Politiker als Eisverkäufer …

Am Dienstag staunte ich nicht schlecht, denn der Blick am Abend behandelte das Medianwählermodell ebenso ausführlich, wie ich es für meine Wochenvorlesung an der Uni Zürich vorgenommen hatte. Anders als ich glauben die Blick-Leute jedoch, damit das taktische Verhalten von Parteien verstehen zu können, während ich die Theorie nur für die strategische Analyse gelten lasse.

Der Ausgangspunkt ist einfach: Ein Strand von beispielsweise 10 m Breite und 100 m Länge sei im Osten und Westen durch Felsen begrenzt, im Norden durch das Meer und im Süden durch eine Uferpromenade. An diesem Strand gibt es genau zwei Eisverkäufer mit je einem mobilen Eisverkaufsstand, der aber nur längs der Uferpromenade bewegt werden kann, nicht im Sand. Der Strand ist gleichmäßig mit Badegästen gefüllt. Beide Eisverkäufer bieten das gleiche Eis zum gleichen Preis an. Gesucht ist die optimale Position beider Eisverkäufer.

Sprechen sich die beiden Eisverkäufer ab, teilen sie den Strand in zwei gleich grosse Rayons auf. Beide bekommen einen Bezirk exklusiv, wenn sie auf die andern verzichten. Ihr idealer Standort ist jeweils in der Mitte ihres Sektors. Stehen sie jedoch in Konkurrenz zueinander, werden sie sich in die Mitte des gesamten Strandes bewegen, und zwar wechselseitig, weil sie da die grösste Chance haben, alle Besucher anzusprechen. Indes, sie müssen sich bei identischem Eis mit tieferen Preise bekämpfen oder aber die neue Glaces anbieten, auf die möglichst viele Strandbesucher stehen.
Auf die Politik übertragen heisst das: Zwei Parteien sprechen sich entweder untereinander ab, wer welche Wahlkreise bekommt, oder sie wetteifern untereinander in allen Wahlkreisen, wobei, in einem Zweiparteiensystem die Partei gewinnt, welche die Präferenzen der WählerInnen in der Mitte, die Medianwähler eben, besser abbildet.

Das so skizzierte Modell ist ebenso häufig kritisiert wie zitiert worden. Weil Parteien nicht einfach Eisverkäufer sind, die x-beliebig dem Volk folgen. Vielmehr sind sie gewachsene Gebilde, die Teile der Bürger in regionaler, werte- oder interessenmässiger Hinsicht vertreten. Ihren einmal eigenommen Standort können sie nicht einfach ändern, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Anders als am Strand, wo die Leute für einige ausserordentliche Tage hingehen, sie die WählerInnen mehr oder minder permanent da.

Dennoch, die Annahme, dass die Zahl, die Position und das Verhalten der Parteien einen Einfluss hat auf ihre Wahlchancen hat, ist auch politikwissenschaftlich berechtigt.

Bis 1991 funktionierten Schweizer Wahlen weitgehend nach dem Konkordanzmuster, samt Gebietsabsprachen. Dann positionierte sich die SVP neu, als Partei gegen die EU, und liess ihre früheren Hemmungen fallen, zum Beispiel in Gebieten anzugreifen, die der CVP gehörten. Die Folge kennen wir: Die SVP stieg von der 4. Zur Wählerstärksten Partei der Schweiz. Auch die Grünen legten seit den 80er Jahren schrittweise zu, weil sie sich den ökologischen Themen annahmen und so vor allem einen Teil der linken Wählerschaft für sich gewinnen konnten. Aufgelöst wurde so der Zwang der Parteien, sich gegen die Mitte zu bewegen und die Konkurrenz als Partner zu akzeptieren. Zuerst gab es im linken, dann im rechten Lager politischen Wettbewerb. Die Chancen neuer oder neupositionierter Parteien erhöhen sich, gerade in der Schweiz, wenn es ihnen gelingt bisherige Nicht-WählerInnen zu mobilisieren. Die findet man vor allem an den Polen der neuen Konfliktlinie am ehesten: also klar gegen Autos, klar gegen EU. Ihr Erfolg nimmt zu, wenn sie auf diesem Weg auch unzufriedene WählerInnen der bisherigen Parteien für sich gewinnen können.

Einiges spricht dafür, dass sich die Parteienlandschaft der Schweiz seit den 90er Jahren so entwickelt hat. Neuerdings scheinen die Potenziale, welche die Veränderungen bewirkt haben, jedoch ausgereizt. Denn es verlieren heute nicht nur die traditionellen Mitte-Parteien, auch die Polparteien wachsen elektoral nicht mehr. Vielmehr kennen Schweizer Wahlen mit der BDP und GLP zwei neue Angebote. Entstanden sind beide Parteien als Abspaltungen von Polparteien, die sich zu einseitig positioniert haben: die GLP weil die GPS mit ihrem Etatismus nicht mehr alle ökologischen WählerInnen abdeckte, und die BDP, weil die SVP mit ihrer Oppositionsneigung nach der Abwahl Blochers aus dem Bundesrat gemässigte Konservative mit Vertrauen in den Staat bei sich halten konnte. Auch hier gilt: Es sind die nur die Abgespaltenen, die zählen, es werden auch die Neu- und WechselwählerInnen von Belang.

Meines Erachtens ist die Medianwählertheorie gut und schlecht zugleich. Schlecht ist sie, wenn sie, wie vom Blick zitiert, zur Analyse von taktischen Positionsbezügen verwendet wird. Denn wer sich als bestandene Partei positioniert, setzt sich dem Vorwurf aus, opportunistisch zu sein. Gut ist sie hingegen, wenn sie für die strategische (Um)Positionierung von Parteien eingesetzt wird. Das heisst auch, dass es nicht um den Tageserfolg der Eisverkäufer geht, sondern um die mittel- und langfristige Profilierung von Parteien geht. Dabei darf sie sich zwangsläufig nicht auf das Publikum stützen, dass an einem Wochenende die Strände bevölkert, sondern muss sich an den Generationen ausrichtigen, die in 10 bis 20 Jahren die Politik ausmachen werden. Zudem, und da endet die Analogie zum Konsumismus ganz: Es geht in der Politik auch um adäquate Antworten einer Gesellschaft auf neue Herausforderungen, die durch den Parteienwettbewerb entwickelt und durch die WählerInnen-Entscheidungen bewertet werden.

