Was Oesterreich aus der Beteiligung bei Sachabstimmung in der Schweiz lernen kann

Oesterreich stimmt an diesem Wochenende ab. Nebst dem Ausgang in der Sache, der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht, interessiert die Beteiligung. Gerechnet wird mit einer Teilnahmequote leicht über 40 Prozent. Was weiss man dazu aus Schweizer Sicht?

Die mittlere Stimmbeteiligung bei eidgenössischen Volksabstimmungen liegt gegenwärtig bei 43-44 Prozent. Sie ist damit tiefer als die Wahlbeteiligung der letzten 10 Jahren. Wahlen, die seltener stattfinden, für die Parteien entscheidend sind, mobilisieren generell mehr BürgerInnen als Sachentscheidungen von unterschiedlichem Stellenwert.

Diskussionen zur Stimmbeteiligung haben in der Schweiz stark nachgelassen. In den 70er Jahren sank die Stimmbeteiligung, und manche interpretierten das als Folge des spät eingeführten Frauenstimmrechts. Vordergründig war das nicht falsch, denn die politische Partizipation der Frauen ist etwas weniger ausgeprägt als die der Männer. Hintergründig ist das aber keine gute Erklärung: Weder für die Höhe, denn die wird in erster Linie durch die Schulbildung bestimmt, denn es gilt, je höher diese ist, desto eher kommt es zu Stimm- und Wahlbeteiligung und der mittlere Schulabschluss ist bei Frauen etwas tiefer als bei Männer; noch für den Trend, denn nach 1971 entwickelte sich auch die Stimmbeteiligung der Männer zurück. Mit der Repolitisierung der Schweiz angesichts der EU- und Ausländerfragen sind diese Trends in den 90er Jahren allerdings weitgehend gestoppt worden. Die mittlere Stimmbeteiligung ist seither wieder steigend und hat sich zwischen 40 und 45 Prozent eingependelt.

Wichtiger als die rein quantitativen Aspekte der Stimmbeteiligung sind die qualitativen. Die Forschung konnte ausführlich belegen, dass zwischen generellem politischen Interesse, Informiertheit bei Sachentscheidungen und Beteiligung ein relevanter Zusammenhang besteht. Mit anderen Worten: Wer sich in der Schweiz an Sachabstimmungen beteiligt, ist besser informiert als Abwesende, und dies erfolgt auf einem vergleichsweise höheren politischen Interesse. Damit reguliert die Politisierung die Meinungsbildung in erheblichem Masse und diese bestimmt die Beteiligung massgeblich. Auf die Qualität der Entscheidung hat dieser Mechanismus nur Vorteile.

Entsprechend verzichtet die Schweiz heute weitestgehend aus Zwangsmassnahmen wie Bussen oder Anreize wie Vorteile für BürgerInnen, die sich beteiligen. Strafen wären kaum mehr durchsetzbar, und die Absicht, politische Beteiligung mit ökonomischen Privilegien heben zu können, hat kaum Wirkungen gezeigt. Vorteilhaft auf die Stimmbeteiligung wirkt sich dagegen die Einfachheit der Stimmabgabe aus. Der Uebergang vom Urnen- zum Postgang hat die Beteiligung etwas erhöht, denn es ist für die meisten einfacher, in den letzten 20 Tagen vor dem Abstimmungssonntag ihre Stimme brieflich abzugeben, als sich zu bestimmten Urnenöffnungszeiten zu amtlichen Stellen zu gehen. Die Erfahrungen mit der e-voting sind noch zu gering, um gesicherte Aussagen machen zu können, ob auch diese Neuerung zur Steigerung der Stimmbeteiligung beitragen wird.

Ueberhaupt, man muss Abschied nehmen von der Vorstellung, es würden sich immer die gleichen BürgerInnen bei Volksabstimmungen beteiligen. In viel höherem Masse als bei Wahlen variiert die individuelle Stimmbeteiligung von den Umständen wie dem Thema der Vorlage, der medialen Thematisierung während des Abstimmungskampfes, aber auch der Politisierung in den Wochen vor der Abstimmung. Schliesslich trägt auch die Spannung über den Ausgang einer Sachentscheidung zur Mobilisierung des Elektorates etwas bei.

Das hat mit folgender Verhaltensdisposition zu tun: Rund ein Viertel der Stimmberechtigten beteiligt sich auf eidgenössischer Ebene immer, sprich unabhängig von den Entscheidungsgegenständen. Rund die Hälfte macht ihre Teilnehme genau davon abhängig. Knapp ein Viertel nimmt nie teil. Entsprechend variiert die Stimmbeteiligung von Abstimmungstag zu Abstimmungstag massiv. Bei der EWR-Entscheidung im Jahre 1992 gab es mit 79 die höchste Stimmbeteiligung seit Einführung des Frauenstimmrechts. Die tiefste lag, im Jahre 1972 bei 26 Prozent.

Die geringsten Beteiligungswerte resultieren immer dann, wenn man über Vorlagen abstimmt, die wenig Betroffenheit auslösen und das spezifische Interesse an der Entscheidung gering bleibt. Das potenziert sich, wenn über nur eine Vorlage abgestimmt wird. Wird gleichzeitig über mehrere entschieden, steigt die Beteiligung im Mittel an, denn es summieren sich verschiedene spezifische Teilnahmegründe. Allerdings, gleichzeitig steigen die materiellen Anforderungen an die BürgerInnen, was die Teilnahme wiederum erschwert, sodass sich die Effekte bei 4-5 gleichzeitigen Entscheidungen wechselseitig aufheben. Kampagnen der Komitees erhöhen die Beteiligungsabsicht mit näher rückendem Abstimmungstermin. Meist stellt sich eine ungefähre Beteiligungshöhe mit Beginn des Abstimmungskampfes ein; eine zusätzliche Mobilisierung in den letzten 4 bis 6 Wochen von 5-10 Prozent ist die Regel.

Die politischen Dispositionen des Elektorates ändern sich qualitativ nicht wesentlich, wenn die Beteiligung zwischen 30 und 50 Prozent schwankt. ParteisympathisantInnen bilden die Mehrheit die teilnimmt, und die Polarisierung vor einer Entscheidung führt in der Regel zu eine vermehrten Mobilisierung auf linker wie auf rechter Seite. Beteiligungen von mehr 50 Prozent sind eher selten und meist nur mit populistischen Kampagnen erreichbar, was den Anteil misstrauischer BürgerInnen unter den Stimmenden überproportional ansteigen lässt. Die Behörden haben das längst begriffen: Die Forderung, Abstimmungen nur gelten zu lassen, wenn sich mindestens die Hälfte beteiligt, wurde in den frühen 90er Jahren zu letzten Mal erhoben. Denn zwischenzeitlich haben die meisten PolitikerInnen, die etwas realisieren wollen, verstanden, dass bei hoher Beteiligung das Misstrauen unter den EntscheiderInnen steigt. Würden sich in der Schweiz alle Berechtigten beteiligen, wäre das Politisieren erschwert: Die Steuern würden drastisch gesenkt, die Armee würde womöglich abgeschafft und Tempo-Limiten auf Autobahnen würden nur noch stören. Generell trägt die mittlere Stimmbeteiligung in der Schweiz zur Mässigung bei.

