Vom Vertrauen und Misstrauen in Institutionen und Stimmabsichten für den 14. Juni 2015

Die Ergebnisse der ersten SRG-Befragung sind seit kurzem bekannt. Hier interessieren nicht die konkreten Zahlen, sondern ihre Begründungen, wie sie aus einer Umfrage abgeleitet werden können. Diesmal ist der Faktor “Vertrauen/Misstrauen in Institutionen” von besonderer Bedeutung.

Unsere Erhebung legt nahe, dass 58 Prozent der Stimmberechtigten dem Bundesrat vertrauen, 30 Prozent nicht. Die Misstrauischen sind aber deutlich besser motiviert, an der kommenden Volksabstimmung teilzunehmen. Aktuell würden sich 52 Prozent von ihnen beteiligen, derweil das nur bei 38 Prozent der Vertrauenden der Fall wäre. Das führt dazu, dass sich die Verhältnisse unter den Teilnahmewilligen angleichen. Klar unterschiedlich sind die Stimmabsichten beider Gruppen: Die misstrauischen Bürger und Bürgerinnen würden die Erbschaftssteuerinitiative heute klar ablehnen, aber auch eindeutig Nein zum Radio- und Fernsehgesetz respektive zur Präimplantationsdiagnostik sagen. Gespalten wären sie bei der “Stipendieninitiative”. Ziemlich anders sind die Positionen der Personen mit Institutionenvertrauen. Beim Radio- und Fernsehgesetz wären sie mehrheitlich dafür, ebenso bei der Stipendieninitiative. Relative Mehrheiten im Ja ergäben sich auch bei den beiden anderen Vorlagen, bei der Erbschaftssteuer allerdings nur knapp.

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Analysiert man den Einflussfaktor “Vertrauen/Misstrauen” auf die Stimmabsichten, bleibt er bei der “Stipendieninitiative” gering. Erheblich ist er aber bei den drei anderen Vorlagen. Am deutlichsten wird er bei der Beurteilung des neuen RTVG. Hier fällt vor allem auf, dass diese Grösse die Stimmabsichten miterklärt, selbst wenn man die getesteten Argumente mitberücksichtig. Mit anderen Worten: Unabhängig davon, wie man die Botschaften der Ja- und Nein-Seite bewertet, es bleibt, dass das Vertrauen resp. Misstrauen in die Arbeit des Bundesrates die Vorentscheidungen beeinflusst.

Zwei Szenarien drängen sich auf: Das erste geht davon aus, dass sich die Beteiligungswerte der zwei Gruppen, die hier interessierten, angleichen. Das würde die Annahmechancen der beiden Behördenvorlagen erhöhen. Das zweite nimmt an, dass es zu einer weiteren spezifischen Mobilisierung der misstrauischen BürgerInnen kommt. Die Buchpreisbindung und die Autobahnvignette, die beide ein ähnliches Konfliktmuster zeigten, sind hier die Referenzen. Oder anders ausgedrückt: Die Chance, dass alle vier Vorlagen scheitern, steigt in diesem Fall.
Für das erste Szenario spricht, dass der Abstimmungskampf bisher von der Erbschaftssteuervorlage dominiert war, und bei den beiden Behördenvorlagen die Gegnerschaft aktiv wurde. Das hat die Mobilisierung von rechts, aus Kreisen der TraditionalistInnen und Anti-EtatistInnen befördert. Hierzu könnte es in der zweiten Kampagnenphase ein Gegengewicht beim Kern der normalen Bürgerschaft, die abstimmen geht. Zugunsten des zweiten Szenarios kann vorgebracht werden, dass die mediale Stimmungslage auf bewusste Skandalisierung von Sachverhalten, verbunden mit der Personalisierung von Verantwortlichkeiten und Emotionalisierung des politischen Klima ausgerichtet ist. Das mobilisiert in der Regel die politischen Skeptiker, vor allem in der Schussphase eines Abstimmungskampfes, denn sie wollen ihr Protestvotum gezielt abgeben. Eine verbindliche Einschätzung gerade der beiden Behördenvorlagen halten wir deshalb für verfrüht. Vielmehr interessiert in den kommenden fünf Wochen, wie sich die Kampagnen entwickeln, wie die sozialen Medien darauf reagieren und wie das Ganze die massenmediale Berichterstattung beeinflusst.

Claude Longchamp

Kurzanalyse der Meinungsbildung zur Volksinitiative für eine öffentliche Krankenkasse

40 Prozent bestimmt oder eher dafür, 51 Prozent bestimmt oder eher dagegen. Das ist das Hauptergebnis der ersten SRG-Trend-Befragung zur Volksinitiative “Für eine öffentliche Krankenkasse”. Meine Kurzanalyse.

Was konnte man schon vor der aktuellen Umfrage zur Meinungsbildung wissen?