Oder noch klarer: Die einfachen und kurzfristigen Interessen der Strandbesucher und Eisverkäufer erklären und die Politik nicht; es kommt darauf an, sie in einem gegebenen Politsystem, angesichts vorherrschender Demokratiemuster und unter Einbezug des Beteiligungsverhalten und der Generationenfolge zu bestimmen. Denn erst dann wird das Verhalten neuer Parteien oder eines veränderter Auftritt bis Parteien von Belang. Und nur dann machen Wahlanalysen mit Theorie wie der hier beschrieben Sinn, um zu verstehen, was bei einer Wahl geht.

Claude Longchamp

Lernprozesse in der (angewandten) Wahlforschung der Schweiz

Vor einem Jahr hielt ich an den Aarauer Demokratie-Tagen ein Referat zum Stand der Wahlforschung, mit Blick auf die anstehenden Parlamentswahlen. Letzte Woche nun verfasste ich den Rückblick auf eben dieses Ereignis, verbunden mit einer (weiteren) Zwischenbilanz zum Stand der angewandten Wahlforschung. Ein kurzer Vergleich der Einschätzungen, um etwas über Lernprozesse zu erfahren.

Mindestens drei Forschungs- und Umfrageinstitute haben sich daran beteiligt – unseres für die SRG, Isopublic für die Sonntagszeitung und Demoscope für den Sonntagsblick.
Die Ergebnisse, die dabei herausgekommen sind, unterscheiden sich. Weniger hinsichtlich der „Prognosen“, die über alle einigermassen zutrafen, ohne einzelne Schwachstellen vermeiden zu können. Sie differieren vor allem hinsichtlich des Aufwands, den die Medien als Auftraggeber finanziell, zeitlich und platzmässig betrieben; das hat das SRG-Projekt zum eigentlich Marktleader avancieren lassen. Damit verbunden ist die Nachfrage nach spezialisierten Angeboten, die auf dem kleinen Umfrage-Markt zwischenzeitlich zu haben sind.

Mit dem Wahlbarometer haben wir erstmals versucht, Erklärungsansätze der Parteienwahl systematisch in die Befragungsreihe einzubauen. Es ging darum, was die Wahl einer (grösseren) Partei determiniert:

erstens, das Image der Kampagnen, die Taktik mit Blick auf die Bundesratswahlen, was kurzfristige Determinanten sind,
zweitens, die Personen an der Spitze der Parteien, die Themenkompetenz der Parteien aus der Optik der Wählenden und die Beurteilung des Bundesrates, was man als mittelfristig wirksame Faktoren ansehen kann,
und drittens, die Werthaltungen, die Parteien verkörpern, ohne Zweifel ein langfristig angelegter Bestimmungsgrund der Parteienwahl.

Der so gewählte Ansatz der SRG-Befragung (über dessen Ergebnisse exemplarisch hier berichtet wird) hat sich bewährt; er liefert eindeutig mehr als die bekannten Beschreibungen der Parteistärken nach Merkmalsgruppen; er ist auch flexibler als die Messung von Präsidentenimages, um daraus Siege und Niederlagen der Parteien abzuleiten.

Wenn es also offensichtliche Entwicklungen in der Entwicklung von Erklärungen der Parteienwahl gibt, bleiben doch beschränkte Probleme in der Beschreibung der Wahlabsichten. Deren Zuverlässigkeit konnte 2011 erstmals nicht mehr gesteigert werden. Das hängt wohl mit der grösser gewordenen Unsicherheit der Parteienwahl zusammen, ausgelöst mit der wachsenden Kritik an der SVP, welche die Mobilisierungsfähigkeit beeinträchtigte, aber auch mit dem Auftreten neuer Parteien und kurzfristiger Entscheidungen.

Da hat die Umfrageforschung vor allem via Wahlbörsen eine Konkurrenz bekommen. Wenn deren Leistungen bei der Prognose beträchtlich sind, darf jedoch eines nicht übersehen werden: Der Wahlforschung, die darauf ausgerichtet ist zu klären, warum wer wen wählt, sind sie gar nicht dienlich. Denn sie focussieren einzig die Frage, wer gewählt wird. Alles andere, das eigentlich interessiert, behandeln sie gar nicht.

Immerhin, eines zeigten die jüngsten Wahlen auch: Immer mehr zeichnet sich wie in der amerikanischen Wahlberichterstattung ab, dass die zuverlässigsten Prognosen, Diagnosen und Analysen nicht aufgrund eines einzigen datengetriebenen Instrumentes gemacht werden, sondern aus der distanzierten Bewertung der verschiedenen Instrumente durch Wahlexperten insgesamt. Das Panel der Berner Spezialisten am Institut für Politikwissenschaft verweist in diese Richtung. Leider publizierten sie ihre Einschätzungen der Parteien vor der Wahl erst nach der Wahl. Immerhin, ich hatte kurz vor der Wahl Einblick in die Ergebnisse. Wenn ich mir ansehe, was beispielsweise Markus Freitag, seit August 2011 Professor für politische Soziologie an der Berner Uni, ablieferte, kann ich nur den Hut ziehen. Denn besser als er war niemand. Das wird man 2015 zu beachten haben!

Claude Longchamp

siehe auch meinen Artikel “Prognosen, Trends und Bestandesaufnahmen vor Wahlen”, in: Ziegler, Beatrice, Wälti, Nivole (Hg.): Wahl-Probleme der Demokratie. Schriften zur Demokratieforschung 5, Zürich 2012, pp. 61-74

Was die Parteienforschung für die Wahlanalyse zu bieten hätte.

Meine dritte Vorlesung zur Wahlforschung an der Universität Zürich beschäftigte sich mit der Parteienanalyse. Zur Sprache kamen drei sozialwissenschaftliche Ansätze mit unterschiedlicher Sichtweise. Damit schloss ich den Einstieg ins Thema ab.

