Analyse der Inserate-Kampagnen zu den eidg. Volksabstimmungen vom 3. März 2013

Ein Forschungsteam rund um der Berner Politikwissenschafter Marc Bühlmann hat die Inserate in über 50 Tages- und Wochenzeitungen vor den eidg. Volksabstimmungen vom 3. März 2013, die in den letzten 8 Wochen vor der Abstimmung erschienen, ausgewertet. Eine Uebersicht über die wichtigsten Befunde der bisher besten Dokumentation in diesem Bereich.

Intensität der Inseratekampagnen zu den drei Vorlagen der Volksabstimmungen vom 3. März 2013

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Mit Abstand am meisten Inserate wurden in der Kampagnen zur Revision des Raumplanungsgesetzes geschaltet. Das Gegner- und Befürworterlager hielten sich die Waage. Weniger Inserate gab es zur Abzocker-Initiative, wobei die Nein-Seite klar dominant war. Kaum wahrnehmbar waren Inserate zum Familienartikel, insbesondere nicht solche der BefürworterInnen.

In der italienischsprachigen Schweiz wurden kaum Inserate geschaltet. Bei Familienartikel gilt dies zusätzlich für die deutschsprachige Schweiz. Bei Raumplanungsgesetz gab es sprachregional segmentierte Inserateninhalte. In der deutschsprachigen Schweiz standen sich die Schlagworte “Zersiedelung” und “Steuern” gegenüber, in der Romandie besetzten beide Seite primär die Mietfrage. Testimonials kommen in Pro-Kampagnen häufiger vor als in gegnerischen.

Dynamiken der Pro- und Kontrakampagnen zur Abzocker-Initiative und zum Raumplanungsgesetz


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Die Dynamik der Inseratekampagnen gleichen sich stark. Generell gilt: Die Intensität schwillt in den Wochen 8 bis 3 oder 2 vor der Abstimmung an, wird danach meist wieder kleiner. Die Gegnerschaft des Raumplanungsgesetzes verringerte ihren Aufwand weniger, sodass es in den letzten 14 Tagen einen Nein-Ueberhang gab. Beim Familienartikel gab es, schon wegen der fehlenden Menge, keine solchen Effekte.

Noch fehlt es an einer ganz dicken Ueberraschung in der erstmals so breit durchgeführten Analyse. Der grosse Vorteil solcher Auswertung besteht aber in der Quantifizierung von Sachen, die man sieht oder merkt, bei dem man sich aber auch verschätzt. So hätte ich keinen so einseitigen Ueberhang der Kampagnen zum Raumplanungsgesetz memoriert gehabt, und einige der sprachregionalen Eigenheiten sind mir schlicht entgangen.

Natürlich wäre es empfehlenswert, das Ganze mit Analysen der Medienstrategien einerseits, mit den Trendanalysen auf Befragungsbasis andererseits zu verknüfen. Denn es lassen sich verschiedene Kombinationen von Kampagnen postulieren, etwa die primär redaktionelle geführt, dann die kombinierte Kampagne im redaktionellen und gekauften Raum. Zudem kann man vermuten, dass Intensitäten der Kampagnen, die Differenz zwischen Ja- und Nein Kampagne und die Betonung einer Hauptbotschaft auf die Meinungsbildung wirken.

Seit den 90er Jahren gibt es unter PolitikwissenschafterInnen Projektideen, Abstimmungskampagnen zu dokumentieren, sie zu vermessen und die Resultate mit anderen Daten zu vernetzen. Bisher hat sich aber keine, mit Umfragen vergleichbar konstant gehaltene Quellensammlung und -auswertung gehalten. Es wäre ein Segen für die Abstimmungsforschung in der Schweiz, würde das dem gut etablierten Team von “Année politique suisse” diesmal gelingen.

Claude Longchamp

Parolen, Parolentreue und Elite/Basis-Konflikte bei Volksabstimmungen

Es ist bekannt, dass nicht immer alle Regierungsparteien hinter einer Behördenvorlage stehen (müssen). Die Abweichungen sind aber zunehmend, teils mit, teils ohne Erfolg. Martina Imfeld und Stephan Tschöpe vom Forschungsinstitut gfs.bern sind im VOX-Trendbericht 2012 den Einzelheiten anhand aller Volksabstimmungen des letzten Jahres nachgegangen. Ein Kommentar-

In drei der zwölf Fälle drangen 2012 Bundesrat und Parlament mit ihren Entscheidungen nicht durch – ein vergleichsweise hoher Anteil: Es scheiterten die Buchpreisbindung und die KVG-Reform in Referendumsabstimmungen; dafür fand die Zweitwohnungsinitiative eine mehrheitliche Zustimmung.

Wie sich die Regierungsparteien positionierten
Am wenigsten behördentreu von allen Regierungsparteien positionierte sich 2012 die SVP. In der Hälfte der Abstimmungen wich sie von der Behördenposition ausdrücklich ab. Erfolg hatte sie damit beim KVG und bei der Buchpreisbindung. Es gelang ihr, nicht nur die eigenen Basis zu mobilisieren, vielmehr votierten die Stimmenden insgesamt gegen die Vorlagen. Wenigstens die eigenen Leute repräsentierte die SVP mit ihre Parole bei den Staatsverträgen vors Volk, dem Sicheren Wohnen im Alter und dem Tierseuchengesetz; in allen drei Fällen befand sie sich damit aber in der Minderheit des Stimmvolkes. Besonders heikel war die Parole gegen die Jugendmusikförderung – eine Vorlage, die von den Stimmenden insgesamt, aber auch von den SVP-Wählenden mehrheitlich befürwortet wurde.

Uebersicht über Parolen und Parolenbefolgung nach Volksabstimmungen 2012

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Insgesamt viermal stellte sich die SP gegen die Behördenentscheidung. Dreimal sanktionierten ihre Wählenden dies, einmal nicht. Die Ausnahme betraf das Ja zur Initiative Schutz vor Passivrauchen, die in der Volksabstimmung scheiterte, auch mit der Mehrheit der SP-Stimmen. Ganz anders verhielt es sich beispielsweise bei der Zweitwohnungsinitiative und der Managed-Care Reform, wo die SP mit den Stimmen der eigenen Wählenden und anderen obsiegte.