Wir waren uns nicht im Klaren, ob wir die Volksinitiative für eine öffentliche Krankenkasse als “potenzielle Mehrheitsinitiative” oder als “Minderheitsinitiative” klassieren sollte. Erster Grund war, dass von einer grundlegenden Veränderung im Kassenwesen eigentliche alle betroffen sind. Ebenso wichtig war der zweite Grund: Wird die Idee an sich positiv oder negativ gelesen?
In aller Regel stellen wir bei solchen Fragestellungen auf Vergleichsabstimmung ab. Die gaben eine klare Antwort: 2003 und 2007 haben wir über verwandte Volksinitiativen entschieden, und in beiden Fällen war das Abstimmungsergebnis eindeutig negativ. Im aktuellen Fall gibt es allerdings einen Unterschied. Anders als früher geht es nicht mehr um eine nationale Krankenkasse, sondern um kantonal vereinheitlichte. Das reduziert die Zentralisierung des stark föderalistischen Kassensystems.
Frühe Umfragen zur aktuellen Entscheidung, im Rahmen des Gesundheitsmonitors geführt, zeigten eine befürwortende Mehrheit. 65 Prozent waren im Frühsommer 2013 eher für einen Systemwechsel im vorgeschlagenen Sinne. Innert Jahresfrist verringerte sich der Vergleichswert allerdings auf 49 Prozent. Man kann das so sagen: Die Neuauflage der Einführung einer Einheitskasse mit der aktuellen Volksinitiative war eine potenziell mehrheitsfähiges Projekt. Diese Einschätzung beeinflusste auch die Stellungnahme selbst des Bundesrates, welcher der Initiative einen Gegenvorschlag gegenüberstellen wollte. Diesem Vorhaben widersprachen namentlich die Ständeräte. Sie plädierten für einen Verzicht auf einen Gegenvorschlag und einen bereinigten Tisch vor den Wahlen 2015. Damit hatten sie Erfolg, und sie haben so auch die Stimmungslage zur Vorlage beeinflusst. Denn das Anliegen ist eine Initiative aus der Sicht der Stimmberechtigten heute eine Minderheitsforderung.
Drei Sachen während der behördlichen Willensbildung resp. während der Vorkampagne waren entscheidend:
. Erstens, die klare Frontstellung im Bundesparlament zwischen rechten und linken Volks- und KantonsvertreterInnen hat das bürgerliche Lager geeinigt. Abweichende Stimmen sind seltener geworden, vor allem in der deutschsprachigen Schweiz.
. Zweitens, die klare Polarisierung im Parlament hat die Bedeutung der Entscheidung aus Parteiensicht erhöht. Das hat namentlich die Mobilisierungsbereitschaft auf der rechten Seite verstärkt.
. Drittens, die Kostenfrage wurde auf diesem Weg zur zentralen Arena gemacht, in der sich die Kontrahenten streiten.

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Links das wahrscheinlichere Szenario, rechts das unwahrscheinlichere, aber nicht ganz unmögliche bei der Meinungsbildung zur Volksinitiative “Für eine öffentliche Krankenkasse”
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Was nun wissen wir aufgrund der ersten von zwei SRG-Befragungswellen vor den Volksabstimmungen vom 28. September?
Zunächst zeigt Auswertung der gut 1200 repräsentativ ausgewählten Befragten, dass die Ablehnungsbereitschaft rund 6 Wochen vor dem Abstimmungstag jene der Zustimmung überwiegt. Die aktuellen Zahlen lauten 51 Prozent bestimmt oder eher dagegen, 40 Prozent bestimmt oder eher dafür. Im Vergleich zur letzten Volksabstimmung, der Entscheidung über die Einheitskasse, ist das eine Verbesserung beider Seiten in der Ausgangslage. Der Nein-Anteil ist fünf Prozentpunkte höher als zum gleichen Zeitpunkt vor der Abstimmung 2007, und der Ja-Prozentsatz übertrifft den damaligen um vier Prozentpunkte. Man kann das so lesen: In prinzipieller Hinsicht polarisiert die Neuauflage des SP-Anliegens nicht weniger, eher mehr. Die frühe Meinungsbildung im Abstimmungskampf ist weiter fortgeschritten als beim letzten Mal.
Sodann belegt unsere Auswertung, dass die sprachregionalen Unterschiede weitgehend geblieben sind. In der französisch- und italienischsprachigen Schweiz sind 55 resp. 53 Prozent der Teilnahmewilligen bestimmt oder eher dafür. Im deutschsprachigen Landesteil sind es jedoch nur 35 Prozent. Das dürfte, wie in früheren Fällen, die weitere Behandlung des Themas beeinflussen: Die Gegnerschaft kann ihre Positionen diesseits der Saane und des Gotthards offensiver platzieren, während die Ja-Seite gerade hier aus der Defensive wirken muss.
Schliesslich verweist die Befragung auf eine erhebliche parteipolitische Polarisierung. Das bürgerliche Lager tendiert, mit Ausnahme der CVP-Basis, zu einem recht klaren Nein. Die Linke wird mehrheitlich zustimmen. In der sich abzeichnenden Auseinanderbewegung entlang der Parteibindungen können die Initiantinnen maximal bei den parteiungebundenen Bürger und Bürgerinnen punkten. Die Auswertung ihrer Antworten zeigt allerdings, dass sie durch den Mainstream in den jeweiligen Sprachregionen beeinflusst sind.

Was ist bei einer solchen Ausgangslage von der weiteren Entwicklung des Abstimmungskampfes zu erwarten?
Die Kostenfrage steht im Zentrum der Aufmerksamkeit, aber sie hat noch keinen eindeutigen Sieger hervorgebracht. 35 Prozent der Teilnahmewilligen sind überzeugt, dass die Kosten bei ein Ja steigen, 33 hoffen auf eine Senkung. Man kann das auch so sagen: Der thematische Fokus ist durch Vorkampagnen und bisherige Hauptkampagne gesetzt worden: die kommende Dynamik der Meinungsbildung dürfte aber anders woher kommen.
Die Initiantinnen haben mindestens zwei Möglichkeiten: Die Vorteile einer einheitlichen und lebenslangen Betreuung durch eine öffentliche Kasse aufzeigen und vorhandene Schwächen des jetzigen Systems beklagen, so beim Risikoausgleich oder bei Maklerprämien. Ihre Widersacher können auf die Vorteile des Wettbewerbs für die Qualitätssicherung abstellen, und auf die insgesamt hohe Zufriedenheit mit dem jetzigen Split zwischen Grund- und Zusatzversicherung ansprechen. Gut denkbar, dass beide Seiten damit punkten, sprachregional allerdings ganz verschieden.