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Stufen in der Entwicklung des Parteiensystems der Schweiz (1848-2011)

Konfliktlinien
Der eigentliche Klassiker der (makro)soziologischen Analyse von Parteiensystem stammt aus dem Jahre 1968, verfasst von Seymour Lispet und Stein Rokkan. Die Polity eines Landes, sprich das Parteiensystem, aber auch das Wahlrecht und die politische Kultur, sahen sie, in Europa, bestimmt durch zurückliegende Konflikt ökonomischer und kultureller Natur, entstanden während der Reformation, der französischen, bürgerlichen und russischen Revolution. Daniele Caramani hat das für das zwanzigste Jahrhundert nachgezeichnet, und er fügte die Parteiwandlungen angesichts der Totalitarismen, den postmateriellen Wertewandel und den Konflikt zwischen offener und geschlossener Gesellschaft der Gegenwart bei.
Auf die Schweiz angewandt heisst das, der Konfessionalismus durch die Glaubensspaltung prägte lange die politischen Kulturen als geschlossene Räume, die Industrialisierung polarisierte zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern und der Postmaterialismus hat neuen Lebensweisen Platz gemacht. Namentlich mit der Oeffnung der Schweiz unter den Bedingungen der Globalisierung entstand der Gegensatz zwischen modernen, aussenorientierten und traditionellen binnenorientierten Werten. Letzteres hat den Aufstieg der SVP bewirkt, der Postmaterialismus die Grüne Partei entstehen lassen. Die herkömmlichen Polarisierung zwischen Links und Rechts hat die SP der FDP gegenübergestellt, während der Gegensatz zwischen FDP und CVP weitgehend durch die Konfession bestimmt wurde.

Organisationstypen

Anders setzten die Parteienforscher Richard Katz und Peter Mair an. Sie analysierten die verschiedenen Organisationstypen der Parteien. Frühe Demokratie kannten vor allem Eliteparteien, auf in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Massen(integrations)Parteien folgten. Nach dem zweiten Weltkrieg machten sich die Volksparteien breit, deren Sammlungskraft indessen nachgelassen hat, weshalb neuen Parteitypen entstehen. Katz und Mair sprachen von Kartellparteien, die sich mit dem Staat verschmelzen, während Analytiker wie Klaus von Beyme das Hauptmerkmal auf professionalisierte Wähleransprache legte.
Mit ihren Strukturen waren CVP und FDP lange die typischen Volksparteien der Schweiz, neigen zum Typ Kartellparteien. Das trifft beschränkt auch auf die SP zu; mindestens in den 90er Jahren zeigt sich auch Ansätze einer professionalisierten Wählerpartei. Dieser Typ wird in der Schweiz am klarsten durch die neue SVP repräsentiert. Kleinere Parteien wie die GPS, die BDP und die GLP lassen sich mit dieser Typologie nicht wirklich beschreiben.
Vielleicht braucht es auch einen fünften Typ, um neue Parteien, wie sie in ganz Europa neuerdings entstehen, zu beschreiben. Die niederländischen Partei der Freiheit jedenfalls passt in keine dieser Schubladen; am ehesten sie sie aber eine (rechts)populistische Protestpartei, die anders als professionalisierte Wählerparteien von der Mobilisierung aus dem Moment heraus auf spektakuläre Wahlerfolge setzten, um Druck auf etablierte Parteien auszuüben.

Systematik der Ursachen für Wahlveränderungen
Last but not least, hat die Wahlforschung im Gefolge von Vladimir O. Key eine interesssante Systematik entwickelt, um Veränderungen im Parteiensystems, wie sie bei Wahlen zum Ausdruck zu kommen, typologisch zu erfassen. Unterschieden wird zwischen einer kritischen Wahl, bei der bisherige Wahlentscheidungen namhaft geändert werden, sei es wegen Personen oder Themen, säkularen Dekompositionen aufgrund veränderter Bedingungen des politischen Sozialisation, systemischen Aenderungen, namentlich durch Veränderungen im Wahlrecht, und parlamentarischen Veränderungen, die sich aus der Regierungsbildung ergeben.
Auch das kann man anhand der Schweiz exemplifizieren. Die grossen systemischen Veränderungen waren die Einführung des Proporzwahlrechts einerseits, des Frauenwahlrechts anderseits. Sie bleiben nicht ohne Folge für das Parteiengefüge. Säkularen Veränderungen unterworfen sind namentlich die FDP und CVP, deren Wählerschwund langanhaltend ist; ähnlich kann man auch die Mutation der Linken interpretieren, bei sich sozialdemokratische und grünen Parteien auseinander entwickelt haben. Die BDP wiederum ist die Folge der Bundesratswahlen von 2007; ihr Wahlerfolg von 2011, vor allem aber auch der der GLP kann als kritische Wahl angesehen werden. Das gilt selbstredend auch für die SVP-Erfolge zwischen 1995 und 2007.

Vorläufiges Fazit
Meine (selbstkritische) Meinung dazu ist: Die Wahlforschung in der Schweiz ist zu sehr auf einzelne Phänomene und ihre momentanten Auswirkungen auf Parteistärken ausgerichtet. Sie vernachlässigt den Wert solche übergeordneter Analysekategorien in der Wahl- und Parteienanalyse zu sehr. Das gilt indessen nicht nur für Forscher, es trifft auch auf Parteifunktionäre zu. Ihre Wahlanalysen in eigener Sache abstrahieren weitgehend vom (perspektivischen) Angeboten der sozialwissenschaftlichen Forschung.

Claude Longchamp

Konkordanz in Theorie und Praxis

Die zweite Vorlesung zur „Wahlforschung in Theorie und Praxis“ an der Uni Zürich bot Anlass, über die Eigenheiten der Konkordanz-Diskurse in Politik und Politikwissenschaft und den Reformvorschlägen, die daraus resultieren, nachzudenken.

„Ich kandidiere zur Wiederherstellung der Konkordanz“, sagte Bruno Zuppiger kurz nach seiner Nomination als Bundesratskandidat 2011. Faktisch meinte er, mit seiner Bewerbung gegen Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf antreten zu wollen. Den Rest der Geschichte kennen wir. Zuppiger musste wegen Anschuldigungen seine Kandidatur zurückziehen; der nachnominierte Hansjörg Walther wurde nicht gewählt; die SVP ist unverändert mit nur einem Sitz im Bundesrat vertreten; sie hat, vorübergehend lautstark, den „Bruch der Konkordanz durch die andern“ beklagt, um dann doch mit nur einem Vertreter im Bundesrat zu bleiben.