Zweimal wich die FDP mit ihrer Parteiparole von der Behördenposition ab. Bei der Buchpreisbindung sanktionierten die eigenen WählerInnen dies, und die Opposition war auch insgesamt erfolgreich. Ganz in der Minderheit blieb die FDP-Parteispitze indes bei der Jugendmusikförderung. Beim KVG zeigte sich die FDP bis zuletzte loyal zum Behördenentscheid, ohne dass sie damit ihre Wählerschaft überzeugen konnte, und auch in der Bevölkerung damit unterlag.

Grundsätzlich behördentreu politisierte die CVP. Dennoch hat die Partei ein Problem: Beim KVG und bei der Buchpreisbindung, bei denen die CVP den Behördenstandpunkt vertrat, wich die eigene Basis von der Parteiparole ab, und war damit bei der Mehrheit der Stimmenden.

Etwas erschwert ist die Beurteilung der BDP. Sie ist die kleinste Regierungspartei und in Umfragen nicht hinreichend fassbar. Wahrscheinlich stimmte die Parteibasis bei der Zweiwohnungsinitiative wie auch beim Sicheren Wohnen im Alter trotz Nein-Parole dafür.

Eine Bilanz zum gegenwärtigen Funktionieren des Regierungslagers
Gegenwärtig stimmen im Mittel 61 Prozent wie die Behörden, aber mit grossen Schwankungen von 87 Prozent bei der Neuregelung der Geldspiele bis zu 24 Prozent beim KVG. Am meisten Support haben die Behörden bei den BDP-WählerInnen, am wenigsten bei jene der SVP.

Zu den Eigenheit der gegenwärtigen Situation zählt, dass nicht mehr nur einzelne Regierungsparteien aus dem Konsens ausscheren, sondern gleich ganze Reihen. Das ist an sich ein Krisensymptom. Wenn daraus eine Welle des Unmuts entsteht, kann dies auch Teile der Wählenden behördentreuer Parteien erfassen kann und die Vorlage versenken.

Mindestens so klar als Krisensymtom ist zu werten, dass die Parteispitzen mit ihrer Profilierungshaltung bei Volksabstimmungen auch übetreiben. Eklatant war das 2012 beim Nein von SVP und FDP zur Jugendmusikförderung, und auch beim Ja der SP zum Passivraucherschutz. Der krasseste Fall lag bei der ersten Bausparinitiative vor, die von den Spitzen der SVP, FDP, BDP und CVP befürwortet wurde, wobei die Wählenden der CVP und BDP zur allgemeinen Ablehnung der Vorlage beitrugen. Zwischenzeitlich ist ja auch nicht mehr gesichert, dass sich solche Manöver bei Wahlen lohnen. BDP und GLP legen dazu, mit Positionen nahe bei den Behörden.

Fazit: Es ist Bewegung in die Regierungsparteien gekommen – an ihrer Spitze, aber auch an ihrer Basis. Das erleichtert die Uebersicht bei Abstimmungen nicht, 2012 wie 2013. Denn beim Familienartikel und bei der Abzocker-Inititive gab es erneut zwei oppositionelle Entscheidungen. Jede Abweichung der Stimmenden von Behörden ist ernst zunehmen, indes nicht jede abweichende Parteiparole.

Claude Longchamp

Wenn Tote Wahlen gewinnen

Am letzten Freitag hielt ich im Rahmen der Zürcher Uni-Lehrveranstaltung zur “Wahlforschung in Theorie und Praxis” meine Vorlesung zur Mediendemokratie. Gebraucht wird der Begriff, um substanzielle Veränderungen im Wahlgeschehen zu beschreiben, die durch Medien wie Fernsehen und Internet ausgelöst werden. Und er dient auch als Interpretationsrahmen für neue Phänomene.

Zu den Thesen, die im Zusammenhang mit der Mediendemokratie diskutiert werden, gehören die Medialisierung der Politik als Voraussetzung, die Veränderungen des Wahlentscheides durch Potenzierung von Effekte der Entscheidungen über Themen und Personen, ebenso wie aufgrund eines medial erzeugten Klimas. Nicht zuletzt wird davon auch das Stimmungselement abgeleitet.
Als Belege hierfür habe ich die Obama-Wahl von 2008, die Wahl von François Hollande vor Jahresfrist, und der Erfolg von Beppe Grillo in der jüngsten Wahl in Italien erwähnt. Sie alle waren durch starke Personenorientierungen geprägt, die Parteibindungen überlagern sollten. Sie alle entwickelten ein eigentliches Kampagnenmoment, das zum treibenden Faktor der Wahlentscheidung wurde. Und sie lösten die grossen Hoffnungen, die mit der Wahl verbunden wurden, allesamt nicht ein.
Zu meinen Trends in heutigen Wahlkämpfen der Schweiz zählte ich am Freitag die Entstehung von Super-Kampagnen, die nicht nur einer Partei ein Profil, sondern einer Wahl insgesamt eine Bedeutung verleihen. Ich nannte die Radikalisierung der politischen Auseinandersetzung zum Beispiel zu harten Themen wie AusländerInnen oder Kernenergie. Wahlkämpfe finden dabei nicht mehr in geschlossenen Räumen statt, sondern haben bisweilen internationale Ausstrahlung, und das internationale Geschehen beeinflusst sie selbst im Lokalen. Das entsteht mitunter auch durch crossmediale Inszenierungen, vorgenommen von interessierten Akteuren, die sich der Skandalisierung, Dramatisierung, Personalisierung und Emotionalisierung bedienen, um vor einer Wahl ein vorherrschendes Stimmungsmoment zu erzeugen.

Last but not least, erwähnte ich die mit der Medialisierung von Wahlkämpfen verbundene Virtualisierung von Wahlentscheidungen.

Als typische Beispiele hierfür nannte ich die Aargauer Wahlen von 2006, als Doris Leuthart alle Plakate zierte, obwohl sie weder fürs Kantonsparlament, noch für die Aargauer Regierung kandidierte, der CVP aber einen der wenigen Wahlerfolge brachte. Erwähnt habe ich auch die “Bundesratswahl” von Christoph Blocher, der den Nationalrats-Wahlkampf 2007 der SVP mit dem Slogan dominierte, SVP wählen heisse Christoph Blocher stärken. Am Schluss glaubten das alle – fälschlicherweise. Hätte es ein weiteres Beispiel gebraucht, für eine fiktionales Element im Wahlgeschehen, hätte ich an diesem Sonntag Abend mein Exempel bekommen.

Meines Wissens wurde in der Wahl für die Stadtregierung von Lugano 2013 erstmals ein Toter in eine Exekutive gewählt.