Claude Longchamp

Als sei das Rennen zur Familieninitiative schon gelaufen …

Schafft die Gegnerschaft die Wende bei der Familieninitiative? – Diese Frage wurde mir nach der Publikation der ersten SRG-Trendbefragung am vergangenen Freitag regelmässig gestellt. BefürworterInnen neigen zu Zuspruch; GegnerInnen zu Widerspruch. Hier meine Antwort, aufgrund meiner Erfahrung mit Initiativen.

Da mache sich niemand etwas vor: Die Familien-Initiative der SVP startet exemplarisch gut: 64 Prozent sind bestimmt oder eher dafür, 25 Prozent bestimmt oder eher dagegen. So die erste SRG-Trenbefragung.
Das soll man jedoch nicht mit dem Endergebnis verwechseln; denn die Erfahrung lehrt, dass der Nein-Anteil mit dem Abstimmungskampf immer steigt, und selbst der Ja-Prozentsatz meist sinkt. Hauptgrund: Die Debatte verlagert sich von der Behandlung des Problems Richtung Schwäche des Lösungsvorschlags. Dabei kann man sehr wohl der Meinung sein, das Problem bestehe, so wie die Initiative es beseitigen wolle, funktioniere das nicht. So kann man als anfängliche(r) BefürworterIn eine Initiativen am Ende durchaus auch ablehnen.

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Quelle: gfs.bern/SRG Trendbefragungen, Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

Nun sind 64 Prozent im Startwert bei der Familieninitiative viel. Das spricht dafür, dass es sich bei Steuererleichterung für Familien um ein von der Politik vernachlässigtes Problem handelt. Unabhängig vom Inhalt geniessen Vorlagen einen klarer Startvorteil, allein aus der Tatsache, dass sie die Schwierigkeiten aufgreifen.
Zum Vergleich: Die Minder-Initiative hatte beispielsweise eine anfängliche Zustimmungsbereitschaft von 65 Prozent. Die Zweitwohnungsinitiative begann bei 62 Prozent, während die erste Umfrage zur Ausschaffungsinitiative bei 58 Prozent begann. Sie alle starten gut, weil sie sich mit einem Missstand beschäftigten.

Wichtiger ist aber die Frage, wie stabil das alles ist. Der mittlere Werte des Rückgangs im Ja-Anteil beträgt, aufgrund der SRG-Umfragen, 10 Prozent; allerdings ist das kein Naturgesetz, sondern, wie fast alles in der Massenkommunikation, von Rahmenbedingungen abhängig: zum Beispiel dem effektiven Problemdruck und der Eignung der Nein-Kampagne.
Die wirkungsvollsten Nein-Kampagnen bauen auf der Schwachstellen-Kommunikation auf. Sie greifen nicht die Initiative als solche an, konzentrieren sich aber auf die schwächste Stelle im Angebot. Das zeigt in der Regeln den gewünschten Effekt. Er bleibt aus, wenn der Aufbau der Nein-Kommunikation misslingt resp. der Problemdruck zu hoch ist.
Der Rückgang kann auch mehr als die besagten 10 Prozent betragen, wenn die Startzahl mehr als Sympathiekundgebung denn als Resultat eine Abwägens von Pro und Kontra aufgefasst werden kann.
Die Volksinitiative für den Schutz vor Passivrauchen illustriert die Aussage: Die grosse Mehrheit der SchweizerInnen raucht nicht, stand der Forderung demnach aus Eigeninteresse mit Wohlwollen gegenüber. Der Initiative konnte man aber leicht Schwierigkeiten bei der Umsetzung vorwerfen (“Selbständig Erwerbende dürften in ihrem Büro nicht rauchen”). Hinzu kam, dass die meisten Kantone Massnahmen getroffen hatten, sodass das initiale Problem entschärft worden war.
Ergebnis: Aus den 59 Prozent im Startwert resultierte in der Volksabstimmung 2012 ein Ja-Anteil von 32 Prozent. Vergleichbares ergab sich bei der Goldinitiative 2006, als sich die anfängliche Zustimmungsbereitschaft von 62 Prozent auf 42 im Ergebnis zurückentwickelte.
Um es klar zu sagen, das sind nicht die Regel-, sondern die Extremfälle, die belegen, was bei Volksinitiativen jenseits der 10 Prozent alles möglich ist. Der Anhang im SRG-Bericht (Kapitel 5.1.2) macht die ganze Auslegeordnung.

Und bei der Familieninitiative? 64 minus 10 reicht nicht, um die Mehrheit zu kippen. Es braucht also mehr als den durchschnittlichen Meinungswandel. Silja Häusermann, Politologie-Professprin an der Uni Zürich, sagt im heutigen Tages-Anzeiger, was gute Schwachstellenkommunikation ist: “Die Gegner werden sich in ihrer Argumentation auf die Kostenfrage konzentrieren, immer wieder betonen, dass die Steuerausfälle bei anderen wichtigen Staatsaufgaben kompensiert werden müssen». Und, das eine Familienmodell gegen das andere auszuspielen, sei politisch nicht besonders erfolgversprechend, weil es in der Schweiz in vielen Kantonen durchaus eine breite Unterstützung für ein konservatives Familienmodell gäbe.
Die erste SRG-Umfrage zeigt denn auch, dass das Kostenargument viel mehr wirkt als alles andere, was man gegen die Initiative hören kann. Ob es reicht, hängt, wie dargelegt, von der noch folgenden Nein-Kampagne ab. Denn das Problem der finanziellen Anspannungen in Familien besteht, und es kommt umso häufiger vor, als die Haushalte über unterdurchschnittliche Einkommen verfügen.