PolitikwissenschafterInnen, die sich wie amerikanisch-niederländische Politikwissenschafter Arend Lijphart ein Leben lang mit dem Thema „Consociationalism“ auseinander gesetzt haben, kommen zu einem ganz anderen Verständnis. Konkordanz sei eine Form der Regierungsweise in tief gespaltenen Gesellschaften, um Gewalt in der Politik zu vermeiden, Demokratie zu gewährleisten und Stabilität der Regierung zu garantieren. Ausdruck der Konkordanz seien Proporzwahlrecht für das Parlament, grosse Koalitionen für die Regierung, Minderheitenschutz und Föderalismus.
Konkordanz, könnte man es zuspitzen, bestimmt sich nicht einfach nach der personellen oder parteipolitischen Zusammensetzung der Regierung; sie ist ein Demokratiemuster, der Umstände wegen.

Eben dieses Demokratiemuster der Schweiz bestimmte Adrian Vatter, Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Bern, wie folgt:
. Erstens, grundlegend sei, dass nicht die Parteien die Interessenvermittlung dominierten, sondern den Verbänden eine zentrale Rolle in der Willensbildung zukommt; das versachliche den möglichen Parteienstreit.
. Zweitens, Machtteilung werde durch die hohe Bedeutung der Kantone im schweizerischen Politsystems nachhaltig garantiert; das relativere die Möglichkeit, zentral eine Politikrichtung vorzugeben.
. Drittens, die durchdeklinierte direkte Demokratie in der Schweiz begünstige die BürgerInnen-Partizipation auf allen Stufen; sie wirke mässigend auf politische Einseitigkeiten aus, die sie durch Volksentscheidungen korrigiere.
Mit letzterem geht typischerweise einher, dass Konkordanz auf einer Mehrparteienregierung basiere, die mehr als die knappest mögliche Mehrheit integriere. Nicht entgangen ist Vatter, dass Konkordanz heute auf kantonaler und Bundesebene unterschiedlich gut funktioniere; der Wandel weg vom Spezialfall hin zum Normalfall finde hier schnell statt als in den Kantonen, ohne jedoch schon dort angekommen zu sein.

Wenn Determinanten des politischen Systems auf Konkordanz ausgerichtet bleiben, ein zentrales Element, das Parteiensystem auf Bundesebene mit seiner Aufteilung in neue Akteure und polarisierte Parteien, jedoch in eine andere Richtung weist, stellt sich die Frage, was verändert werden muss. Ich denke, es gibt unter den hiesigen Politologen heute drei typische Antworten darauf:

. Einmal, Regierungskonkordanz bleibt zentral, sie muss aber institutionell erneuert werden, um den veränderten Bedingungen in Medien, Parlament und Regierung Rechnung zu tragen.
. Sodann, das Politsystem ist überholt und muss den neuen Entwicklungen in den Parteien entsprechend in Richtung Alternanz umgebaut werden.
. Schliesslich, die Regierung soll inskünftig alle jene Parteien umfassen, die sich langfristig an konkordanten Regeln ausrichten wollen.

Letzteres vertritt beispielsweise der Genfer Politikwissenschafter Pascal Sciarini; er spricht dabei von der kleinen Konkordanz, die funktionsfähig bleibe, auch wenn auf eine Polpartei im Bundesrat verzichtet werde. Zweiteres ist das Steckenpferd von Hanspeter Kriesi, Politologieprofessor in Zürich, demnächst in Florenz, der die SP auffordert, in die Opposition zu gehen, sich umfassend zu erneuern und so den politischen Kampf mit der erstarkten Rechten in einem veränderten System aufzunehmen. Ersteres wiederum propagierte jüngst Michael Hermann mit seinem Plädoyer für eine Revitalisierung der Konkordanz durch Elemente der Volkswahl des Bundesrates, des Schiedsgerichtes durch das Volk bei uneinigen Parlamentskammern und durch Aufwertung der Bundeskanzlei zu einem Präsidialdepartement mit besonderen Befugnissen.

Ich selber bin ja immer wieder erstaunt zu sehen, wie gut der Sog funktioniert, dass man als grosse Parteien nur in der Regierung Erfolge für die eigene Wählerschaft erzielt, selbst wenn man Probleme auf sich lädt. Denn insbesondere das Kollegialsystem wirkt nachhaltig einschränkend auf die Profilierungsmöglichkeiten einer Regierungspartei.
Konkordanz ist deshalb eine Herausforderung für politische Parteien, die dauerhaft Erfolg haben wollen, die sie nicht unterschätzen sollten. Ohne Anpassungsleistungen der Parteien an die mehr oder weniger garantierte Teilhabe an der Regierung kann das Demokratiemuster nicht überleben, das bei aller Veränderbarkeit der Schweiz durchaus angemessen bleibt.

Claude Longchamp

Was ich mit der Vorlesung zur Wahlforschung erreichen will

Die Vorlesungszeit hat begonnen: In Zürich unterrichte ich im Bachelor-Programm der Politikwissenschaft erneut Wahlforschung – in Theorie und Praxis. Hier meine Absichtserklärung.

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Ort des Geschehens: Das neue Gebäude des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Zürich

Fünf Ziele hat die Wissenschaft, will ich meinen Studierenden der Politikwissenschaft an der Universität Zürich während der Vorlesung zur Wahlforschung beibringen:

. die Beschreibung der Wirklichkeiten bei Wahlen
. die Erlärung von Ursache-/WirkungsZusammenhängen
. die theoretische Begründung von
. die Prognose von Ereignissen und
. das Handeln als Wissenschafter.

Jede dieser Zielsetzungen ist anspruchsvoll, wie mit nicht zuletzt bei der Vorbereitung wieder einmal klar geworden ist.

Denn Medien beschreiben einem, was ist, doch machen sie das nach ihrer eigenen Logik, der die Wissenschaft nicht folgen muss. Ursache- und Wirkungszusammenhänge scheinen Berater besser zu kennen als Forscher, was auf die Akteure ausstrahlt und die Aufgabe der Wissenschaft nicht erleichtert. Theorien wiederum hat die Wissenschaftsgemeinschaft entwickelt, doch stammen die meisten aus den USA – und sind durch das politische System geprägt, genauso wie in vielem amerikanischen Kultur mitschwingt. Bei den Schwierigkeiten, welche der Prognose von Ereignisse innen wohnen, muss man gar nicht so weit ausholen; die eigenen Erfahrungen reichen da. Und last but not least, wird das Handeln als Wissenschafter schnell missverstanden.