Die Reaktionen auf meinen Tweet in dieser Sache waren prominent: Norman Gobbi, der Lega-Nationalrat beschwichtigte mich umgehend mit dem Verweis, nicht der verstorbene Giulano Bignasca, sondern der populäre Ex-Regierungsrat Marco Borradori und der bisherige Lorenzo Quadri hätten für viele Stimmen gesorgt. Und der Tessiner Delegierte in Bern, Jörg de Bernardi, schob heute nach, das Proporzsystem funktioniere nach eigenen Regeln, weil man primär nich Personen, sondern Parteien (und die von ihnen vorgeschlagenen Vertretungen) wähle.

Ich kann verstehen, dass man den ausgesprochen seltenen Befund, das Tote mehr Vertrauen haben als Lebende in einer Wahl, kommentieren muss. Spezifischer Legalismus hilft hier indess nicht weiter; vielmehr ist eine Betrachtung der Zusammenhänge nötig.
Für mich ist es typisch, dass Fiktionales Wahlen in der Mediendemokratie mitbestimmen. Denn die Wahl ist nicht einfach eine Wahl von Programmen oder von KandidatInnen. Durch Propaganda und Werbung hierzu erhält sie eine Rahmung, welche Signifikanz ihr über die Wahl hinaus zukommt. Im einfacher Fall war das eine pietätsvolle Erinnerung an den Tessinere Politiker, der die Lega aufgebaut und ihre Geschicke während Jahren gelenkt hatte. Im mittleren Fall ist es das Interesse der Medien an Figuren wie den unkonventionellen Bignasca, für den man sich, unabhängig von Leistungen und Inhalte, medial interessiert, weil er so klar von der Norm abweicht. Höchstwahrscheinlich trägt seine posthume Wahl in die Regierung der Stadt Lugano aber auch Züge der Identifikation mit Vaterfiguren, wie man sie aus Nordkorea oder Venezuela kennt, die typisch sind für den grassierenden Populismus.

Erinnert sei, dass Jörg Haider nach seinem Ableben als Landeshauptmann in Kärnten von seiner Partei erfolgreich als Symbol eingesetzt wurde, um die Mobilisierung bei den ersten Wahlen in der Post-Haider-Aera zu befördern. Doch niemandem wäre es in den Sinn gekommen, die Geschicke des österreichischen Bundeslandes in die Hände eines Verstorbenen zu legen.
Ich halten es für eine ernsthafte Krise der Demokratie, wenn man Leben und Tod nicht mehr unterscheiden kann. Denn, so frage ich, wie soll man heiklere Sachen wie die parteipolitische Programme zur Steuerung der Zukunft genügend auseinander halten können, wenn das Grundlegendste nicht mehr hinreichend genug differenzieren kann.

Mit den Stimmungsentscheidungen in der Mediendemokratie verbinde ich eben den schleichenden Verlust der Kriterien für Wahres und Unwahres, für Richtiges und Falsches. Bis jetzt betraf das nur Aussagen wie Expertenstandpunkte beispielsweise zu Zahlen über das Asylwesen. Dass man kaum mehr auf gesicherter Basis politische Meinungen äussert, an das hat man sich langsam gewöhnt. Dass Tote zu Exekutivmitglieder werden, ist, jedenfalls für mich, nicht nur ungewohnt, es sollte auch nie mehr vorkommen (dürfen)!

Claude Longchamp

PS:
Auch in Neuenburg verstarb ein Kandidat kurz vor der jüngsten Wahl in den Regierungsrat. Um Klarheit zu schaffen, wer dabei und wer nicht dabei ist, wurde die Wahl um 14 Tage verschoben.

Prognose der eidg. Wahlen 2015

HistorikerInnen seien PrognostikerInnen der Vergangenheit, frotzeln SozialwissenschafterInnen gerne. Ein Blick auf die Wahlvorhersagen der PolitikwissenschafterInnen in der Schweiz zeigt, dass sie recht selten sind. Grund genug, der Prognose der National- und Ständeratswahlen 2015 mein Forschungsseminar auf Masterstufe am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Bern zu widmen.

Die GrundlagenforscherInnen überlassen Prognosen gerne der Anwendungsforschung, obwohl Karl R. Popper einst meinte, wer einen Sachverhalt gut erklären könne, könne ihn auch prognostizieren. Das war noch ganz im Denken des deduktiv-nomologischen Wissenschaftsverständnisse, wie es aus den Naturwissenschaften, insbesondere der Physik, stammt. Zwischenzeitlich sind die Sozialwissenschafter etwas vorsichtiger geworden. Es herrscht das deduktiv-stochastische Verständnis von wissenschaftlicher Forschung vor: Hergeleitet werden Zusammenhänge nicht nur aus gedanklichen Konzepten, die Erklärungen wie Vorhersagen gleichermassen erlauben, sondern aus verallgemeinerungsfähigen Beobachtungen, die mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit und einer beschränkten Offenheit erlauben, Aussagen zur (nahen) Zukunft zu machen.

Nun hat die Wahlforschung insbesondere in den USA in den letzten 8 Jahren rasante Fortschritte gemacht, gerade was Wahlprognosen betrifft. Zu den bekannte Umfragen sind Wahlbörsen hinzu gekommen, ebenso arbeitet man mit Modellrechnungen und Expertenpanels, wenn es um die Vorhersage beispielsweise der amerikanischen Wahlen geht. Die Leistungsschau lässt sich sehen: Verschiedene Protagonisten des Metiers kannten den Wahlsieger, seine Elektorenstimmen und seinen Wähleranteil weit im Voraus ganz genau, oder sie mussten sich nach der Wahl mit nur minimalen, letztlich irrelevanten Abweichungen auseinandersetzen.

Ist das auch in der Schweiz möglich, wenn es um National- und Ständeratswahlen geht? Genau das ist die Fragestellung meines nächsten Forschungsseminars an der Uni Bern, das ich im Rahmen des Masters für schweizerische und vergleichende Politik im Herbstsemester 2013 anbieten werde. Bezugspunkt für die Prognose sind die Parlamentswahlen 2015.