Stärker noch als die Wahlbeteiligung hat sich die Stimmbeteiligung in der Schweiz im Empfinden der Bürgerschaft von der Pflicht zum Recht einer etwas wechselhaft politisch interessierten Bürgerschaft entwickelt: Vorstellungen des Verhaltens eines guten Bürgers sind namentlich in nachrückenden Generationen stark rückläufig, derweil die Beteiligung aus Interesse wichtiger wird. Dank gezielter Massnahmen beispielsweise zur Hebung des politischen Bewusstseins von Frauen konnten die Unterschiede zwischen den Geschlechtern verringert werden. Heute kennen wir Abstimmung mit ausgeglichener Beteiligung. Bis jetzt ist dies bezüglich des Alters nicht gelungen. Nach wie vor werden politischen Entscheidung in der Schweiz durch BürgerInnen zwischen 50 und 75 Jahren bestimmt, während namentlich jüngeren vermehrt fern bleiben.

Mein grösste Spannung im Vergleich der Stimmbeteiligung in Oesterreich und der Schweiz ist denn auch hier: Ist die Teilnahme der jüngeren Generationen in unserem Nachbarland bei jüngeren Menschen grösser, weil sie den Wandel der Partizipationsmöglichkeiten mehr wollen als die älteren, während dies in etablierten Direktdemokratien kein vergleichbar starkes Bedürfnis mehr zu sein scheint?

Claude Longchamp

Abstimmungsforschung in der Schweiz und in Deutschland im Vergleich

Bereits zum zweiten Mal traf sich der VOX-Beirat, eingeladen von gfs.bern und unterstützt von der Universität Bern, um ausführlich über sich zum Stand der Abstimmungsforschung zu unterhalten. 2012 ging es um den Vergleich der Analysen, wie sie in der Schweiz seit langem und in Deutschland seit kürzerem gemacht werden. Hier eine Auswahl wichtiger Standpunkte.

Exemplarische Ursachen des Meinungswandelns in Abstimmungskämpfen
Am ersten Tag berichteten die Schweizer Kollegen. Ausgewählt wurden Arbeiten, die Vor- und Nachanalysen von Volksabstimmungen kombinieren. Thomas Milic, Oberassistent an den Universitäten Zürich resp. Bern und VOX-Autor, beschäftigte sich mit dem häufig festgestellten Meinungswandel während Abstimmungskämpfen. Zur Erklärung setzte er auf den denkbaren Zusammenhang zwischen Mitteleinsatz in Kampagnen und der Meinugnsveränderung, wie er seit 30 Jahren diskutiert wird. Neu berücksichtigte er selber erhobene Informationen bei den Volksentscheidungen über die Zweitwohnungsinitiative einerseits, den Schutz vor Passivrauchen anderseits. Im Abstimmungsvergleich klassierte er beide Abstimmungskämpfe als unterdurchschnittlich intensiv. Im ersten Fall resultierte kein Mehrheitenwechsel; der Ja-Anteil verrringerte sich aber. Ganz anders verhielt es sich beim zweiten Beispiel, wo die Ja-Werte um exemplarische 24 Prozent zurück gingen, und die Vorlage schliesslich scheiterte. Ein Grund hierfür ortete Milic darin, dass die parteipolitische Polarisierung beim Passivraucherschutz (mit unter wegen parteiabweichenden Stellungnahmen) misslang, sodass die Initiativ-Unterstützung ausnahmeslos in allen Parteianhängerschaften mit der Dauer des Abstimmungskampfes zurückging. Genau das war bei der Zweitwohnungsinitiative anders, denn bei der SP wuchs die Zustimmung, genauso wie bei den Parteiungebundenen, während sie einzig bei der CVP, nicht aber bei SVP und FDP nachliess. Ein zweiter Grund findet sich bei den Argumenten: Jene der Ja-Seite waren bei der Zweitwohnungsinitiative deutlich populärer als jene des entgegengesetzten Lagers, während beim Passivrauchen auch die Nein-Argumente von Beginn weg mehrheitsfähig waren. Schliesslich zeigte auch die Propaganda-Analyse Unterschiede: So konzentrierte sich die Nein-Seite zum Passivrauchen auf die Radikalität der Initiative und übertraf damit die Intensität der Ja-Botschaft, Rauchverbote seien die beste Prävention gegen Lungenkrebs.

Inkonsistenzen in der Stimmabgabe
Alessandro Nai, Oberassistent an der Universität Genf und gleichfalls VOX-Autor, behandelte das Thema der Entscheidungsambivalenz. Zum Vorschein kommt sie beispielsweise dadruch, dass die Argumente beider Seiten mehrheitsfähig sind. Logisch gesehen bedeutet dies, dass es mehr oder minder viele Stimmberechtigte gibt, die sich nicht eindeutige positionieren können und im Abstimmungskampf zwischen den Botschaften beider Seiten abwägen. Im Gegensatz zu andere Untersuchungen interessierte er sich vor allem für Inkonsistenzen in der Stimmabgabe, die gemäss seiner Definition dann vorliege, wenn man anders stimmt, als es die systeamtische Argumentenbewertung erwarten lässt. Er konnte zeigen, dass bei der Staatsvertragsinitiative die Inkonsistenz während des Abstimmungskampfes einzig bei den Parteiungebundenen zunahm, während sie sich bei den Lagerwählern links, in der Mitte und rechts (erwartungsgemäss) zurückging. Bei der Entscheidung zum Zweitwohnungsbau war dies nicht im vergleichbaren Masse der Fall. Insbesondere im rechten Lager vergrösserte sich die Inkonsistenz, indem man, trotz kritischer Bewertung der Argumente, gegen den Schluss vermehrt zustimmte. Die Gründe hierfür vermutet derr Autor in der Rechtsform, dem Thema und der Kampagnenart begründet.