Claude Longchamp

Wie aus WutbürgerInnen Citoyen(ne)s werden

Er ist der optimistischste Politikwissenschafter, den ich kenne. Seine Karriere begann mit einer Habilitation über das gütliche Einvernehmen in der Schweizer Politik. Dass es damit nicht mehr weit her ist, bestreitet der emeritierte Berner Professor nicht. Doch sucht Jürg Steiner via deliberativer Politik nach einen Ausweg Richtung mehr Verständigung.

Wenn es Sommer wird und ich nach dem klingelnden Telefon greife, ahne ich, was kommt: “Claude, das esch dr Jürg”, heisst es in akzentreiem Berndeutsch. Was auch immer für eine Geschichte danach folgt, sie endet mit einer Einladung zum Mittagessen. Letzte Woche war es wieder soweit. Wir trafen uns im Della Casa, einem Berner Traditionsrestaurant.

Jürg Steiner lebt in Thun, wenn er nicht auf Achse ist. Einmal, als er mich am Bahnhof seiner Heimatstadt abholte, fragte er: “Was ist schöner als Thun?” – “Nichts t(h)un”, antwortete er gleich selber – und lachte über den gelungenen Witz.

Dass Steiner in seinem Forscherleben nichts getan hätte, kann man wahrlich nicht behaupten: Seine Habilitation in Mannheim widmete er der Konkordanzkultur der Schweiz nach der Einführung des Zauberformel für die Wahl des Bundesrates. Es war die hohe Zeit des gütlichen Einvernehmens, der Verständigung politisch unterschiedlicher Kreise untereinander. Seit es keine Einigkeit mehr gibt, wie der Bundesrat richtigerweise zusammengesetzt sein soll, ja, seit die Polarisierung die politisch-mediale Szenarie beherrscht, ist es damit nicht mehr weit her. Es herrscht, auch in der Schweiz, meist der Machtkampf, bis klar ist, wer in der Mehr- und wer in der Minderheit ist!

Das ist auch Jürg Steiner, der zwischenzeitlich Professor in Chapel Hill und Florenz war, nicht entgangen. Dennoch hat er nicht aufgegeben: In den letzten Jahren hat er sich ganz dem Projekt der deliberativen Demokratie gewidmet. Gemeint ist damit, dass Demokratie vom Diskurs über politischen Themen lebt, den möglichst viele BürgerInnen ganz im Sinne der partizipatorischen Demokratie miteinander führen. Und genau darin sieht Steiner neue Chancen, den Blockierungen durch das Schwarz-Weiss in der Mediendemokratie etwas gegenüberstellen zu können.

Bei all seinen Treffen in der Schweiz weibelte Steiner für sein neues Buch zur deliberativen Demokratie, das Ende Juni im Cambridge-Verlag erscheint. Vor dem Essen mit mir, war er bei der NZZ-Gruppe – und das nicht ohne Erfolg: Die NZZ am Sonntag widmete zu Pfingsten mit einem grossen Artikel Steiners Thema.

“Weisst Du”, sagte mir Jürg, “auf der ganzen Welt interessiert man sich für Deliberation. Die EU fördert sie mit viel Geld, und selbst die Kommunistischen Partei Chinas experimentiert damit. Nur in der Schweiz bleibt sie ein Unding”. Hauptgrund hierfür sieht der weltgewandte Berner Politologe in der Konzentration auf die hiesige direkte Demokratie, gemeinhin als Spezialfall verstande, der auf dem Globus Seinesgleichen sucht. Dabei übersehe man, dass gerade die Verlagerung der direkten Demokratie von der Versammlungs- zur Abstimmungsdemokratie Vor- und Nachteile habe, ist Steiners Credo: So sei es möglich, dass 5 Millionen Stimmberechtigte gemeinsam kommunizieren und entscheiden können; doch könne man nicht verhindern, dass mit der Medialisierung der Politik eine neue Logik Einzug halte.

Wenn zufällig ausgewählte BürgerInnen wieder in kleinen Gruppen in einem offenen Prozess miteinander diskutieren und einen gemeinsamen Entscheid fällen sollten, verschwinde der Kampf, kehre das Gespräch zurück, würden aus den WutbürgerInnen wieder Citoyen(ne)s.

Es ist eine bemerkenswerte These, die Jürg Steiner mit sich herumträgt. Er weiss sie mir Verve zu vertreten, und er ist nicht um Argumente verlegen, was auch in der Schweiz besser werden müsste. Der unermüdliche Debattierer mit gut 70 Lenzen empfiehlt Deliberation als Gegengewicht nicht nur zu Entscheidungen, die durch Abstimmungskämpfe bestimmt würden, nein, er sieht sie auch als Erweiterung der behördlichen Willensbildung, die zunehmend durch Lobbyismus bestimmt werde.

Forderungen nach mehr Partizipation waren immer das Gegenstück zu Technokratie, bleibt mir in Erinnerung, als wir uns verabschieden. Bis in einem Jahr … Und wer solange nicht warten mag, lese den Artikel der “Aus Wutbürgern werden Citoyens”, den Wissenschef und Physiker Andreas Hirstein in der NZZaSo publiziert hat, derweil fast alle hiesigen PolitologInnen rund um den prominenten Zeitgenossen aus Thun nichtstun, um die Welt zu verbessern.