Im Seminar wird zuerst der Benchmark der Wahlprognosen in Politikwissenschaft, Oekonomie, Medienwissenschaft, Geschichte und Statistik erarbeitet. Dann werden die wenigen Wahlprognosen in der Schweiz einer kritischen Würdigung unterzogen, so ihrem theoretischen und empirischen Hintergrund. Darauf aufbauend formulieren die Studierenden Projekte, welche zu Verbesserungen in der Wahlprognose zu Schweizer Wahlen versprechen. Es werden die bestens 3-5 Vorschläge ausgewählt, die in der Folge als Gruppenarbeiten ausformuliert werden, und zwar in methodischer und datenmässiger Hinsicht. Die Arbeitsgruppen müssen bis Ende Semester zeigen, was für Vorhersagen sie damit 2011 (oder noch früher) gemacht hätten und, als Kernaufgabe, wie die Vorhersage für 2015 lautet.

Denkbar sind Prognosen zur Wahlbeteiligung, zum Stimmenanteil aller oder einzelner Parteien und zur Sitzverteilung im National- und Ständerat in einzelnen Kantonen oder gesamtschweizerisch. Minimal wird erwartet, eine zutreffende Aussage zu Gewinner und Verlierer zu machen, maximal auch quantitativ zutreffende Angaben. Dabei können Trendextrapolationen und Szenarientechnik angewandt werden. Im Herbst 2015 werden wir dann überprüfen können, was davon stimmte (und falls nicht lernen können, was man noch besser machen kann).

Ich hoffe, damit eine Schritt zurück zur ursprünglichen Motivation zu machen, warum man Sozialwissenschaften betreibt, nämlich die Fähigkeit zu entwickeln, Entwicklungen und Ereignisse vorher zu sehen, die, nicht zuletzt mit der empirischen Ausrichtung der Fächer weitgehend auf die Aufgabe reduziert wurde, Erklärungen für jüngst Vergangenes anzubieten.

Gefordert werden alle sein, die Studierenden und der Dozent.

Claude Longchamp

Der Stammbaum der Schweizer Parteien

Adrian Vatter, Professor für Schweizer Politik an der Uni Bern, hat in der heutigen NZZ eine neuartige Form des Parteienstamms publiziert, die zum neuen Standard werden dürfte.


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Zum ersten Mal habe ich den Stammbaum der Schweizer Parteien in meinem Staatskundelehrbuch für die Kantonsschule, verfasst vom Parteienforscher Erich Gruner, gesehen. Das war Mitte der 70er Jahre. Seither ist auf diesem Gebiet das einiges erschienen; nichts davon hat mich wirklich überzeugt. Bis heute alles anders wurde.

Die Vorteile der Neubearbeitung durch Politologe Adrian Vatter sind evident: Sie baut auf den grossen Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts auf, dem Liberalismus, dem Konservatismus und dem Sozialismus. Sie zeigt auf, wie sich aus Vereinen, Bewegungen, Fraktionen und internationalen Assoziationen zuerst die Sozialdemokratische Partei, dann die Freisinnig-demokratische Partei, die Demokratisch Partei, die Katholische Volkspartei und die Liberale Partei bildeten. Verschiedlich kam es dabei zu Umbenennung, teilweise nur als Markevariante, teilweise als Folge von Fusionen, wie bei der CVP und der SVP. Klar wird aber auch, wie die verschiebenen kleinere aus grösseren Parteien entstanden (so die äussere Linke und die grünen Parteien aus der SP, so die Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei aus der liberalen Strömung, ohne mit Sicherheit dasselbst zu bleiben, und die äussere Rechte, meist unabhängig oder in Konkurrenz zur BGB/SVP).

Die Grafik ist dem neuen Lehrbuch zum politischen System der Schweiz entnommen, dass von Adrian Vatter auf den Herbst 2013 angekündigt wurde. Schon mit der heutigen Publikation in der NZZ dürfte sie schnell zum Massstab für alle werden, die sich mit der geschichtlichen Entwicklung der Parteien in der Schweiz beschäftigen. Das Historische Lexikon der Schweiz hat in den vergangene Jahren hierzu reichlich Material produziert, ohne dass es bisher in eine neue Uebersicht gebracht worden wäre.

Genau das leistet die neue Uebersicht, die empfehlenswert ist – mit einer kleinen Ausnahme: Das Kriterium der Brücksichtigung von Parteien ist nicht ganz klar. So ist die EDU drauf, die nicht mehr im eidg. Parlament vertreten ist, dafür fehlt das Mouvement Citoyen Genevois (das neuerdings einen Nationalrat hat), man könnte meines, es fehle, weil es keine nationale Partei sei, doch dann müsste auch die Lega dei Ticinesi (mit Nationalrat) weggelassen werden, während nicht nur diee PdA (als nationale Partei ohne Parlamentssitz) drauf sein sollte, sondern auch die 2009 gegründete Piratenpartei (22 Sektionen, wenn auch kein Parlamentssitz).

Im Unterschied zu meinen neuen Ueberlegungen, die ich diese Woche in Vortragsform präsentiert habe, betont Vatter mehr die Genealogie der Parteien, und damit die Kontinuität in der Entwicklung, während es mir mehr darum geht, dass sich Parteien zyklisch erneuern müssen, um auf Veränderungen im Institutionellen oder im Gesellschaftlichen zu reagieren, und sich dabei auch neu erfinden können.

So oder so, es wäre zu wünschen, dass auf der erneurten Basis die Geschichte der Parteien in der Schweiz neu geschrieben würde, mit den grossen Herausforderungen der verschiedenen Epochen, den institutionellen Rahmenbedingungen, aber auch dem soziopolitischen Wandel. Das wäre eine höchst willkommene Erneuerung der Arbeiten, die Erich Gruner als Historiker und früher Parteienforscher in den 60er Jahren an der Berner Uni geleistet hatte. Die Historiker haben mit dem erwähnten Lexikon ihren Beitrag geliefert, jetzt wäre die Politikwissenschaft gefragt!

Claude Longchamp

Die 6. Generation Schweizer Parteien

Zwischen 2007 und 2009 hat die Schweiz mit GLP, BDP und Piraten drei neue Parteien erhalten, die über den Moment hinaus Bestand haben. Ihre Analyse sagt mir, es sei die 6. Generation Parteien in der Schweiz.

Parteigeschichte wird häufig in Form eines Stammbaums geschrieben. Die Wurzeln sind der Liberalismus, der Konsevatismus und der Sozialismus, die im 19. Jahrhundert als Weltanschauungen entstanden. Die Stämme besteht entstprechend aus FDP, CVP, SVP und SP resp. ihre Vorläuferinnen, die sich mit der Zeit teilweise mehrfach verzweigten, sodass zahlreiche kleinere und mittlere Parteien wie die GPS, aber auch die GLP, BDP und EVP hinzu gekommen sind.