Schweiz als Referenz in einem globalen Prozess
In seinem Abendreferat öffnete Bruno Kaufmann, Präsident iri-europe, die Perspektive von der Schweiz auf den Globus, beschäftigte er sich doch mit der Ausbreitung der direkten Demokratie. Was in der Schweiz seinen Ursprung hatte, findet weltweit Beachtung, sei es auf der rechtlichen, aber auch auf der praktischen Ebene, wie beispielsweise die jüngste Tagung für moderne direkte Demokratie in Montevideo (Uruguay) gezeigt habe. Die Schweiz bezeichnete er weder als Sonderfall, noch als Vorbild. Vielmehr sei sie eine wichtige Referenz. Direkte Demokratie werde dabei mehr und mehr als Bestandteil einer wirklich repräsentativen Demokratie gesehen, die verbessert werde, wenn sie auf unterschiedlichen Artikulationskanälen basiere. Zentral sei, dass beide Form bürgerInnen-freundlich ausgestaltet werden, um eindeutige Entscheidungen zu produzieren.

Stuttgart21: Wut und Aerger dank Volksabstimmung rückläufig

Der zweite Verhandlungstag war Volksabstimmungen in Deutschland gewidmet. Thorsten Faas, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Mainz, berichtete über die Entscheidung zur Stuttgart’21, während Harald Schoen, in Bamberg lehrend, zum Nichtraucherschutz in Bayern referierte. Gleich zu Beginn hielt Faas fest, die Entscheidung in Baden-Württemberg sei ein eigentliches Plebiszit gewesen, mit der Absicht, in einer verfahrenen Situation eine verbindliche Entscheidung zu erhalten. Das war denn mit der Annahme des Bahnhofsumbaus auch geschehen. Die Beteiligung, geringer als bei der letzten Landtagswahl, sei in erster Linie durch das vorlagenspezifische Interesse geprägt gewesen, während bei Wahlen das allgemeine politische Interesse von Belang sei. Das habe auch positive Effekte gehabt, indem beispielsweise der Anteil Stimmberechtigter, der entgegen der seiner Präferenz stimmen wollte, mit unter den Stimmenden mit der Zeit zurückgegangen sei. Erreicht worden sei so eine breite Legitimierung, sowohl bei Befürwortern wie Gegnern; zudem seien Wut und Aerger, eigentliche Auslöser der Protestbewegung, mit Dauer der Kampagne zurückgegangen. Zu einer Annäherung der beiden Lager sei es aber nicht gekommen, vor allem wegen des Verdachts, es seien seites der Befürworter relevante Informationen zurückgehalten worden.

Nichtraucherschutz in Bayern: Standpunkte, Unwissen und Beteiligung nicht neutral verteilt

Die Selektivität der Beteiligung stand auch bei Harald Schön im Zentrum seiner Ausführungen. Er konnte aufzeigen, dass Plakate, wie Werbung überhaupt mit der Dauer des Abstimmungskampfes vermehrt genutzt wurden. Beschränkt galt dies auch für Informationsmaterial. Hingegen blieben solche Effekte bei direkten Politikerkontakten aus, mitunter auch, weil sich die grösste Partei, CSU, weder für die eine, noch für die andere Seite aussprach und die Kampagnen der anderen Parteien recht beschränkt blieben. Zu den Problemen, die man sich damit eingehandelt habe, zählte der Referent den Zusammenhang zwischen Abstinenz, Wissen und Position. So konnte er zeigen, je geringer die Information über das neuartige Verfahren war, umso eher beteiligten sich gewisse Gruppen der Vorlagengegner nicht. Eine hypothetische Extrapolation des Egebnisses bei voller Information zeigten denn auch, dass die Zustimmung insgesamt geringer gewesen wäre, immerhin, die Ja-Mehrheit gleich ausgefallen wäre.

Folgerungen für die Forschung in der Schweiz
Pascal Sciarini, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Genf, hob in seine Zusammenfassung die unterschiedlichen Forschungsdesigns hervor. In Deutschland habe sich ein kurzfristig interessantes Feld für vertiefte Fallstudien eröffnet, während in der Schweiz der Vergleich zwischen Abstimmungen besser möglich sei. Dennoch leitete er fünf Folgerungen aus der Tagung für die Schweizer Abstimmungsforschung ab. Bezüglich der Untersuchungsdesings postulierte er, die Werbung in Zeitungen miteinzubeziehen, ebenso Vor- und Nachbefragungen stärker zu verknüfpen. Bei letzterem sieht er Verbesserungspotenzial, wenn während der ganzen Kampagnenzeit Vorbefragungen gemacht würden. Zudem plädierte er dafür, vermehrt Teilsegmente der Stimmenden wie Sprachregionen, urbane und rurale Räume zu untersuchen, um Eigenheiten in der Meinungsbildung kennen zu lernen. Schliesslich legte er Wert darauf, Wahlen und Abstimmungen auch hierzulande systematischer zu vergleichen, denn beide Formen der Willensäusserung tendierten angesichts selektiver Beteiligungen dazu, themenspezifische Elektorate zu erzeugen.

Dadurch wird die Bürgerschaft im politischen System nicht mehr eindeutig abgebildet, vielmehr mutiert sie zu einem Hybrid mit konstanten Grundbotschaften und spezifischen Einzelentscheidungen, füge ich bei.

Claude Longchamp

Eine Woche Abstimmungsberichterstattung

Die eidg. Volksabstimmungen vom 23. September 2012 stehen an. Entschieden wird über den Verfassungszusatz zur Jugendmusikförderung, über die Volksinitiative «Sicheres Wohnen im Alter» und die zum «Schutz vor Passivrauchen». Diese Woche bereitet unser Institut die Auswertung der ersten Repräsentativ-Befragung vor, realisiert für die SRG-Medien. Eine Uebersicht über mein Programm.


Wie gross ist das Ja oder Nein und was an Ueberzeugungen steckt dahinter? – Das ist die Frage der Voranalysen zu Volksabstimmungen.

Montag
Die Daten der Befragung während der vergangenen Woche treffen ein. Wenn, wie normal, alles plausibel ist, beginnt sofort die Verarbeitung: die statistische Datenanalyse einerseits, die Visualisierung der Hauptergebnisse anderseits. Martina Imfeld, Stephan Tschöpe und Sarah Deller leisten diese Vorarbeit gemeinsam. Meinerseits kümmere ich mich um eine erste schriftliche Kurzfassung der Ergebnisse, und ich überprüfe meine Arbeitshypothesen zum anfänglichen Stand der Meinungsbildung und zum erwarteten Abstimmungsausgang. Daraus entsteht die Einleitung zum Bericht, verbunden mit einem Anhang zur Theorie und zu den Daten, die der Studie zu Grunde liegen. Im Wesentlichen ist das noch Routine.