Claude Longchamp

Twittern befördert Blog-Nutzung

Blogs wie meiner sind keine Waschplätze (mehr), eher elektronische Wandzeitungen, deren Nutzung durch gezieltes Twittern steigt.

Rund vier Jahre betreibe ich den Blog “Zoonpoliticon”. Die pageviews hatten sich in den letzten Monaten recht konstant bei 2000 je Tag eingependelt.

Seit gut einem Monat nun twittere ich; vor allem zu Themen, die ich auch dem Blog bearbeite. Das blieb nicht ohne Wirkung auf die Seitenbesuche. In den letzten vier Wochen hatte ich im Schnitt 3000 pagesviews je Tag, mit Spitzen bis an die 6000er Grenze.

Der letzte Monat hat den traffic auf zoonpoliticon um knapp die Hälfte gesteigert!

Spitzenwerte erreichten die jüngsten Artikel über Schweizer Wahlen, aber auch die Erfolgskritierien von Volksinitiativen. Aehnliches konnte ich bei der Publikation der SRG-Umfrage zu den kommenden Volksabstimmungen feststellen.

Mit anderen Worten: Blog-Aktivitäten, die mit twitter beworben werden, lassen eine stark erhöhte Nutzung erkennen. Der Effekt wird besonders dann sichtbar, wenn ich zum Kerngeschäft meiner Oeffentlichkeitsarbeit schreibe und twittere.

Sehr nützlich waren diese Woche mehrere prominente retweets, bisweilen in Oesterreich, welche die Bekanntheit des Blog gesteigert haben und auch zu punktueller Nutzung führten. Optimistisch gedeutet, bringt mir das bald auch ein Wachstum bei der (Stamm)Kundschaft. Diese liegt aktuell bei rund 500 BesucherInnen täglich.

Für einen Fachblog zu Schweizer Politik ganz beachtlich!

Auf die Diskussionsfreudigkeit auf dem Blog hat sich das alles indessen nicht vorteilhaft ausgewirkt. Diese ist, wie bei so vielen Blogs, rückläufig; sie findet entweder auf facebook statt oder gar nicht mehr.

Immerhin, so rasant wie in den letzten Wochen ging es mit Zooonpoliticon noch nie (nachhaltig) bergauf.

Claude Longchamp

Memo an mich … und andere Twitterer!

Von Barack Obama heisst es, er gewinne 40000 Follower im Tag. Ich habe nun 500, 80 alleine aus der letzten Nacht! Das kam so …

Hubert Sickinger ist Parteienforscher in Oesterreich. Er unterrichtet hauptsächlich an der Uni Wien. Parteienfinanzierung ist eines seiner Steckenpferde. Seit einige Tagen verfolge ich ihn – natürlich nur auf Twitter. Gestern nun hat er seinen Verfolgern eine Verfolgerempfehlung geschickt – mit durchschlagendem Erfolg!

Heute Morgen hatte ich 80 neue Follower! Fast alle aus Oesterreich … der Zusammenhang ist (ununtersucht) evident!

Zu danken habe ich aber auch Mathias Binswanger, dem wirbligen Nachwuchs-Oekonomen an der HSG. Der verfasste gestern einen herzhaften Artikel zu unisnniger Forschung, für seine Fachkollegen selbst den Nobelpreis bekommen haben. Die Vorabpublikation des Serienstarts in der BernerZeitung habe ich wohl als einer der Ersten über Twitter verlinkt – gleich sieben Mal ist er im Nu weitergeleitet worden und schwirrt schon in der halben Twitterwelt umher.

Beim Frühstückskaffee (in meinen Ferien) hatte ich alle Hände voll zu tun: Dankes-Twitter schreiben, aber auch Followerlisten lesen. Die witzigste war: “Jesus”, “Barack Obama”, “Claude Longchamp”. Herzhaft lachen musste ich auch beim Tweet “Memo an mich …”! Das mache ich – ausser jetzt – doch lieber nur an mich!

Claude Longchamp

20 Jahre Institutsleiter am gfs.bern

Genau genommen ist es erst am Sonntag soweit; dennoch erlaube ich mir bereits jetzt eine Anzeige in eigener Sache: Denn vor 20 Jahren eröffnete ich das gfs.bern resp. das Büro Bern des gfs-Forschungsinstituts, wie es damals hiess. Ein kleiner Rückblick.

Eine Volksabstimmung zum EWR rückte anfangs 1992 ins Blickfeld. Der Bund, die Wirtschaftsförderung, die Gewerkschaften, aber auch Fernsehen und Radio zeigten Interesse, sich angemessen auf das Ereignis einzustellen. Alle gelangten sie an mich, damals schon Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Uni Bern, und im Nebenamt Projektleiter der VOX-Analyse eidgenössischer Volksabstimmungen beim GfS-Forschungsinstitut. Einzig der Kanton Bern und einige Kollegen am Institut schauten mit kritischen Augen zu, denn die mehr und mehr praxisorientierte Politikwissenschaft, die ich seit den 80er Jahren entwickelt hatte, passte nicht unbedingt ins damalige Konzept der Universität resp. der Politikwissenschaft. So begriff ich rasch, an der Alma Mater keine Zukunft zu haben und entschloss ich mich, auf meine eigenen Beine zu stehen und eine Berner Filiale von GfS zu gründen.