Das Bild des Stammbaums suggeriert Konstanz, was historisch nicht wirlich der Fall. Bekannt sind Namensänderungen der Schweizer Parteien; hinzu kommen weltanschauliche Neuausrichtungen, organisatorische Veränderungen und teils substanzieller Wandel im Elektorat. Das alles lässt es sinnvoll erscheinen, von Etappen der Parteientwicklung auszugehen. Sinnvoll ist es meiner Meinung nach, von Analogien aus der Biologie zu sozialwissenschaftlichen Konzepten in der Parteienanalyse überzugehen, wie sie der Funktionalismus (mit dealignment und realigment von Parteibindungen), aber auch die Konflikttheorie mit ihren Cleavages und ihren Regelungen vorgeschlagen haben. Entsprechend propagiere ich mit meinem Referat von heute Abend an der Fachhochschule der Nordwestschweiz in Brugg-Windisch, von eigentlichen Generationen von Parteien auszugehen, für die es in der Regel einen auslösenden historischen Moment, eine relevante Konfliktlinie, eine institutionelle Lösung hierfür gibt, welche das Parteiensystem oder neuen Schichten in diesem nachhaltig geprägt haben.


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Als typische Einschnitte in diesem Sinne gelten die Demokratisierungserfordernisse mit der Einführung des Referendums und der Volksinitiative zwischen 1874 und 1891, die Etablierung des Proporzwahlrechtes 1919 und die Erweiterung des Stimm- und Wahlrechtes auf alle Schweizer Erwachsenen 1971. Der jüngste Einschnitt war 1992 mit der negativ verlaufenen Entscheidung zum EWR-Beitritt. Mit dem darauf folgenden Umbruch in der Schweizer Politik sind neue Konfliktlinien entstanden, ist der Rechtspopulismus salonfähig geworden und hat sich namentlich die SVP als Sammelbecken für alle nationalkonservativen Kreise etablieren können.

Man kann sich allerdings fragen, ob die Wahlen 2011 nicht einen weiteren Einschnitt markierten. Auesseres Kennzeichen hierfür ist die wieder gestiegene Volatilität in den der Wahlergebnisse mit dem erstmaligen Verlust für die SVP; auch neue Parteien, die ins Parlament gewählt werden oder sich an Wahlen mit gewissen Aussichten beteiligen, zählen hierzu. Entscheidend aber ist, dass sie anders als in den letzten 20 Jahren nicht mehr an die Polen entstehen und damit die Polarisierung vorantreiben. Vielmehr sind gerade der GLP und der BDP eher moderate Positionen eigen, und auch die Piratenpartei ist bisher weder durch klar linke oder klar rechte Positionen aufgefallen. Ich halte es deshalb für angezeigt, von einer 6. Generation von Parteien in der Schweiz auszugehen, die durch Abspaltungen von bisherigen Parteien entstanden sind oder den gesellschaftlich-medialen Wandel aufgreifen, die mit Wertesynthesen, Stilmischungen und Allianzbildung in bisher ungewohnter Art und Weise experimentieren.

Die Entwicklung des Parteiensystems wäre damit geprägt gewesen durch den Uebergang von kantonalen und nationalen Vereinen (1. Generation) zu politischen Parteien mit einer landesweiten Organisation (2. Generation), durch Prluralisierung der Parteienlandschaft nach dem Zerfall der freisinnigen Vorherrschaft und Reintegration in der Konkordanz (3. Generation) und durch Ausdehnung des Wahlrechtes von den erwachenen Männern auf die erwachsenen Frauen mit Schweizer Bürgerrecht (4. Generation). Typisch für die fünfte Generation war die Polarisierung der Parteienlandschaft mit der Hinwendung zu einem polarisieten Pluralismus, der durch die 6. Generation Parteien wieder aufgebrochen wird.


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Selbstredend hängt diese Einschätzung mit der künftigen Entwicklung namentlich von GLP und BDP zusammen. Abschliessende Urteile sind da noch nicht möglich, immerhin zeichnet sich ab, dass der Bestand der BDP stark von der Ablösung von Eveline Widmer-Schlumpf im Bundesrat abhängt, derweil es der GLP gelungen ist, sich namentlich in einer nachwachsenden Generation als gemässigte Kraft im linken Zentrum zu etablieren und einer Partei in zahlreichen Legislativen zu werden. Ein klares Phänomen der Internetgeneration ist die Piratenpartei, indes, ist es ihr weder kantonal noch national gelungen, sich in politischen Behörden festzusetzen und damit die institutionelle Politik mitzugestalten.

Claude Longchamp

Die 1975er Schwelle

Erstmal haben wir Generationsbrüche in der politischen Kommunikation am Beispiel der Mediennutzung in Abstimmungskämpfen untersucht. Betroffen ist davon die Verwendung besonders von Radio, Leserbriefen und Internet, um sich vor Entscheidungen eine Meinung zu bilden.

SoziologInnen schreiben gerne über Generationen und den Generationenwandel. Zum Beispiel über Babyboomer, jene, die in der Nachkriegszeit geboren wurden, mit einer sprunghaften Zunahme der Geburtlichkeit in Ländern, die unter dem Krieg litten; oder über die Generation X, Y und Z, die darauf folgten und hinsichtlich Konsum, Medien, Vorbilder andere Sozialisationsbedingungen erlebten.

Mediennutzung in Abstimmungskämpfen nach Generationensplit vor resp. nach 1975 geboren

Quelle: gfs.bern, VOX-Analysen (Grafik anclicken, um sie zu vergrössern

In der Medienforschung ist es es zwischenzeitlich üblich geworden, von der 1975er Schwelle zu sprechen. Denn wer vorher resp. nachher geboren wurde, zeigt ein anderes Medienverhalten. Im Printbereich betrifft das den Uebergang von Bezahl- zu Gratiszeitungen, im elektronischen Bereich den Wechsel vom Fernsehen und Radio hin zum Internet.

Erstmals hat das Forschungsinstitut gfs.bern die Mediennutzung in Abstimmungskämpfen nach diesem Schema untersucht. Und siehe da: Bei den Volksentscheidungen der Jahre 2008 bis 2012 gibt es in der politischen Kommunikation tatsächlich charakteristische Unterschiede: Wer heute jünger als 37 ist, verwendet Informationen am Arbeitsplatz, Mitteilungen auf Internet, Strassenplakate und die amtlichen Unterlagen häufiger als ältere. Diese wiederum greifen in Abstimmungskämpfen mehr zu Zeitungen, um sie zu lesen, schauen häufiger fern, hören mehr Radio, um sich zu informieren. Damit hängt zusammen, dass sie zahlreicher Leserbriefe mit einbeziehen, Inserate konsultieren, generell mehr Werbung der Komitees beachten, direct mailings nutzen und bei Standaktionen häufiger einen Halt einschieben.