Letzteres war auch schon in den ersten Diskussionen während der Lehrveranstaltung der Fall. Das hat wohl damit zu tun, dass Politikwissenschaft – gerade während dem Studium – kontemplativ ist. Der zentrale Studienmodus ist der des Schauen, bisweilen der Beschaulichkeit. Erklärungen, die man dazu anbringt, haben überwiegend den Charakter der ex-post-Erklärung. Häufig sind die induktiver Natur, eher selten deduktiver. Vorhersagen muss man während der ganzen Ausbildung zur PolitikwissenschafterIn allermeistens nichts – und ist vielleicht genau deshalb erfolgreich.

Mir geht es, mit der Vorlesung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis, um mehr: Zum Beispiel um die rasche Vermehrung von Politologen in der Wahlpraxis.

Nicht nur, weil zahlreiche Kandidierende ein politikwissenschaftliches Studium hinter sich haben. Auch, weil PolitologInnen heute GeneralsekretärInnen von Regierungsparteien sind, in Wahlausschüssen arbeiten, die Wahlkämpfe durchziehen, in grosser Zahl in Medien darüber berichten oder als ExpertInnen für Medien arbeiten. Dafür werden sie kaum vorbereitet. Mehr noch, auch PolitikwissenschafterInnen, die sich nicht so nahe an die Aktualität wagen, handeln heute zunehmend in Anwendungsfeldern: beileibe nicht nur als PraktikantInnen in Wahlstäben amerikanischer PräsidentschaftskandidatInnen, immer mehr auch als WahlhelferInnen in neuen Demokratien, wo sie daran beteiligt sind, eine vernünftige Wahlpraxis auszubauen. Nicht zuletzt werden PolitikwissenschafterInnen, gerade auch aus der Schweiz, an vielen Orten um Rat gefragt, wie Wahlen konzipiert sein sollten, damit sie ihrer vornehmsten Aufgabe, dem friedlichen Machtwechsel gerecht werden, und nicht selber zum Anlass für Gewalt werden. Daran zu arbeiten, ist eine der anspruchsvollsten Herausforderungen, auf die man sich frühzeitig einstellen sollte.

Oder um noch deutlicher zu sagen: WahlforscherInnen, aber auch WahlexpertInnenen sollen zurecht ein politikwissenschaftlichen Studium machen können, dass nicht ideologisch geformt ist, indem nicht nur die Aktualität den Takt angibt. Meines Erachtens braucht es indessen keine Hyper-Spezialisten, die theoretisch alles kennen, von der Praxis aber keine Ahnung haben, die fast alles wissen, aber über fast nichts. Nebst dem Können in der Forschung geht es mir auch um Fragen der Relevanz von wissenschaftlichem Wissen, das sich nicht scheut, bisweilen mitten im Geschehen zu stehen, ohne zu glauben, man sei bloss Techniker und ohne zu meinen, man sei der Guru, indes, wie es Jürgen Habermas formulierte, ihren eigenen Diskurs im Dialog mit der Politik führen, wobei Ziel und Mittel des politischen Handelns zum Vorteil beider Seiten aktiv verhandelt werden.

Claude Longchamp

Auf nach Zürich!

Wahlforschung in Theorie und Praxis – heisst meine Lehrveranstaltung im kommenden Frühlingssemester an der Universität Zürich. Eine erster Einblick.

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Politikwissenschaft für den Wahltag: 12 Stunden-Live-Einsatz im Wahlstudio des Schweizer Fernsehens – und was davon für die Wissenschaft bleibt.

Wahlforschung ist interdisziplinär: Zuerst interessierten sich die Juristen für das Wahlrecht, dann die Statistiker für die Wahlergebnisse. Geografen vermassen die Resultate in den Regionen und Historiker berichteten über ihren Wandel in der Zeit. Seit dem Zweiten Weltkrieg hat die sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit Wahlen zugenommen: Institutionellen Fragen, das Wahlverhalten, die Einflüsse aus Wirtschaft, Gesellschaft und Medien haben an Bedeutung gewonnen, und sie bedingen, Wahlen unter verschiedenen Perspektiven zu betrachten.

Im Frühlingssemester unterrichte ich Wahlforschung an der Universität Zürich. Die Vorlesung wird vom Institut für Politikwissenschaft im Rahmen des sozialwissenschaftlichen Bachelor-Studiums angeboten. Die Besonderheit meines Kurses: Er soll in Theorie und Praxis einführen, also nicht nur ökonomische und sozialpsychologische Verhaltensmodelle lehren, das Wirken der Parteien und Medien vorstellen und die Auswirkungen des sozialen und politischen Wandels auf die Ergebnisse diskutieren, nein, er wird auch über Projekte der Wahlberichterstattung, Lücken der Forschung und die Rolle der PolitologInnen in der Mediendemokratie berichten.

Der zentrale Gegenstand könnte aktueller nicht sein; ich werde vorwiegend Beispiele aus dem Wahljahr 2011 nehmen: Die Nationalrats- resp. Ständeratswahlen, die Bundesratswahlen, aber auch die kantonalen Wahlen sollen zur Sprache kommen.

Detailliert habe ich die Veranstaltung noch nicht geplant. Sie entsteht gegenwärtig in “meinem Bauch” – auch als Verarbeitung von Ergebnissen, Analysen, Eindrücken aus dem auslaufenden Jahr. Viel Material hat sich in meinem Büro gesammelt, das ich dieser Tage sortiert, bewertet, weggeworfen oder abgelegt habe. Jetzt muss ich Gefühle, Wissen und Können nur noch in grossen Ganzes bringen. Hier schon mal die Disposition:

1. Vorlesung: Einführung zur Wahlforschung in Theorie und Praxis
2. Mikro-Theorie (I): Das einfache ökonomische Verhaltensmodell
3. Mikro-Theorie (II): Parteibindung, Themen- und Kandidatenorientierung
4. Makro-Theorie (I): Historische Konfliklinien und das Parteiensystem der Schweiz
4. Makro-Theorie (II): postmaterialistischer und nationalkonservativer Wertewandel als neue Konfliktlinien im Parteiensystem der Schweiz
5. Politische Mobilisierung und Wahlbeteiligung
6. Wahlen und Wahlkämpfe in der Mediengesellschaft von heute: zwischen Aufklärung und Propaganda
7. Wahlen und Wahlrecht in der Schweiz
8. Wahlprognosen im Vergleich
9. Modellhafte Analyse der Nationalratswahlen
10. Modellhafte Analyse der Ständeratswahlen
11. Wahlen im Konkordanzsystem: Analyse der Bundesratswahlen 2011
12. PolitologInnen im Wahlgeschehen 2011

In Gedanken mache ich mich auf nach Zürich!