Am 1. April war es soweit. Nicht bloss scherzeshalber, nein, mit vollem Ernst eröffnete ich mit Unterstützung der Schweizerischen Gesellschaft für praktische Sozialforschung im Dachstock eines ehrwürdigen Hauses am Bärenplatz mein eigenes Büro. Es kamen wohl 100 Personen an die Party, stauend, ob der Innovation, hoffend, angesichts der sich abzeichnenden Möglichkeiten, aber auch argwöhnend, weil die Politologie ihre Unschuld zu verlieren schien. Selbst das Regi Bern berichtete über den gelungenen Anlass und bot mit Gelegenheit zu sagen, was da komme.

Was da effektiv kam, ist nicht an mir zu beurteilen. Dafür stand ich in den letzten 20 Jahren zu stark im Zentrum. Entscheidender als meine Meinung ist, was unsere Kundschaft denkt, wo wir für sie einen Nutzen erbracht haben, und was die Oeffentlichkeit sagt, für die wir dauerhaft gearbeitet haben. Massgeblich ist auch, was meine ehemaligen und heutigen MitarbeiterInnen denken, die einen Teil ihres (Arbeits)Lebens am gfs.bern verbracht und dabei hoffentlich auch etwas gelernt haben. Wichtig ist mir auch, was unsere Partner an den Unis, in der Verwaltung, den Verbänden und den Medien denken, die uns auch ausserhalb von Mandaten immer wieder kritisch begleitet haben. Schliesslich habe ich meinen KollegInnen am gfs-Zürich und am gfs-Befragungsdienst zu danken, welche die Entstehung der Berner GfS überhaupt erst ermöglicht haben. Last but not least, gebührt meiner Partnerin, Barbora Neversil ein volles Lob, weil sie mich durch alle Höhen und Tiefes des Wirkens als öffentliche Person, als Unternehmer und als Wissenschafter begleitet und mustergültig unterstützt hat.

Meinerseits kann ich sagen: Es war eine tolle Zeit, ja ein zeitgeschichtlicher Moment, den ich als Politikwissenschafter, Historiker, Sozialforscher, TV-Mann, Blogger und Stadtwanderer begleiten durfte. Denn die Ablehnung des EWR-Beitritts am 6. Dezember 1992 provozierte in der Schweiz eine Welle von Veränderungen, mit denen niemand gerechnet hatte: die parteipolitische Polarisierung mit dem exemplarischen Aufstieg der SVP, die wirtschaftliche Oeffnung mit verschiedenen Liberalisierungsprojekten, die neue Urbanität mit einer wachsenden Bedeutung der Städte in der Schweiz, der kulturelle Wandel, der sowohl die Moderne als auch die Tradition im Inneren des Landes stärkte. Das alles bedeutete für uns am gfs.bern stets auch Arbeit. An die 1000 Forschungsprojekte haben wir in diesem Umfeld machen dürften – ein Privileg, das ich zu schätzen weiss und das ich gerne noch einige Jahre in Anspruch und geniesen werde.

Claude Longchamp

Lazarsfeld vom Kopf auf die Füsse gestellt

111 Follower am ersten Tag, ohne auf Twitter schon aktiv zu sein. Ein spot Ueber die Eigendynamiken der der neuen und alten Medien.

Gestern ging alles schnell. Mein Twitter-Konto war eingerichtet, die Instruktionen zur Funktionsweise waren erfolgt. Dann zwitscherte ich, ich würde ab nun zwitschern. Und hängte mich bei einigen bekannten Leuten als Gefolgsmann an. Die Reaktionen liessen nicht lange auf sich warten. Nach nur einer Nacht hatte ich meinerseits 111 Gefolgsleute.

Ein wenig erinnert mich das an Paul Lazarsfelds two-step-flow of communication. Der Oesterreicher, angesichts der nationalsozialistischen
Bedrohung in die USA emigriert, formulierte ein frühes Gesetz der Medienwirkung: Massenmedien, vor allem Zeitungen, verbreiteten Informationen, die von Meinungsführern aufgenommen und ihrem Umkreis kommentiert verbreitet würden. Diese Zweistufigkeit wirke, nicht die Medieninformation an sich. Denn viele denkbare LeserInnen seien überfordert, mit der Information etwas anfangen zu können, weshalb sie sich auf das Urteil von Gewährleuten verlassen würden.

Die sozialwissenschaftliche Literatur seither hat vielfachen Zweifel am Gehalt dieser Theorie angemeldet. Die Bildung der MedienkonsumentInnen habe zugenommen. Sie würden sich zudem jenen Medien zuwenden, deren Grundhaltung sie teilten, sodass es keine Mittelsleute mehr brauche. Die Meinungsführer von damals kämen weiters immer öfter in den Massenmedien selber vor. Namentlich die Personalisierung des Journalismus durch Radio(stimmen), dann durch Fernsehegesichter habe vieles verändert; die Zeitungen hätten reagiert, arbeiteten heute mit zahlreichen eigenen Kommentatoren, die genau die Wertungen vornehmen würden, die Lazarsfeld den Gefolgsleute in den Gesellschaften zugeschrieben habe.

Mit twittern habe ich noch nicht grosse eigene Erfahrungen. Ich verfolge das bunte Treiben seit den letzten Wahlen in der Schweiz – über eine Konto meines Instituts. Das liess den Gedanken in mir reifen, nun selber zu twittern. Ueber meinen Alltag als Politikwissenschafter, über meine Rechercheergebnisse zum Beispiel für meine Lehrveranstaltungen und über das, was ich blogge. Das ist eigentlich genau das, was man (fachspezifische) Meinungsführung nennen könnte.