Dienstag
Das ist der eigentliche Tag der Berichterstattung. Martina schreibt diesmal die Kapitel zur Beteiligung(sabsicht) und zum Stand der Meinungsbildung beim Schutz vor Passivrauchen. Ich kümmere mich um die beiden anderen Vorlagen. Wir fragen uns jeweils: Wer ist (vorerst) dafür, wer (vorerst) dagegen? Wie gut kommen die Argumente der Kampagnen an? Wenn immer möglich, schauen wir uns auch Vergleichsabstimmungen in der Vergangenheit an, und was da die Analyse ergaben. Beim Eigenmietwert ist das am ehesten möglich; bei Passivrauchen kaum, den gesamtschweizerisch haben wir noch nie darüber entscheiden können. Wenn es reicht, bereiten wir am Abend noch die Präsentationfassung in Grafikform vor. Gestört werden will ich an diesem spannendsten Tag von niemandem!

Mittwoch
Der Morgen beginnt mit Lektüre. Martina und ich lesen die Kapitelentwürfe übers Kreuz; eine kurze kollegiale Rückmeldung wird erwartet. Danach schreibe ich die Synthese; alles Wichtige soll in verdichteter Form nochmals aufgelistet werden. Aufgezeigt werden soll, was noch unsicher ist, und es wird bewertet, was gesichert erscheint. Denn zum Schluss der Analyse geht es darum aufzuzeigen, was man von der kommenden Meinungsbildung im Abstimmungskampf erwarten kann. Martina kümmert sich parallel dazu um das Lektorat und Layout des Medienberichts. Dieser geht am Nachmittag an die SRG-Zentrale, welche allfällige Nachfragen aus journalistischer Sicht stellt. Am Mittwoch Abend löst sich bei uns meist einiges der Arbeitsanspannung in solchen Wochen.

Donnerstag
Das ist der Tag der internen Praesentation. Erwartet werden die JournalistInnen der beteiligten SRG-Unternehmenseinheiten. Am Morgen bin ich meist kurz beim Coiffeur, dann im Büro, um mich einzustimmen. Die Präsentation von MedienvertreterInnen mache ich gemeinsam mit Martina. Diesmal wird sie über den Schutz des Passivrauchens berichten – die Vorlage, welche die Oeffentlichkeit wohl am meisten interessiert. Ich nehme mich der beiden anderen Themen an. Danach gibt es Interviews und Statements, in Deutsch, Französisch und Englisch. Bis am Mittag sollten alle alles im Kasten haben, um an der journalistischen Umsetzung der Studienergebnisse zu arbeiten. Bei uns im Büro werden Medienmitteilung gegengelesen, Blogs aufgesetzt und die Information via Internet vorbereitet. Meist ist am frühen Nachmittag Schluss – Zeit sich all dem zu widmen, was die ganze Woche liegen geblieben ist.

Freitag
Nach Aussen ist der Freitag der entscheidende Tag; nach Innen hoffen wir auf Ruhe. Meist bereiten wir das, was kommt, am Morgen ein wenig via Twitter vor. Mehr ist da nicht! Das wird auch diesmal so sein, denn ich bin den ganzen Tag ausser Haus. Die Spannung steigt nachmittags um 4 Uhr, denn dann verbreitet die sda die Ergebnisse bei ihren Abonnenten. Um 17 Uhr läuft die Sperrfrist aus, und es beginnt die Publikation via Online-Plattformen. Um 18 Uhr sind die ersten Radiosendungen, und um 1930 berichten die Tagesschauen der SRG-Medien. Der Rest hängt von der Brisanz der Ergebnisse ab. Das gilt im Wesentlichen auch für den Samstag, dem Tag, an dem die wichtigsten Ergebnisse auch in den Tageszeitungen nachzulesen sind.

Meine Arbeitshypothesen lauten übrigens: Die Meinungsbildung zur Jugendmusikförderung ist noch kaum erfolgt; dafür fehlt es auch an einer frühen Aufmerksamkeit; mit einer Problematisierung von rechts ist aber noch zu rechnen. Konkreter wird das Ganze voraussichtlich bei den beiden Volksinitiativen sein: Zwar laufen die Kampagnen auch hier erst an; doch ist namentlich das “Raucher”-Thema bei vielen Menschen im Alltag ein Diskussionsgegenstand, was zur frühen (wenn auch nicht abschliessenden) Meinungsbildung beitägt. Eingeschränkt auf Hausbesitzer im mittleren und höeren Alter gilt dies auch für die Vorlage zum Eigenmietwert. In welche Richtung sich das auswirkt, werden wir ja noch sehen!

Claude Longchamp

Die Wirkungen von Volksinitiativen – neu beurteilt

Dieses Buch muss man einfach loben! Denn es erweitert das Kleinklein über (Miss)Erfolge von Volksinitiativen durch einen bisher unbekannten Weitblick in Geschichte und Jurisprudenz. Eine Neubewertung des innovativsten Volksrechts der Schweiz ist angezeigt.

Gabriela Rohner, heute am Aarauer Zentrum für Demokratie tätig, hat einen überwältigenden Ueberblick über die Wirksamkeit von Volksinitiativen vorgelegt. Ihr Zeithorizont ist so umfassend wie nur möglich: Für 162 Jahre Schweizer Bundesstaatsgeschichte ist sie den vielfältigen Wirkungen von Volksinitiativen auf die Rechtssetzung nachgegangen.

Die Standardantwort zur aufgeworfenen Fragestellung lautete (auch in meinen Vorträgen): Rund 10 Prozent der Volksinitiativen werden in der Volksabstimmung angenommen. Der Rest scheitert, führt im besten Fall zu einem Gegenvorschlag, ohne dass man eine gesicherte Uebersicht über Erfolgswerte hätte.

Genau damit hat sich die Juristin Rohner nun beschäftigt, und sie legt, nach qualitativen Fallstudien, eine quantifizierende Uebersicht vor. Ihre neue Antwort ist: In 14 Prozent der Volksinitiativen führt ihre Einreichung zu einem direkten Gegenvorschlag. In weiteren 39 Prozent kommt es zu einem indirekten Vorschlägen. Zusammen sind das die Hälfte aller Fälle. Bei der Hälfte dieser Hälfte führte Verhandlung zwischen Behörden und InitiantInnen zum Rückzug der Volksinitiative – und damit (möglicherweise) zu gar keine Abstimmung.

Rohner nimmt dieses Ergebnis zum Anlass einer weit positiveren Würdigung der Wirkungen von Volksinitiativen als das bisher üblich war: „Diese Zahlen belegen, dass der Dialog mit den Initianten – soweit vertretbar – gesucht wurde mit dem Ziel, eine für alle Parteien akzeptable Lösung zu finden. Die Volksinitiative ist somit ein wichtiges Verhandlungspfand und stelle damit verbunden ein bedeutsames politisches Instrument zur Konfliktlösung dar. Die Kompromissbereitschaft hat massgebend damit zu tun, dass sich der Ausgang einer Volksabstimmung nie definitive voraussagen lässt.“

Die revidierte Lehrmeinung untermauert Rohner mit einer neuartigen Typologie der inhaltlichen Wirkungen der Volkinitiativen, die legislatorisch etwas ausgelöst haben. In einem knappen Drittel spricht sie von einem weitgehenden Erfolg der Initianten, in gut einem Drittel von einem mittleren und im letzten Drittel von einem kleinen Erfolg. Beispiele dafür zitiert sie zuhauf.

