungen
Last but not least, hat die Wahlforschung im Gefolge von Vladimir O. Key eine interesssante Systematik entwickelt, um Veränderungen im Parteiensystems, wie sie bei Wahlen zum Ausdruck zu kommen, typologisch zu erfassen. Unterschieden wird zwischen einer kritischen Wahl, bei der bisherige Wahlentscheidungen namhaft geändert werden, sei es wegen Personen oder Themen, säkularen Dekompositionen aufgrund veränderter Bedingungen des politischen Sozialisation, systemischen Aenderungen, namentlich durch Veränderungen im Wahlrecht, und parlamentarischen Veränderungen, die sich aus der Regierungsbildung ergeben.
Auch das kann man anhand der Schweiz exemplifizieren. Die grossen systemischen Veränderungen waren die Einführung des Proporzwahlrechts einerseits, des Frauenwahlrechts anderseits. Sie bleiben nicht ohne Folge für das Parteiengefüge. Säkularen Veränderungen unterworfen sind namentlich die FDP und CVP, deren Wählerschwund langanhaltend ist; ähnlich kann man auch die Mutation der Linken interpretieren, bei sich sozialdemokratische und grünen Parteien auseinander entwickelt haben. Die BDP wiederum ist die Folge der Bundesratswahlen von 2007; ihr Wahlerfolg von 2011, vor allem aber auch der der GLP kann als kritische Wahl angesehen werden. Das gilt selbstredend auch für die SVP-Erfolge zwischen 1995 und 2007.

Vorläufiges Fazit
Meine (selbstkritische) Meinung dazu ist: Die Wahlforschung in der Schweiz ist zu sehr auf einzelne Phänomene und ihre momentanten Auswirkungen auf Parteistärken ausgerichtet. Sie vernachlässigt den Wert solche übergeordneter Analysekategorien in der Wahl- und Parteienanalyse zu sehr. Das gilt indessen nicht nur für Forscher, es trifft auch auf Parteifunktionäre zu. Ihre Wahlanalysen in eigener Sache abstrahieren weitgehend vom (perspektivischen) Angeboten der sozialwissenschaftlichen Forschung.

Claude Longchamp