Wenn ich mit die Gesamtheit der Twitter-Gemeinde ansehe (der Begriff ist tatsächlich berechtigt, wie das Hallo, das ich gestern unter Eingesessenen mit meiner Ankündigung ausgelöst habe, belegt), komme ich zum Schluss, dass Zwitschern zum Mediengeschehen genauso etwas ist, wie es Lazarsfeld mit dem Zwei-Stufen-Gesetz der Medienkommunikation umschrieben hat. Wenn Blocher vom Staatsanwalt heimgesucht wird, äussern sich spin doctors aller Art umgehend auf Twitter, um dem Geschehen ihren Dreh zu geben. Indes, ein Unterschied besteht. Kar mehr als die Meinungführer von damals stellen die Zwitscherer selber eine Art Oeffentlichkeit her, auf die die Massenmedien reagieren. Dafür spricht die hohe Zahl an JournalistInnen, denen ich gestern auf Twitter begegnet bin, ja auch Kommentatoren aus meiner Zunft sind recht zahlreich dabei. Sogar Chefredaktoren scheinen diese Quelle der Informationsschaffung ganz aktiv zu nutzen, um sich auf dem laufenden zu halten, wo sich Geschichten abzeichnen.

Damit wäre Twittern dann nicht die zweite, sondern sogar erste Stufe der massenmedialen Kommunikation. Paul Lazarsfeld Idee wäre nicht nur wiedergeboren, sie wäre durch die Spatzen im Internet vom Kopf auf die Füsse gestellt worden!

Claude Longchamp

Der Tanz rund um die Konkordanz

Heute sass ich erstmals auf dem heissen Stuhl der “Rundschau” – um zu analysieren, was bei der Bundesratswahl geschieht. Was mir in den kurzen fünf Minuten an Vermittlungsleistung gelang, kann man sich hier ansehen, und was mir darüber hinaus noch wichtig gewesen wäre, kann ich hier als Blogger ausbreiten.

Rundschau vom 07.12.2011

Nehmen wir mal an: Alles verläuft nach dem Gewohnheitsrecht. Gewählt werden die sieben BundesrätInnen nächsten Mittwoch einzeln und zwar in der Reihe des Amtsalters. Dann ist Doris Leuthard als Erste wieder Bundesrätin.

Diese Woche klar verbessert haben sich die Aussichten von Eveline Widmer-Schlumpf. Denn sie hat nicht nur die Zustimmung ihrer Fraktion und die der GLP bzw. GPS. Auch die SP hat sich einstimmig für sie ausgesprochen, und bei der CVP ist es eine klar Mehrheit, die sie wiederwählen will. Zusammen macht das fast 140 mögliche Stimmen; bei 124 nötigen erträgt es da durchaus einige Abweichler von den Fraktionsvorgaben, und die BDP-Politikerin bleibt trotz mangelnder WählerInnen-Stärke ihrer Partei im Bundesrat.
Eine vertitable Koalition wäre es nicht, die sie erneut in die Regierung hieven würde, aber eine Themenallianz, welche die Mehrheit für den Ausstieg aus der Atomenergie im Bundesrat sichern möchte. Immerhin, das war eines der Hauptthemen im Wahljahr, und es hat bei der Parlamentswahl jene Kräfte im Zentrum gestärkt, die ohne Rücksichten auf bisherige Entscheidungen neue Mehrheiten beschaffen können und wollen.

Unwahrscheinlich geworden wäre damit die Rückkehr zur Formel von 2003 mit je zwei Bundesräten für SVP und FDP. Die SVP, die kaum mehr etwas gewinnen könnte, würde mit Sicherheit protestieren, allenfalls auch die Unterbrechung der Wahl fordern. Würde sie damit nicht durchdringen, wäre am kommenden Mittwoch die Wiederwahl von Johannes Schneider-Ammann der nächste Kristallisationspunkt.
Votierten da FDP, CVP, BDP und SVP wie angekündigt ganz oder grossmehrheitlich für ihn, könnte der Volkswirtschaftsminister schon im ersten Wahlgang bestätigt werden. Enthielte sich die SVP in der ersten Runde, wäre das die Aufforderung zum Tanz mit Mitte/Links, indem SP und GLP, die eine Doppelvertretung der SVP gegen die FDP nicht ausschliessen für Bruno Zuppiger votieren würden, was mit den SVP Stimmen aus dem Gewerbeverbandspräsidenten einen Bundesrat machen würde.
Mit der heutigen Attacke der Weltwoche gegen Zuppigers Integrität ist das nicht wahrscheinlicher geworden. Der Schaden in der Oeffentlichkeit ist da, selbst wenn es sich um nicht mehr als eine instrumentelle Aktualisierung eines Sachverhalts handelt, der in der SVP-Spitze bekannt war. Das macht man entweder aus journalistischem Gespür für Sensationen heraus – oder aus gezielter Absicht, um den Kandidaten zu demontieren. Am Dilemma der SVP, im jetzigen Parlament wohl nur über den Weg gegen die FDP zum zweiten Bundesrat zu kommen, ändert das nichts. Und davon ist man heute auch ohne mediale Kampagne weit entfernt. Denn man misstraut sich aus den SVP- und SP-Reihen wechselseitig, anstatt gegenseitig anzuhören.