Claude Longchamp

Die neuen Erfolgsfaktoren bei Ständeratswahlen

“Volatilität” ist das Zauberwort der Wahlanalyse, wenn sie das Mass der parteipolitischen Veränderungen von Wahl zu Wahl beurteilen müssen. Für die Wahl 2011 gilt: Nie in der jüngeren Wahlgeschichte gab es so viele Aenderungen wie diesmal. Und zwar im National- wie auch im Ständerat.

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Die Volatilität ist eine Masszahl, um die absolute parteipolitische Veränderung von Sitzen von einer Wahl zur anderen zu beurteilen.

Nun wissen wir es: Nie wurde der Ständerat so umgekrempelt wie aktuell. Der Volatilitätsindex für die parteipolitischen Veränderungen erreichte den bisherigen Höchstwert. Der Ständerat rückte demnach nicht nur nach links, es veränderte sich auch seine Zusammensetzung. Besser als Bilanzen von Sitzverschiebungen, die Veränderungen in die eine mit denjenigen in die andere verrechnen, eignet sich der Volatilitätsindex die Bruottoverschiebungen zu beurteilen. Er ist damit ein Mass für die Stabilität resp. Labilität der parteipolitischen Zusammensetzung.

Uebertragen auf die individuelle Ebene der gewählten spricht man eher von Fluktuation. Dies ergibt sich aus den Rücktritten und Abwahlen. Sie kann analysiert werden, um die alten und neuen Erfolgsfaktoren abzuleiten, wie man StandesvertreterIn wird. Hier eine erste Uebersicht:

Zunächst trifft zu, dass das “Bisher” eine starke Empfehlung bleibt. Unfreiwillig ausgeschieden sind Bruno Frick von der CVP Schwyz und Adrian Amstutz aus den Berner SVP-Reihen. Etwas abgeschwächt gilt sodann, dass die KandidatInnen aus der Partei des bisherigen Sitzinhabers einen Vorteil haben. Das missriet der FDP in Schaffhausen, und es gelang der SVP der (erzwungene) Personalwechsel im Aargau nicht. In St. Gallen konnte die CVP mit dem Kandidaten, der erst im zweiten Wahlgang antrat, nicht halten.

Quereinsteiger wie Thomas Minder bleiben im Ständerat die Ausnahme. Erfolgversprechend ist es, das Mandat als Höhepunkt einer politischen Karriere anzustreben. Praxiserfahrung einerseits, Bekanntheit anderseits zählen. Dazu zählen, dass man bereits politische Aemter inne haben mussten; förderlich ist auch eine regelmässige, anhaltende Medienpräsenz.

Aus dem Profil der Neugewählten kann man schliesslich folgern, dass ehemalige und bestehende RegierungsrätInnen (Eberle/TG, Keller-Sutter/SG) gute Chancen haben, diese Aussage selbst auf Stadtpräsidenten (Stöckli/BE) ausgeweitet werden kann. Es gibt auch einen Trend gibt, dass PolitikerInnen, die sich als RatspräsidentInnen (Bruderer/AG) einen Namen gemacht haben (2003 Egerszegi, 2011 Bruderer), den Sprung ins Stöckli schaffen. Hingegen ist die Qualifikation “Nationalrat/Nationalrätin” nicht hinreichend, um in den Ständerat gewählt zu werden. Das hat auch damit zu tun, dass zahlreiche von ihnen die Doppelkandidatur anstrebten, nicht zuletzt um den Sitz in der grossen Kammer zu sichern; das Ständeratsergebnis war ihnen sekundär.

Die Erfolgskriterien im ersten und zweiten Wahlgang sind unterschiedlich: In der ersten Runde spielt die Stärke der eigenen Partei als Hausmacht eine wachsende Rolle, im zweiten ist die Fähigkeit der Kandidatur massgeblich, über Parteigrenzen hinweg Positiv- oder Negativ-Allianzen eingehen zu können. Letzteres gelingt der SP immer besser, derweil die SVP gerade hier ein Problem hat. Die bisher wichtige Unterscheidung zwischen Erfolgsfaktoren in der Romandie und in der Deuschschweiz ist eher geringer geworden; dafür gibt es zunehmend divergente Entwicklungen in urbanen und ruralen Kantonen. So sind in Zürich zwei Standesvertreter aus mittelgrossen Parteien erfolgreich gewesen, die breite Ausstrahlung als (mediatisierte) Personen hatten, während der Kanton Schwyz neu gleich zwei SVP-Standesherren nach Bern schickt.

Claude Longchamp

Ständeratswahlen: Börsianer erwarten Links-Rutsch

Erst in zwei Wochen wird der Ständerat komplett sein. Jetzt schon zeichnen sich auf Wahlbörse die Favoriten für die im ersten Wahlgang offen geblieben Sitze ab. Das spricht für einen Linksrutsch im Ständerat.

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Wir der Ständerat neu von einer Mehrheit von CVP und SP geführt? – Das wenigstens suggeriert eine Uebersicht über die Wahlbörsen in den Kantonen mit anstehenden zweiten Wahlgängen.

Ginge es nur das der Wahlbörse, verteilten sich die noch offenen 11 Sitze für den Ständerat wie folgt.

Noch 2 Sitze zu vergeben:

BE: Luginbühl (BDP, bisher), Stöckli (SP, neu)
TI: Lombardi (CVP, bisher), Cavalli (SP, neu)
ZH: Diener (GLP, bisher), Gutzwiller (FDP, bisher)

Noch 1 Sitz zu vergeben:

AG: Egerszegi (FDP, bisher)
SO: Bischof (CVP, neu)
SG: Rechsteiner (SP, neu)
SZ: Frick (CVP, bisher)
UR: Stadler (GLP, bisher)

Damit würde die SP noch drei Sitz (BE, TI, SG) machen gewinnen, während die FDP (TI, SO) zwei, die SVP (AG) einen verlieren würde.