Natürlich, fast alles von dem, was hier wiederholt wird, hängt von den Kategorienbildung ab. Die Autorin selber sagt, eine gereifte Methode dafür gibt es (noch) nicht. Ihr ist aber zu Gute zu halten, dass sie die bisher aufwendigste Datenbeschaffung vorgenommen und eher konservative Kriterien verwendet hat. Damit schützt sie ihr optimistisches Urteil vor Einwänden. Ihr Schluss ist nicht das Ergebnis einer subjektiven Wertung; vielmehr kommt er zustande, weil die bisherige Optik, von Wirkungen auf Verfahren in der Abstimmungsdemokratie ergänzt wird durch einen tiefen Einblick in die Gesetzgebung.

Vielleicht ist eine ihrer Begründungen für Politikwissenschafter etwas blauäugig. Denn Rohner glaubt, das Parlament verhandle nur, weil es nicht wisse, wie allfällige Abstimmungen ausgingen. Das weiss das letztlich niemand genau, Annahmen hierzu werden aber sehr wohl ins Positionierungskalkül zu Volksinitiativen miteinbezogen. Dafür ist Politik letztlich auch zuständig.

Dennoch: Nicht nur die 300 Textseiten der Dissertation, die von Andreas Auer betreut wurde, lohnen sich. Es kommt ein fast 100seitiger Anhang hinzu, der bestehende Uebersichten wie bei Swissvotes erhellend erweitert. Da steckt nicht nur unheimlicher Fleiss dahinter, auch Unvoreingenommenheit, die miteinander kombiniert ein neues Bild des Funktionierens der direkten Demokratie erscheinen lässt. Wünschenswert wäre eigentlich nur, das alles wäre via Internet elektronisch verfügbar.

Claude Longchamp

(Miss)Erfolgskriterien von Volksinitiativen


Bilanz meiner Erfahrungen: Der (nachgewiesene) Problemdruck hinter einer Volksinitiative entscheidet, ob aus dem Aufgreifen von Themen politische Programm via Parlament oder Volksabstimmung wird.

Das NPO-Forum lädt ExpertInnen und PraktikerInnen ein, über Stolpersteine und Erfolgsbedingung nachzudenken. Ich will meinen Beitrag zur Schärfung der gegenwärtigen Problematik mit Referat und Podiumsdiskussion leist. Hier meine These für den heutigen Nachmittag.

Ende des 19. Jahrhundert führte man die Volksinitiative ein. Mit ihre wollte man Teilrevision des Bundesverfassung zulassen, um das schweizerische Grundgesetz der jeweiligen Gegenwart anpassen zu können, ohne jedesmal eine Gesamtrevision vornehmen zu müssen. Ein entsprechendes Instrument auf Gesetzesstufe ist auf Bundesebene nie eingeführt worden.

Die Abstimmungsgeschichte seither kennt drei Phase der Initiativ-Nutzung: Zuerst mit relativ wenigen Initiativen, aber beachtlichen Erfolgsquoten von bis zu 50 Prozent (bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhundert), dann eine geringe Verwendung des Instruments mit ebenso geringer Zahl angenommener Begehren (bis Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts), und schliesslich eine Intensivierung des Gebrauchs, dem seit einigen Jahren auch verstärke Erfolgsaussichten folgen.

Das alles hat die Zahl der Initiativkomitees, die ihr Glück versuchen, anschwellen lassen. Besonders in Wahljahren ist es zwischenzeitlich verbreitet, Volksbegehren zu lancieren – oder auch nur anzukündigen. Die Bundeskanzlei weist momentan über 30 Initiativen im Sammelstadium aus. KritikerInnen monieren, der Schweiz drohe eine Initiativflut.

Die Politikwissenschaft hat keinen festen Analyserahmen entwickelt, was Kriterien des Erfolgs sind. Diskutiert werden aber drei Stossrichtungen der Bewertung:

. die Mehrheitsinitiative, deren Erfolg sich letztlich nur daran misst, dass ihre Forderungen zu Verfassungsrecht werden
. die Programminitiative, die darauf ausgerichtet ist, mit dem Parlament in Verhandlungen zu treten, um auf Verfassungs- oder Gesetzesstufe Veränderungen zu bewirken, allenfalls unter Rückzug der Initiative, und
. die Sensibilisierungsinitiative, die darauf abzielt, die Oeffentlichkeit für eine Thema zu sensibilisieren.

Die beiden ersten Zielsetzungen sind weitgehend unbestritten. Mehrheitsinitiative sind genau das, was man den zusätzlichen Politikkanal zur parlamentarischen Entscheidung nennen könnte. Es geht um Themen, die Parlament und Regierung verkennen, für dies gesellschaftlich mehrheitsfähige Lösungen gibt, die politisch aber umstritten sind. Programminitiativen haben wir, weil man bestimmte politische Programme realisieren möchte, für die es angesichts der fehlenden Gesetzesinitiative keine Artikulationskanäle gibt.

Der Anteil Volksinitiativen, die zu diesen beiden Typen zählen, bleibt recht gering. In den letzten 10 Jahren gehören 10 bis 15 dazu. Abgestimmt haben wir über das Mehrfache. Das eigentliche Problem liegt denn auch in der rasch steigende Zahl an Sensibilisierungsinitiativen. Zwar greifen sie bisweilen neue, auch relevante Themen auf, doch sehr häufig nicht solche, wo bevölkerungsseitig ein sehr hoher Problemdruck besteht. Dafür ist das Instrument nicht gedache. Denn wenn es für die Mehrheit von Politik und Bevölkerung nicht zwingend, eine Neuregulierung der Verhältnisse vorzunehmen, scheitertd das Vorhaben in der Volksabstimmung eindeutig.

Mit meinem heutigen Referat möchte ich Ursachen der Initiativfreudigkeit in der Schweiz aufzeigen. Einschränkung auf dem Gesetzeswege werde ich keine vorschlagen, denn dafür ist mein Respekt vor dem Instrument des innovativsten Volksrechtes in der Schweiz zu gross. Indes, es geht mir darum, das Bewusstsein der Akteure zu schärfen, die sich angesichts tiefer Einstiegshürden, um ein Volksbegrehen zu lancieren, schnell einmal überschätzen. Eine saubere Abklärung der Chancen, politische gehört zu werden, allenfalls sogar selber Druck aufsetzen zu können, ist meines Erachtens auf jeden Fall aufgezeigt. Mit meinen Ausführungen ziele ich aber auch auf die Medien (oder Teile davon), die in einem wachsenden Masse selbst auf Initiativankündigung aufsteigen und Vorstösse popularisieren, ohne die Relevanzfrage zu stellen.