Wahrscheinlicher wird da immer mehr, dass sich SP und FDP hinter den Kulissen arrangieren. Denn tauschen sie sich ihre Stimmen in der Vereinigten Bundesversammlung aus, sind beide Parteien auch im kommenden Bundesrat mit je zwei PolitikerInnen vertreten, wenn diese wahlweise bei CVP, BDP, GLP und GPS je 25 Stimmen als Bisherige, als Romands oder als Ständerat für sich gewinnen. Mögilch ist das.
Im Grenzfall könnte zuerst die FDP mit Schneider-Ammann, dann die SVP mit ihrem zweiten Kandidaten Jean François Rime bedient werden. Doch würde so die CVP, der wichtigsten Partei in dieser Frage, ihrer Rolle als Mehrheitsbeschafferin in der Energiepolitik verlustig werden.

Damit erscheint aus heutiger Sicht der Status Quo als probabelster Ausgang der kommenden Bundesratswahl. Grosser Vorteil: Kein Mitglied der jetzigen Bundesregierung würde abgewählt. Neue Wunden aus der Wahlschlacht bei PolitikerInnen und ihren Parteien könnten so vermieden werden. Grosser Nachteil: Konkordant wäre die Wahl nicht wirklich, denn die SVP wäre nicht adäquat im Bundesrat vertreten. Ihre volle Rückkehr aus der selbst gewählten Opposition würden wohl bis zur nächsten Vakanz aus den FDP-Reihen aufgeschoben werden. Oder die nächsten Parlamentswahlen ändern die Zusammensetzung von National- und Ständerat nach rechts.
Die Begründung für die Regierung nach der bisherigen Zusammensetzung würde lauten: Stabilisierung des Gremiums, das amtsjung ist, um in der herausforderungsreichen Zeit, die ansteht, zu bestehen. Personen, die zusammenarbeiten wollen, wären dann definitiv wichtiger als die Konkordanz-Arithmetik. Für die SVP wäre die Begründung, Opfer einer Intrige geworden zu sein, die zum definitiven Bruch mit der Zauberformel führte. Das würde es ihr erlauben, ihren Tanz um die Konkordanz fortzusetzen, der im angedrohten Erfolg in Proporzwahlen besteht, aus dem sie ihre bisherige Stärke bezogen hat.
Soweit die heutigen Aussichten – ausser die Wahlen vom kommenden Mittwoch liefen nicht nach dem Gewohnheitsrecht ab!

Claude Longchamp

Blau und rot stehen für Politik und Kommunikation als Schwerpunkte meiner Forschung

Meinen Vortrag von heute morgen kündigte ich als dreifach exklusiv an: denn es war der erste, einzige und damit auch der letzte mit (roter) Krawatte statt (blauer) Fliege. Das kam so.

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Bewusst ungewohnt: Claude Longchamp mit Krawatte

MIKA hiess die Organisation, vor der ich heute sprach. Das sind die Kommunikationsfachleute der Schweizer Armee, die bestrebt sind, Erfahrungen aus der Privatwirtschaft in die Armee zu transferieren, wobei die so Ausgebildeten ihre Erfahrungen wieder in die Zivilgesellschaft tragen.

Mir ging es um die Armee in der Mediengesellschaft: “Krisen, Köpfe und Kommunikation”, lautete der Titel meines Referates. Dabei ging es mir um die Weiterentwicklungen des Sozialen, das gegenwärtig um das Mediale erweitert wird. Ich sprach über Images, Gesamteindrücke, die nahe bei der Emotion sind, und Reputation, welche als Verhaltenserwartung einer Person oder Organisation gerade in der Mediengesellschaft vermehrt vorausgeht.

Das Material schöpfte ich aus systematischen Beobachtungen über die Armee aus den Jahren 2006 bis 2009, dem ereignisreichen Fenster, das mit dem Jungfrau-Unfall begann, durch die Tragödie auf der Kander beschleunigt wurde, zwischendurch vom Schiessunfall in Zürich-Höngg überschattet war, und im Fall Nef, dann Schmid endete. Zur Sprache kamen Medienanalysen wie auch Bevölkerungsbefragungen. Meinen Schluss widmete ich den Erkenntnissen für die Kommunikationswissenschaft aus dem Projekt einerseits, den Lehren für die PraktikerInnen, die Medienkampagnen ausgesetzt sind anderseits.

Zentrale These war, dass die Aktualität in der Mediengesellschaft volatiler denn je sei, und diese Aktualität die Reputation stresse. Diese könne so zwar gestärkt werden, aber auch Schaden nehmen. Ob sich das auf das basale Image mit seinen ziemlich festgefahrenen Stereotypen und bildhaften Vorstellungen auswirke, hänge vom Alltagsimage ab. Sei dies schwach ausgeprägt, wirkten sich Reputationsveränderungen direkt auf das Image aus, im Guten wie im Schlechten. Wenn es stark ausgeprägt sei, funktioniere es wie ein Trampolin, dass Schläge ausgleiche, Gegenschwünge mobilisiere und das Kurzfristige gegenüber dem Langfristigen ausbalanciere.

Die Diskussion dazu, vor allem, was das im Konkreten bedeute, war ganz anregend. Noch anregender war indes die Auseinandersetzung mit meinem verfremdeten Bild. Um nach einem intensiven Wahljahr zu zeigen, dass gfs.bern nebst Politanalysen auch Kommunikationsanalyse leistet, habe ich die Institutssymbole für beide Schwerpunktebereiche vertauscht. Statt blau, unserer Farbe für Politik, wählte ich Rot, das Signal für Kommunikation. Und statt der erwarteten Fliege trug ich eine Krawatte, wie das meine Nachfolger in der übergeordenten Projektleitung tun.

Für diese Irritation erhielt ich schon nach den ersten erklärenden Worten tosendem Appplaus.

Claude Lonbgchamp