Die CVP käme in der Endabrechnung auf 14 Sitze (-1), die SP auf 12 (+3), die FDP auf 10 (-2), während die SVP bei 4 (-2) stehen bliebe, vor GPS und GLP mit je 2 und BDP resp. (vorläufig) Parteilose mit je 1 Mandat (je 1 plus). Eigentliche Wahlsiegerin wäre die SP, die neu mit der CVP zusammen im Stöckli eine Mehrheit bilden könnte, ohne auf Stimmen der kleinen Parteien angewiesen zu sein.

Sicher, einige der Tipps sind überraschend, so der zum Kanton St. Gallen, wonach der Präsident des Gewerkschaftsbundes, Paul Rechtsteiner, den Chef der SVP Schweiz, Toni Brunner, bezwingen würde. Recht kanpp sind die Verhältnisse insbesondere in den Kantonen Tessin, wohl aber auch Bern. In beiden Fällen könnte der prognostizierte Sitz von links nach rechts wandern.

Nimmt man die jetzige Vorhersage zum vorläufigen Massstab, hätte das Ergebnis der Ständeratswahlen Konsequenzen: Denn die SVP kame neu auf 58 Sitze, genau gleich viele wie die SP. An dritter Stelle läge die CVP/EVP, gefolgt von der FDP. Wegen den Gewinnen der SP und der Abspaltung der GLP von der Zentrumsfraktion würden diese die Plätze tauschen, ja, die SP wäre gleich auf mit der SVP. Selbst wenn sich die BDP der CVP/EVP-Fraktion anschliessen würde, kam man in der Mitte auf 54 Sitze und würde man auf dem dritten Rang bleiben, allerdings sehr klar vor den FDP.Liberalen. Das wäre mit Blick auf die anstehende Bundesratswahl nicht ohne!

Wie gesagt: Das sind die Ergebnisse, welche die Wahlbörse gegenwärtig suggeriert. Ganz sicher sind sich selbst die Börsianer nicht. Stellt man nämlich nicht auf ihre kantonalen Wetten ab, sondern auf die nationale zu allen Ständeratswahlen 2011, resultiert ein leicht differenter Ausgang. Die Verluste für die FDP wären noch etwas grösser, jene für die SVP etwa kleiner und die SP würde weniger gewinnen. Allerdings halte ich das eher für eine Schwäche der Wahlbörsen, denn die direkte Schätzung des Ausgangs der Ständeratswahlen ist selber für ExpertInnen ausgesprochen schwieriger. Etwas zuverlässiger sind das die Annahmen pro Kanton.

Claude Longchamp

Was die BernerInnen bei den Ständeratswahlen in zweiter Linie wählten

Eine Spezialauswertung der Stimmzettel im Kanton Bern zeigt, was die Wählenden von Amstutz, Luginbühl, Stöckli, von Graffenried und Wasserfallen auf die zweite Linie schrieben. Das hilft, Präferenzen im 1. Wahlgang verbessert einzuschätzen.

Zuerst will ich den Kanton Waadt loben. Bei den Nationalratswahlen kam er wegen der Verzögerungen beim Auszählen schlecht weg. Bei den Ständeratswahlen war der Wahlservice aber super. Das hat mit dem Wahlrecht zu tun. Die WaadländerInnen wählen bei den Ständeratswahlen mit Parteilisten. Alle grossen Parteien haben eine solche. Beim zweiten Wahlgang empfahlen die SP und GPS auf der einen, die FDP.Liberalen und SVP auf der anderen Seite je ein Doppelpack an Bewerbungen. Aus der Wahlstatistik kann man nun ableiten, wieviele Stimmen jede Parteiliste machte und wer von den Vorgeschlagenen bestätigt resp. gestrichen oder ersetzt worden ist.

Abfluss der Zweitstimmen nach Erststimme im 1. Wahlgang bei den Berner Ständeratswahlen
zweistimme
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Im Kanton Bern beispielsweise, wo ein anderes Wahlrecht für Ständeratswahlen gilt, weiss man das alles nicht. Wie die ParteigängerInnen im ersten Umgang gewählt haben, würde man nur mit aufwendigen Umfragen herauskriegen. Wie die Zweitlinie ausgefüllt worden ist, kann man durch Auszählen der Bulletins ersehen. – Leider machen die Wahlbüros das nicht automatisch. Zwei Studenten der Politikwissenschaft an der Uni Bern, Samuel Kullmann und Philipp Koch, haben sich die Mühe genommen, in zehn gut ausgewählten Gemeinden je eine Stichprobe der abgegebenen Zettel zu ziehen und diese auswerten.

Was sind ihre Schlüsse? –

Die Wählenden von Amstutz votierten zu 31 Prozent für Luginbühl, zu 12 Prozent für Wasserfallen und zu 41 Prozent für niemanden sonst.
Wer zuerst für Luginbühl gewählt hatte, schrieb auf der zweiten Linie am häufigsten Wasserfallen (25%) auf, dann Stöckli (22%); der GPS-Kandidat von Graffenried kam auf 12 Prozent. 14 Prozent gaben keine Zweitstimme ab. Oder anders gesagt: Die BDP-nahen Luginbühl-Wählenden waren auf viele Seite offen.
Die Wählenden von Wasserfallen tendierten zu 42 Prozent zu Luginbühl, zu 14 Prozent zu Amstutz und zu 12 Prozent von Graffenried. 19 Prozent liessen die zweite Zeile leer.
Stöcklis WählerInnen aus derm ersten Wahlgang gaben zu 69 Prozent ihre Stimme von Graffenriede, zu 10 Prozent Luginbühl.
Aehnlich strukturiert waren auch die Wählenden von von Graffenried. Sie votierten zu 65 Prozent auch für Stöckli, zu 15 Prozent auf für Luginbühl.

Alle anderen KandidatInnen machten nur wenige Stimmen auf den Wahlzetteln der Grossen.