Kurz: Wer eine Volksinitiative lanciert, lanciert ein Polit-Unternehmen für meistens 5 anspruchsvolle Jahre. Wer nicht in der Lage ist, eine nationale Volksabstimmung zu seinem Anliegen zu führen, überlegt es sich besser, mit interessierten PolitikerInnen Oeffentlichkeit zu schaffen, einen parlamentarischen Vorstoss einzureichen, als sich und andere während eines halben Jahrzehnts mit einer erfolgslosen Volksinitiative zu beschäftigen.

Claude Longchamp

Fünf Gründe dafür, dass eine Volksinitiative in der Umsetzung scheitern kann

Adrian Vatter, Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Uni Bern, schaut auf die Gründe, warum (in der Schweiz) die Umsetzung von Volksinitiativen harzt. Die NZZ, die den Beitrag gedruckt hat, bringt ihn leider nur print.

Fünf Gründe hat Adrian Vatter aufgrund einer Studie seiner Mitarbeiterin Bettina Stauffer eine harzige Umsetzung angenommener Volksinitiativen identifiziert:

. eine knappe Zustimmung in der Volksabstimmung;
. eine deutliche Ablehnung im Parlament;
. hohe Umsetzungskosten
. (juristische) Unklarheiten bezüglich der Bedeutung zentraler Begriffe und
. eine Nicht-Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht.

Aktuelles Beispiel ist die Zweitwohnung-Initiative. 4 der 5 Kriterien erfüllt sie: Einzig aus der völkerrechtlichen Sicht gab es weder im Vornherein noch im Nachhinein keine Einwände; dafür kumulieren sich die anderen Ursachen gleich mehrfach:

Die Volksabstimmung ging mit 50,6 Prozent Ja und 13,5 (von 23) Kantonsstimmen denkbar knapp aus.
. Im Nationalrat waren 61 dafür, 123 dagegen; und im Ständerat votierten 10 für die Sache, die von 29 Kantonsvertretern abgelehnt wurde.
. Zwar sind die Umsetzungskosten nicht bekannt, alle gehen aber davon aus, dass sie vor allem in den betroffenen Regionen erheblich sind.
. Schliesslich hat auch der vor allem juristisch entfachte Streit, bis oder ab wann eine nicht-bewohnte Wohnung eine Zweitwohnung ist gezeigt, das eine der Hauptbegriffe interpretationsbedürftig ist – ganz unabhängig vom gegenwärtigen politischen Streit, ob die 20 Prozent Limite für Beweiligungen ab sofort oder ab Ende Jahr gilt.

Der Hintergrundsbeitrag in der NZZ zählt zahlreiche weitere Beispiele auf, deren Umsetzung ebenfalls Schwierigkeiten bereitete: vom Preisüberwacher bis hin zur Ausschaffungsinitiative gibt es eine ganze Reihe, die den Fallen nicht entgingen – allen voran die Alpen-Initiative.

Die AutorInnen fassen das so zusammen: “Eine Volksinitiative hat nach der ersten grossen Hürde der Annahme durch das Volk (und die Kantone, cal) noch lange nicht alle Hindernisse überwunden, sondern steht erst am Anfang. (…) Entscheidend ist der politische Wille beim Bund und vor allem auch in den betroffenen Kantonen.”

Man kann es damit bewenden lassen; man kann aber auch darüber hinaus gehen. Denn letztlich bedeutet das nichts anders, als Volksentscheidungen dann auf Schwierigkeiten in der Umsetzung stossen, wenn es einen institutionell gut verankerten, verweigerungsfähigen Akteur gibt. Darauf sollten sich Initianten gleich zu Beginn einstellen, denn die Wahrscheinlichkeit , auch im Vollzugsprozess bestehen zu müssen, sind parallel zur jüngst gestiegenen Zahl Volksinititiven, die angenommen wurden, zugenommen.

Claude Longchamp

Politikprognosen mit Tücken

Seit den Wahlen 2011 haben die bekannten Wahlbörsen wie “wahlfieber” Konkurrenz bekommen. Mit “Politikprognose” ist ein Vorhersagemarkt neuen Typs hinzu gekommen.

Wahlfieber kennen meinen LeserInnen hinreichend. Ich habe die Leistungen der offenen Wahlbörsen, die Stärken und Schwäche mehrfach beschrieben. Politikprognosen ist nicht einfach ein zusätzliches Beispiel hierzu. Vielmehr handelt es sich um einen Prognosemarkt, der nicht auf die Weisheit der Vielen, sondern die Weisheit der Guten setzt. Anders aber als Expertengruppen (wo man sich untereinander kennt (und damit potenziell beeinflusst), basieren die Politikprognosen auf anonym gemachten Vorhersagen gut informierter Fachleute.

Die Leistungen von Politikprognosen bei den jüngsten eidgenössischen Abstimmungen blieben durchzogen. Vier Tage vor der Abstimmung richtig und präzise waren die Vorhersagen zur Buchpreisbindung einerseits, der Bauspar-Initiative anderseits. Korrekt waren die Prognosen bei der Ferien-Initiative und den Geldspielen; indes, die Abweichungen waren beträchtlich. Das gilt auch für den Ausgang der Zweitwohnungsinitiative – hier kommt erschwerend hinzu, dass die Mehrheit falsch war, ging man doch von einer Ablehnung der Vorlage aus.

In einer kurzen Manöverkritik gehen die Macher von Politikprognosen, die an verschiedenen europäischen Universitäten tätig sind, von zwei Ursachen für die Probleme aus: dem Thema und den Teilnehmern. Alles wird darüber hinaus von der zur Verfügung stehenden Information bestimmt. Ist sie aktuell gering, bleiben Vorhersagen dieser Art erschwert; das gilt zusätzlich, wenn es sich um unübliche Themen und Konfliktkonstellationen handelt. Denn dann versagen auch die beiden wichtigsten, intuitiven Quellen der Expertenvorhersage, ob als Focusgruppe oder als anonymes Panel. Unerwähnt bleibt dabei, dass die Popularbörsen, dort, wo sie eingesetzt wurden, besser als die Expertenbörsen waren.