Klar gesagt sei, dass der aufgezeigte split nicht bedeutet, dass die einen nur das eine, die anderen nur das anderen nutzen würde. Die Differenzen sind eher gradueller Natur. Erheblich ist der Generationenwechsel bei Radio und Leserbriefen. Die Nutzungswerte kennen, in den beiden unterschiedenen Gruppen, einen Unterschied von gut 15 Prozent, derweil es beim Internet das Umgekehrte im vergleichbaren Masse gibt. Interessant ist, dass damit auch die politische Information am Arbeitsplatz, lange weitgehend verpönt, bei jüngeren BürgerInnen wieder häufiger verwendet wird, um politische Entscheidungen zu treffen.

Es trifft also zu, dass die Mediennutzung nicht nur quantitativ im Umbruch ist, sondern auch qualitativ – und dass sich der Medienmix in der politischen Kommunikation ändert! In Abstimmungskämpfen für die neuen Generationen neu erfinden muss sich vor allem das Radio. Derweil kann man davon ausgehen, dass Leserbriefe in Zeitungen als typische Form der Meinungsbildung in der Schweiz ein Phänomen älterer Menschen wird, während der Ersatz in der elektronischen Kommunikation via Internet zu suchen ist.

Mehr über Generationen in der Politik, besonders bei Wahlen, gibt’s übrigens am kommenden Montag in meinem Vortrag an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Brugg, wo ich über “Parteien für neue Generationen – neue Generationen von Parteien” sprechen werde.

Claude Longchamp

Zum Beispiel Baden.

Das Staunen war gross, als der grüne Nationalrat Geri Müller neuer Stadtammann von Baden wurde. Im Windschatten davon eroberte die Linke die Regierungsmehrheit in der aargauischen Kleinstadt. Nun erlaubt eine Uebersicht über die parteipolitische Zusammensetzung der Schweizer Städte eine Einordnung.

Der Vorgang ist keine Einzelfall, vielmehr typisch für das, was in den urbanen Zentren der Schweiz leit längerem abgeht, wie der Schweizerische Städteverband in einer jüngst publizierten Bericht zur parteipolitischen Zusammensetzung der städtischen Exekutiven (im Vorjahr) darlegt.

Vor dreissig Jahren besetzten FDP, CVP und SVP in den Städten mit mehr als 50’000 EinwohnerInnen drei von fünf Sitze in den Regierungen. Seit rund 10 Jahren sind die Verhältnisse umgekehrt, sind doch SP, GPS und kleine Linksparteien in der Mehrheit. Am meisten gelitten hat dabei die FDP. Ueberblickt man alle Städte bleiben die Liberalen indes die führende Einzelpartei, sowohl in den Exekutiven wie auch in den Stadtpräsidien.


Quelle: Schweizerischer Städteverband, Grafik NZZ

Allerdings, nicht nur strukturelle Verhältnisse sind entscheidend, vielmehr gibt es auch erhebliche kulturelle Unterschied. So kennt Carouge 100 % linke StadträtInnen, derweil ihr Anteil in Wetzikon bei 0 liegt. Ueberhaupt resultiert ein auffälliger Unterschied zwischen Westen und Osten. Was westliche der Linie eine Mehrheit für die Linke fast schon Normalität ist, findet sich das östlich davon gerade Zürich, Schaffhausen und Winterthur – und seit 2 Wochen in Baden. Das Gegenteil zeigten die jüngsten Wahlen in St. Gallen, wo die Linke in der Stadtregierung gar nicht mehr vertreten ist.

Zum urbanen Umbruch gehört auch, dass der Frauen-Anteil in städtischen Exekutiven zugenommen hat. Auslöser war hier die Nicht-Wahl von Christiane Brunner in den Bundesrat im Jahre 1993. Das liess insbesondere in der grossten Städten der Frauenanteil sprunghaft ansteigen, mit der Folge, dass er auch in mittleren und kleineren Städten kontinuierlich zunahm. Aktuell haben sich die Werte zwischen 25 und 30 Prozent eingependelt.

Ueberhaupt, scheint der Links-Trend in den Schweiz-Exekutiven eine Sättigung erreicht zu haben. Höhepunkt in der Parteienstärke war bei Nationalratswahlen das Jahr 2003. Seither entwickelt sich der Anteil bei (nationalen) Parlamentswahlen wieder leicht zurück. Hauptgrund ist die Neuformierung der Parteienlandschaft, wobei insbesondere die GLP seit 2007 eine Konkurrenz darstellt und 2011 ist auch die BDP hinzu gekommen ist. Seither wächst die Mitte in urbanen Gebieten zu Lasten der Pole, und die GLP befindet sich da jetzt schon in der Leadrolle.

Baden ist damit das jüngste Beispiel in einer Kette von politischen Veränderungen im urbanen Raum, keinesfall ein Trendsetter, sondern vollzieht nach, was in den 90er Jahren im grossstädtischen Raum entstanden ist und heute zum urbanen Phänomen geworden ist.

Claude Longchamp

Wie das Schweizer Konkordanzsystem effektiv funktioniert

“Wer regiert die Schweiz?”, ist eine der beliebtesten Fragen in Wissenschaft und Publizisitik. Eine variable Allianz die sich namentlich bei offenen vorparlamentarischen Prozessen, aber auch angesichts der Europäisierung der Schweizer Politik aus unterschiedlichen Akteure aus dem Mitte/Rechts resp, Mitte/Links-Spektrum zusammenfindet, ist die Antwort einer jüngst erschienen Genfer Dissertation.

Machtteilung und Kompromissfindung sind wohl die berühmtesten Stichworte, wenn es gilt, das politische System der Schweiz zu umschreiben. Konsensdemokratie, der dritte Begriff im Bund, ist bis heute in der politikwissenschaftlichen Literatur geläufig, wenn man theoretisch über unser Land spricht.