Die vorliegende Analyse zeigt, dass die Amstutz-Wählenden am stärksten nur aus Ueberzeugung votiert haben. Fast die Hälfte schrieb, ausser ihrem Favorit, keine weitere Kandidatur auf den Wahlzettel, um die Wahlchancen von Amstutz zu optimieren. Nirgends war dieses Denken so verbreitet wie bei den Wählenden des SVP-Standesherren.
Die Kandidatur von Christian Wasserfallen aus den FDP-Reihen verzettelte die bürgerlichen Stimmen offensichtlich. Der Grund liegt in der Abneigung seiner AnhängerInnen gegenüber Amstutz. Die Wasserfallen-Wählenden hatten eine klare Präferenz für den BDP-Kandidaten, nicht aber für jenen der SVP. Am zweitmeisten Stimmen machte hier der grüne Bewerber Alec von Graffenried.
Ganz anders verhielt sich das linke Lager. Es hielt insgesamt gut zusammen. Stöckli-Wählende notierten fleissig von Graffenried, und dessen Supporter votierten ebenso häufig für Stöckli.

Die neuen Ergebnisse präzisieren den Befund, den letzte Woche der “Bund” aufgrund der gleichen Methode, indes nur in einer (unbekannt gebliebenen) Gemeinde ermittelt hatte. Sie decken sich weitgehend mit den Erkenntnissen aus der Studie zum ersten Wahlgang bei den Zürcher Ständeratswahlen. Auch da zeigte sich, dass die SVP-Wählerschaft zwischen Eigenständigkeit und Isolation votierte, moderat bürgerliche Wählende eher zu den grünen als sozialdemokratischen Bewerbungen tendierten, und die rotgrünen Wählenden unter sich Stimmen tauschten. In Zürich wirkte sich das Etikett “Bisherige” stärker aus als in Bern, wo sie zwar auch an der Spitze der Nicht-Gewählten stehen, ihre Abstützung aber nicht so breit ist wie in Zürich.

Schlussfolgerungen auf den zweiten Wahlgang sind nicht direkt möglich; dafür fehlt die Sicherheit mit entsprechenden Ergebnissen. Reevaluierungen werden zeigen, was effektiv spielte. Vorerst bleibt dies Spekulation. Namentlich kann man aus solchen Präferenzanalysen nicht eindeutig ableiten, wie die Mobilisierung im zweiten Umfang sein wird. Ist sie überall gleich anders, ist das egal. Wenn aber beispielsweise das Land besser mobilisiert als die Stadt, hat das Auswirkungen auf das Wahlergebnis. Es kommt hinzu, dass im ersten Wahlgang mehr die Positionierung der bevorzugten Kandidatur wichtig war, das Taktieren namentlich auf der zweiten Zeile erst danach einsetzt. Im Kanton Bern relevant ist, die bekannte Teilung der Präferenzordnungen zwischen Stadt/Land, aber auch, was die FDP-Wählerschaft macht und was im Berner Jura geschieht. Und: wer im ersten Wahlgang eine Linie leer liess, hat im zweiten Umgang am meisten Spielraum!

Claude Longchamp

Wenn Wählende und Stimmen nicht das Gleiche sind

Man glaubt, schon alles zu wissen, zu den Wähleranteilen der Parteien nach den Nationalratswahlen. Das meiste davon ist Täuschung, behaupte ich. Denn gezählt werden Parteistimmen, nicht Wählende.

Von Aussen gesehen steht das vorläufig amtliche Endergebnis fest: Beispielsweise kam die SVP bei den Nationalratswahlen 2011 auf einen Wählenden-Anteil von 26.6 Prozent. Das entsprach einem Wählendenverlust von 2.3 Prozentpunkten.

Tabelle: Stimmenanteile der Parteien 2011 unter den Partei- und Mischwählenden

wahlen2011
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Doch hoppla, wer genau hinsieht, merkt dass das Bild falsch ist. Die (vorläuifg) amtlichen Endergebnisse der Schweizer Parlamentswahlen nach Proporzverfahren weisen Stimmentanteile, nicht Prozentwerte der Wählendenm, aus.

In Einerwahlkreise ist dies das gleiche. Doch schon in Zweierwahlkreise und in allen grösseren Wahlbezirken muss das nicht der Fall sein. Identisch wäre es hier nur, wenn nicht panaschiert würde, das heisst nicht für parteifremde KandidatInnen gestimmt würde.

Doch das ist bei rund der Hälfte der Wählenden der Fall. Sie Wählen mit der Liste X, und sei schreiben Bewerbungen aus der Liste Y auf. Oder sie wählen mit gar keiner Parteiliste, verteilen ihre Stimmen auf Personen verschiedenster Listen.

Erst wenn die gesamten Panaschierstatistiken des Bundesamtes für Statistik veröffentlicht sein werden, wird man das genauer kennen. Heute schon können wir dies aber aufgrund der Wahltagsbefragung unseres Instituts abschätzen.

Demnach hat die SVP rund 17 Prozent Wählende, die einzig die SVP gewählt haben. Das sind die strammen Parteiwählenden. Die SVP bekam von einem weiter nicht genau bekannten Wählendenkreis zusätzlich rund 10 Prozent an Parteistimmen. Am ehesten waren das, gemäss Wahltagsbefragung, bei mehrheitlich FDP-Wählenden, gefolgt von solchen der CVP oder der SP.

Die SVP ist damit die Partei, die nicht nur den grössten Stock an Wählenden hat, die nur für ihre Partei gestimmt haben. Sie ist auch jene Partei, bei der dieser Stock, bezogen auf alle erhaltenen Stimmen, der grösste ist. 64 Prozent Prozent an allen Stimmen machen die Parteiwählenden aus, 36 Prozent stammen von Mischwählenden.

Das pure Gegenteil findet sich bei der CVP. Sie machte gemäss vorläufig amtlichem Endergebnis 12,3 Prozent der Stimmen. Reine CVP-Wählende machen nach Wahltagsbefragung knapp 6 Prozent der Wählenden aus. Den Rest der Stimmen macht die Partei vor allem bei mehrheitlichen FDP-Wählenden, gefolgt von SP-Wählenden. Die MIschwählenden ergeben 55 Prozent der schliesslichen Parteistimmen. Die nachstehende Tabelle komplettiert das Bild.

Es ist nicht meine Absicht zu verwirren. Doch geht es mir darum, die vereinfachenden Begriffe, wie beispielsweise der Wählenden-Anteil, zu hinterfragen. Wie viele Wählende mindestens eine Stimme der BDP gegeben haben, wissen wir nämlich nicht genau. Wir wissen nur, was der Stimmenteil der Partei ist, und wir können abschätzen, was die Partei- und die Mischwählenden dazu beigetragen haben.

Claude Longchamp