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Vor über 10 Jahren habe ich erstmals dieses Thema auch aufgriffen, und vorgeschlagen, 4 Quellen der Information systematisch beizuziehen:

. die Empfehlungen der Behörden sowie die Parolen der Parteien
. die Intensitäten und Dynamiken der Kampagnen
. die Problemdeutungen der BürgerInnen und ihre Lösungspräferenzen sowie
. das allgemeine politische Klima

Frei verfügbar sind nur die erste Quelle. Die dritte steht Interessierten mehr oder minder vollständig über die SRG-Umfragen zur Verfügung. Zweiteres wird gelegentlich geleistet, beispielsweise durch das fög der Uni Zürich, oft ist es aber erst im Nachhinein verfügbar, und damit für direkte Prognosen unbrauchbar.
Das allgemeine Klima wiederum können alle bestimmen; indes, es ist nicht einfach zu quantifizieren.

Werte Kollegen, vielleicht hilft euch das weiter, bei den Prognosen für den 17. Juni 2012. Bonne Chance!

Claude Longchamp

Volksinitiativen: Kürzestfassung der Erkenntnisse zur Meinungsbildung

Nicht nur mit der Meinungsbildung zu Behördenvorlagen, auch mit jener zu Volksinitiativen habe mich in den letzten Wochen nochmals systematisch beschäftigt. Hier meine diesbezüglichen Erkenntnisse in der Kürzestfassung.

Eidgenössische Volksinitiative haben es (unverändert) schwer. 17 von 20 scheitern in der Volksabstimmung; 3 werden angenommen. Ein wesentlicher Grund ist, dass die Nein-Kampagnen mehr Wirkungen zeigen als jene der Ja-Seite.

Tabelle
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Viele Initiativ-Komitees legen mit ihrem Anliegen den Finger auf einen wunden Punkt, indem sie ein politisch vernachlässigtes Problem aufbringen. Das ist der Sinn der Initiative. Die andere Seite der Medaille ist, dass sie sich fast ebenso häufig beim Lösungsansatz täuschen, zu kompromisslos sind, um von einer Mehrheit angenommen werden zu können.

Die Ausschaffungsinitiative war eine der berühmten Ausnahmen. Zwar ging auch hier die Ablehnungsbereitschaft mit dem Abstimmungskampf (von 36 auf 48 Prozent) hoch, und es verringerte sich die Zustimmungstendenz (von 58 auf 52 Prozent). Allein, die Effrekte blieben vergleichsweise gering; und sie bewirkten (für einmal) keinen Mehrheitswechsel.

Bei linken Initiativen, die gut starten, ist der Meinungsumschwung meist stärker. Typisch hierfür steht der Prozess bei der Steuergerechtigkeitsinitiative der SP. Auch sie begann bei 58 Prozent (bestimmt oder eher) Ja; schliesslich waren es genau soviele Nein. Während der vergangenen Legislatur gab es keinen so gründlichen Wechsel der Mehrheit wie in diesem Fall..

Geringer ist der Wandel, wenn die Unterstützung einer Initiative von Beginn weg nur minderheitlich ist. Typisch hierfür die Volksinitiative gegen Behördenpropaganda, die in den Umfragen mit 27 Prozent Zustimmung begann, schliesslich bei 25 Prozent landete.

Das alles macht es einfacher, die Dynamik von Meinungsbildungsprozessen bei Volksinitiativen zu beurteilen, als man das bei Behördenvorlagen mit einer Regel machen könnte: Sicher ist, dass mit dem Abstimmungskampf die Opposition steigt, wahrscheinlich, das parallel dazu den Nein-Anteil sinkt. So gut das bekannt ist, so wenig weiss man im Voraus, wie stark die Effekte ausfallen.

Das kann verschiedene Ursachen haben:
Erstens, es macht einen Unterschied, wer der Initiant ist; die Rechte hat Vorteile gegenüber der Linke, und daselbst führt die SVP die wirkungsvollsten Initiativ-Kampagnen.
Zweitens, es kommt darauf an, ob die Nein-Seite eine Schwachstelle der Initiative findet oder nicht und sie frühzeitig und intensiv kommuniziert,
Drittens, der (wahrgenommene) Problemdruck entscheidet. Je höher er ist, desto geringer bleibt der Meinungswandel, und geringer er ist, umso grösser fällt der Wandel aus.

Mehr Forschung auf diesem Gebiet wäre angezeigt. Leisten kann man sie alleine mit Bevölkerungsumfragen nicht. Nötig wäre es, sie mit eine qualititive und quantitative Analyse der Propaganda mit den Verstärkereffekte in den Medien zu kombinieren. Leider setzt sich dafür niemand spezifisch ein.

Claude Longchamp

Behördenvorlagen: Kürzestfassung der Erkenntnisse zur Meinungsbildung

Eine systematisch Durchsicht aller Vorbefragung zu eidgenössischen Volksabstimmungen der letzten Legislaturperiode legt nahe, von 6 typischen Meinungsbildungsprozessen auszugehen. Ausgangslagen, Prädispositionen, Allianzen und Engagements bestimmen den Abstimmugnsausgang.

Man erinnert sich (wahrscheinlich): Die Vorlage zum BVG-Umwandlungssatz scheiterte 2010 hochkant. Was das Parlament befürwortet hatte, fiel mit 73 Prozent Nein-Stimmen exemplarisch durch. Ganz anderes geschah beim Gegenvorschlag zur Volksinitiative, die Komplementärmedizin betreffend. 67 Prozent befürwortenden dies in der Volksabstimmung.


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Der Vergleich zwischen Vorbefragungen und Abstimmungsergebnissen legt in beiden Fällen nahe, dass Verstärkung vorhandener Prädispositionen die zentrale Wirkung der Kampagne war. Denn sowohl beim BVG Umwandlungssatz als auch bei der Komplementärmedizin standen die Mehrheiten von Beginn weg fest – selbst annähernd im Verhältnis der Volksabstimmung

Beide Entscheidungen nennen wir “prädisponiert”, “stabil positiv resp. vorbestimmt” sind den auch unsere ersten beiden Typen. Die überwiegende Zahl der BürgerInnen haben eine Meinung zum Abstimmungsthema, und sie ändern sie nicht, während der Kampagnen in der Oeffentlichkeit. Das ist allerdings eher die Ausnahme als die Regel. Es kommt dann vor, wenn eine politische Entscheidung sichtbare Auswirkungen auf den Alltag vieler hat; dann erfolgt die Meinungsbildung aus eben diesem Alltag heraus, und nicht erst während des Abstimmungskampfes. Geht es um handfeste materielle Interesse oder um zentrale Werte, kann man davon ausgehen, dass es selbst aufwendigen Kampagnen nicht gelingt, das Eis zu brechen.

Das pure Gegenteil davon erlebten wir beim Verzicht auf die allgemeine Volksinitiative. Diese Neuerung der Volksrechte, vom Parlament eingeführt, wurde von eben diesem Parlament wieder zurückgezogen, bevor sie auch nur einmal zur Anwendung gelangt war. Die Bevölkerung war in diese Prozesse kaum involviert, doch waren zur Einführung und zur Abschaffung je eine Volksabstimmung nötig.