11 Fallstudien als Basis
Und wenn man genauer hinschaut, wie es Manuel Fischer in seiner jüngst erschienen Doktorarbeit gemacht hat? 11 Fallstudien, die wichtigsten Sachfragen zwischen 2001 und 2006 betreffend, hat er mittels Interviews bei Handelnden, Berichterstattenden und AnalytikerInnen dokumentiert und mit Netzwerkanalysen seziert, um zum Schluss zu kommen, dass gerade eine der untersuchten Entscheidungen dem besagten Ideal entspricht. Fünf scheinen widersprechen ihm offensichtlich, weitere fünf bestätigen die Theorie teilweise, widersprechen ihr aber auch ebenso.

Dennoch zieht Fischer einen erstaunlich positiven Schluss über die Funktionsweise der Konkordanzdemokratie in der Schweiz. Kritisiert wird auch bei ihm der Mangel an Innovation, gelobt wird dagegen die anhaltende Fähigkeit zur Integration. Das Referendum, die Vielzahl an Minderheitsparteien, die historische Erfahrung mit der Vermittlung zwischen kulturell gespaltenen Teilgesellschaften nennt er als Gründe, warum angelsächsische Vorstellungen der Demokratie mit klar geteilten Aufgaben zwischen Regierung und Opposition hierzulande versagen würden.

Typologie der Entscheidungsstrukturen
Seine eigens für die Dissertation entwickelte Typologie der Entscheidungsstrukturen unterschiedet zwischen Machtverteilung einerseits, Akteurskonstellationen anderseits. Ist die Macht in einer Entscheidung verteilt und wird zwischen den Akteursallianzen vermittelt, spricht er von Muster des Kompromisses. Bilden sich dagegen Koalitionen, zwischen denen polarisiert wird, nennt er den Entscheidungsstil den der Dominanz. Dazwischen figurieren die Konkurrenz und der Konsens. bei denen es entweder verteilte Macht, aber keine Annäherung der Akteure gibt, oder aber eine vorherrschende Koalition existiert, die von der Minderheit nicht bekämpft wird.


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In den 11 Fallstudien ist die Dominanz eine Koalition als Entscheidungsstruktur am häufigsten. Das war beispielsweise der Fall, als es um den Neuen Finanzausgleich, um das Entlastungsprogramm 2003, das Ausländergesetz, die Erweiterung der Personenfreizügigkeit und um den Beitritt zu den Abkommen von Schengen/Dublin ging. In allen Fällen etablierte sich im Verlauf des Prozesses eine Gruppe mit ähnlichen Präferenz und hoher Interaktion rund um einen Lösungsvorschlag, der so mehrheitsfähig wurde und auch gegen Minderheiten bis hin zur Referendumsabstimmung durchgesetzt werden konnte.

Wer regiert die Schweiz?
Die fünf Fälle sind es denn auch, die Fischer aufgreift, um die Frage zu beantworten, wer die Schweiz heute regiere. In allen fünf Fällen waren Bundesbehörden, das parteipolitische Zentrum, bisweilen von der Wirtschaft geführt in der Mehrheitskoalition vereint. Doch hätte das nicht gereicht, wenn es nciht zu einer relevanten Ausdehnung gekommen wäre. Bei den beiden Europa-Entscheidungen war das die Linke, bei den anderen Vorlagen die Rechte.

EU-Fragen, Infrastrukturthemen, insbesondere im Verkehrsbereich und Bildungspolitik sind denn auch die Bereiche, in denen gemäss Fischer eine Allianz aus Mitte/Links die Schweiz führt, derweil in Finanz- und Migrationsfragen eine aus Mitte/Rechts das tut. Ausgesprochen konfliktreich sind dabei die EU-Fragen, denn hier kommt es in der Regel zu Volksabstimmungen, bei denen sich die SVP als Opposition profilieren will. In anderen Fällen scheint ihr das wenig wichtig zu sein, selbst wenn sie nicht Teil der Koalition war, welche die Gesetzesarbeit bestimmte.

Opposition von links gibt es nach Fischer vor allem dann, wenn die Macht zwischen Koalitionen einigermassen gleichmässig verteilt ist. In Fischers Untersuchung war das beim Kernenergiegesetz der Fall, aber auch bei der 11. AHV-Revision. Bei letzterem kam es schliesslich zu einer Referendumsabstimmung, mit der die Gesetzesarbeit der Behörden schliesslich aufgehoben wurde.

Weiterführung der Pionierarbeit aus dem Jahre 1980

1980 legte Hanspeter Kriesi erstmals ein Standardwerk zu Entscheidungsstrukturen und Entscheidungsprozessen in der Schweizer Demokratie vor, das sich ebenfalls mit der Netzwerkanalyse der Sache näherte. Fischer nimmt auf diese Pionierarbeit ausdrücklich Bezug, nicht ohne die Unterschiede zu betonen. Denn in den 70er Jahren dominierten die sozio-ökonomischen Verteilungsfragen, welche meist eine Polarisierung mit bürgerlicher Mehrheit und linker Minderheit hervorbrachten.

Das hat sich zwischenzeitlich gründlich geändert, denn Fischer spricht sich klar für eine Dreiteilung der Akteurslandschaft aus. Hauptgründe für diese Veränderungen arbeitet er zwei heraus: ein geöffnetes vorparlamentarisches Verfahren und die Europäisierung der Schweizer Politik. Beides habe nicht einfach ein neues System hervorgebracht, wie machen meinten, aber die Entscheidungsstrukturen verändert. Denn als Folge beider Wirkkräfte kann der Autor zeigen, dass eine Koalitionsbildung befördert werde, deren parteipolitische Zusammensetzung durch die Themenstellung bestimmt sei. Denn die Oeffnung von Entscheidung bevor sich Regierung und Parlament festlegten, erlaube es, Netzwerke mit gemeinsamen Präferenzen zu identifizieren und sie gezielt zu organisieren, um die eigenen Durchschlagskraft zu verbessern. Bei der Europäisierung führt der meist geringen Handlungsspielraum der Schweiz dazu, dass sich die Kräfte zusammenfinden, die konsequent für die Bilateralen sind, derweil die anderen in die Sachopposition wechselten.

Meine Würdigung
Die Untersuchung, 2012 beim Politikwissenschafter Pascal Sciarini von der Uni Genf angenommen, erhielt diesen Januar 2013 den Preis für die beste politikwissenschaftlichen Dissertation, die im Vorjahr an einer Schweizer verfasst worden war. Die Stringenz der Analyse, die sich auch in einer vorteilhaften sprachlichen Darstellung wiederfindet, berechtigt die Auszeichnung durchaus. Nicht alles, was aufgezeigt wird, ist allerdings neu; zahlreiche quantifizierende Untersuchungen über Mehrheitsbildung namentlich im Parlament legen seit einigen Jahren nahe, was jetzt anhand schwergewichtiger Entscheidungen klar ersichtlich belegt worden.