Wie noch nie zuvor, ergab die Umfrageserie von den Abstimmungen hier einen gründlichen Meinungswandel. Vor der Kampagne war eine Mehrheit negativ eingestellt. 66 Prozent wollten 6 Wochen vor der Abstimmung noch Nein sagen Das hatte nicht mit vertiefter Beschäftigung zu tun, dafür viel mit dem Reizwort Verzicht auf ein Volksrecht. Am Abstimmungstag war dann alles ganz anders. 68 Prozent sagten Ja zur Vorlage. Die Auseinandersetzung mit dem Inhalt, der Einsatz der Politik und der Medien und die Einsicht, nichts zu verlieren, bewirkten dies.

Dieser Fall heisst bei uns “nicht prädisponiert”, verbunden mit einer eindeutig von der Ja-Seite beherrschten Willensbildung. Auch er ist insgesamt recht selten, aber unser dritte Typ.

Denn mehrheitlich haben wir es bei Behördenvorlagen damit zu tun, dass die Vorbestimmtheit eher positiv ausgerichtet, aber nicht stabil ist. Die Meinunsbildung im Parlament führt zu einem Kompromiss, und die Parolen der Parteien im Abstimmungskampf verstärken den mainstream. Doch hängt das Ergebnis der Volksabstimmung essenziell vom Engagement in den Kampagnen ab, und so gibt es zwei Varianten: Eine Zustimmungsmehrheit von 50-60 Prozent ist immer dann zu erwarten, wenn die Behördenseit die Themenführung übernimmt und im Abstimmungskampf von sich aus kommuniziert. Wir nennen das den “labil (positiv) vorbestimmten Typ mit offensiver Ja-Kommunikation “. Ohne das Engagement von Bundesrat und befürwortenden Parteien wäre beispielsweise die Unternehmenssteuerreform wohl nicht angenommen worden, vielleicht auch der Biometrische Pass gescheitert.

Krass ist das Gegenbeispiel beim Gegenvorschlag zur Gesundheitsinitiative der SVP gewesen. Im Parlament formierte sich eine bürgerlichen Mehrheit dafür, und die Initianten zogen ihr Begehren vor der Abstimmung zurück. Während des Abstimmungskampfes zerfiel die befürwortenden Allianz indessen, was den StimmbürgerInnen nicht entging, sodass sich die Meinungsbildung in den letzten Wochen vor der Abstimmung deutlich ins Nein entwickelte und die Vorlage schliesslich scheiterte. Für uns ist das der 5. Typ, der labil vorbestimmte mit einem Zerfall der Ja-Seite. Solche Entscheidungen gehen in der Regel negativ aus.

Nur dann, wenn eine Vorlage ganz dem Volksempfinden entspricht und kaum jemand Opposition macht, geht die Sache auch ohne grosse Behördenaktivitäten durch. Das kommt bei fakultativen Referenden kaum vor, denn darüber wir nur abgestimmt, wenn es eine minimal organisierte und verankerte Opposition gibt. Bei obligatorischen Referenden ist das aber sehr wohl möglich, wie das Beispiel der Forschung am Menschen zeigt – somit ist das unser 6. Typ.

Claude Longchamp

Kann das Stimmvolk Schiedsrichter zwischen National- und Ständerat sein?

Politgeograf Michael Hermann positioniert nicht nur PolitikerInnen und Parteien in seinem Spinnennetz. Er verwendet seine Koordinaten der politischen Landschaft neuerdings auch um die beiden Parlamentskammern und die Stimmenden im Vergleich darzustellen. Ein Kommentar zum Artikel im heutigen Tages-Anzeiger (leider nicht auf dem web).

parlament

Das Volk ist in der Demokratie der Massstab aller Dinge. Das ist auch im neuen smartspider so. Denn was die Stimmenden in Volksabstimmung für richtig befunden haben, bildet die Nulllinie. So wie National- und Ständerat gestimmt haben, lässt sich im Vergleich dazu beurteilen, lautet die neueste Darstellungsidee von Hermann.

Seine Ergebnisse und Bewertungen lauten:

    In Fragen der aussenpolitischen Oeffnung einerseits, der restriktiven Ausländerpolitik anderseits, weichen beiden Parlamentskammer am meisten von der Volksmeinung ab. Sie politisieren hier offener, weniger verschlossen.
    Wenn es um Liberalisierung geht, sind beide Kammern positiver eingestellt. Das gilt für Fragen der Wirtschaft wie der Gesellschaft.
    Praktisch keine Abweichungen zwischen den drei Akteuren lassen sich, übers Ganze gesehen, in der Umwelt- und Finanzpolitik festhalten.
    Schliesslich seien die starke Armee und der starke Sozialstaat erwähnt. Da weicht vor allem der Ständerat von den Volksentscheidungen ab, kaum aber der Nationalrat. Bei der Armeestärkung gibt er mehr Gas, bei sozialen Fragen bremst er eher.

Linker als der Nationalrat ist der Ständerat nicht wirklich. Aber anders. Dass beide Kammern unterschiedlich seien, findet auch Hermann gut. Würden sie beiden gleich ticken, bräuchte es auch nicht zwei Kammern.

Immerhin, Hermann hat sich in seinem neuesten Buch zur Rettung der Konkordanz dafür ausgesprochen, dass das Volk im Differenzbereinigungsverfahren zwischen den beiden Kammern eine Art Schiedrichter-Funktion zukommen sollte. Denn wenn sich National- und Ständerat nicht einigen können, soll das Volk entscheiden, propagierte er anfangs Juli in einem Gutachten für Avenir Suisse.

Da kommt sich der Politgeograf selber in die Quere. Denn in kaum einem Politikbereich sind die Positionen der Stimmenden zwischen jenen der beiden Parlamentskammern. Entweder gibt es keinen Differenzen, oder die Stimmenden und der Nationalrat sind einander verwandter. Müssten jene zwischen den Präferenzen der grossen und kleinen Kammer entscheiden, würde das den Nationalrat stärken. Das würde in zahlreichen Bereichen ohne inhaltliche Uebereinstimmung geschehen. Ein Schiedsspruch zwischen Varianten würde damit zum populistischen Veto werden, gegen das Gebahren der beiden Kammern. Denn wo es eine Kluft zwischen Behörden und Volk gibt, besteht sie aus der Sicht des Souveräns gegenüber National- und Ständerat.

Ich ziehe den Druck auf die PolitikerInnen sich zu raufen vor, bevor man eine verbindliche Entscheidung dem Volk zur Sanktionierung vorlegt.

Claude Longchamp