Der eigentliche Wert der Arbeit kommt vor allem in der gelungenen Einbettung empirischer Ergebnisse in die Theoriebildung zum Ausdruck. Diese erweitert unser Verständnis von Konkordanzdemokratien, mindestens, das für das Beispiel der Schweiz. Bezogen auf die Mehrheitsbildung von Fall zu Fall ist man nach der Lektüre der Arbeit mit aktuellen Beispiele ausgerüstet und von der Vorstellung geheilt, in der Schweiz gebe es ein Demokratiemuster mit einer Entscheidungsstruktur. Vielmehr lernt man bei Fischer, dass es auch heute ein erstaunlich gut funktionierendes System gibt.

Zwar sieht auch Forscher Fischer in den Veränderungen im Parteien- und Mediensystem Gründe für eine wachsenden Konflikthaftigkeit der Schweiz Politik. Anders als Skeptiker ist das für ihn aber kein Grund, vom Ende der Konkordanz zu reden. Vielmehr ortet der Optimist gerade darin neue Chancen der flexiblen Problembewältigung mit Pendelausschläge von Mitte/Rechts bis Mitte/Links.

Realistischerweise wird man etwa nach der gescheiterten Gesundheitsreform „Managed Care“ oder dem Gegenvorschlag zur Abzocker-Initiative nachhacken und sich die Frage stellen müssen, ob die zwischenzeitlich noch mehr relativierte Stärke von CVP, FDP und Economiesuisse, dem Kern der Entscheidungsstruktur, auch zu Null-Entscheidung durch unheilige Allianzen spätestens bei Volksabstimmungen führen müsse. Sollte sich dieser neue Befunde aus der Praxis verallgemeinern, müsste man die wissenschaftliche Analyse der Entscheidungsstrukturen in der Schweizer Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts bald neu schreiben. Bis dahin ist dem Grundlagenwerk zur Gegenwartspolitik der Schweiz zu wünschen, dass es in vielen Kursen als Lehrbuch eingesetzt und bald schon neu aufgelegt werden muss.

Claude Longchamp

Der Kanton Zürich analysiert sich selber

Das statistische Amt des Kantons Zürich hat die Analyse von Gemeindedaten bei Volksabstimmungen am weitesten entwickelt. Das zeigt auch die bereits gestern vorgelegte Untersuchung der Resultate zu den Volksabstimmungen vom letzten Wochenende.

Peter Moser vermisst den Kanton Zürich berufeshalber. Der Politikwissenschafter stützt sich dabei auf die amtlichen Gemeindedaten, die er mit hoher Fertigkeit interpretiert. Aufgrund der Unterschiede zwischen den Gemeinden hat er ein Raster entwickelt, um gesellschaftlichen und weltanschauliche Einflüsse in den Abstimmungsergebnissen schätzen zu können, ohne sich dabei auf die üblicherweise verwendeten Umfragen stützen zu müssen.

Gesellschaftliche Einflüsse unterscheidet der Statistiker zwei: die Urbanität und den Status. Ebenso geht er von zwei relevanten weltanschaulichen Einflüsse aus: die nationalkonservative und die Markt-Ideologie. Gerechnet wird mit multivariaten Verfahren, sodass die Bedeutung der Einflussfaktoren untereinander bestimmt werden kann, ohne dass dabei feste Prozentwerte entstehen, wie gross die Zustimmung oder Ablehnung war.


Quelle: Kanton Zürich, Statistisches Amt: statistik.info 2013/01, eigene Drstellung
Lesebeispiel: Die Prozentwerte sind keinen Angaben zum Stimmverhalten, sondern zur Bedeutung der Faktoren in der Erklärung der räumlichen Unterschiede. Faktoren, die keinen eigenständigen Erklärungsbeitrg leisten, sind nicht signifikant.
Grafik anclicken, um sie zu vergrössern.

Moser folgert, der Familienartikel wurde in erster Linie aus weltanschaulichen Gründen abgelehnt. Je intensiver eine Gemeinde durch eine nationalkonservative Wählerschaft geprägt wird, desto eher lehnte sie die Vorlage ab. Umgekehrt, je urbaner eine Gemeinde ist, desto eher war sie dafür. Zweiteres erklärt aber weniger als Ersteres, zusammen kann man 83 Prozent der Gemeinderesultate so erklären. Nicht signifikant ist der Einfluss der anderen geprüften Faktoren.

Ganz anders ist das Profil der Gemeinderesultate bei der Abzocker-Initiative, die er zu 71 Prozent erklären kann. Gesellschaftliche und weltanschauliche Einflüsse sind dabei etwas gleich stark. Bei den Gesellschaftlichen dominiert der Status: Je wohlhabender die Gemeinden sind, desto eher stimmten sie gegen die Vorlage, je ärmer, desto eher dafür. Davon unabhängig signifikant bleibt der Stadt/Land-Gegensatz von Belang, denn auf dem Lande war die Zustimmung höher als in der Stadt. Weltanschaulich polarisierte die Vorlage auf der Staat/Markt-Dimension. Je mehr eine Gemeinde von einer Wählerschaft geprägt wird, die für Marktwirtschaft ist, desto eher votierte sie ablehnend, und umgekehrt. Der Grad an Nationalkonservatismus ist hier nicht signifikant.

Das Gemeindebild bei der Raumplanung erklärt sich aufgrund eines Mixes der Analyse bei den beiden anderen Vorlagen: Alles bestimmend war der Faktor nationalkonservativ, den die Ablehnung geht mit genau damit einher. Minimal von Belang sind die gesellschaftlichen Einflüsse, stimmten doch arme Gemeinden etwas vermehrt gegen das neue Raumplanungsgesetz.

Die Befunden bestätigen im Wesentlichen, was unsere Erstanalyse vom Sonntag Abend für die gesamte Schweiz ergeben hatte:

Sie zeigte insbesondere beim Familienartikel einen starken Zusammenhang mit dem Indiviudalisierungsgrad einer Region: Je mehr Menschen in einer Region ausserhalb traditioneller Familienformen leben, desto eher war diese dafür. Auch Moser interpretiert sein Ergebnis zum Einfluss des Urbanitätsgrades entsprechend. Klar war am Sonntag auch, dass die parteipolitische Aufladung der Vorlage im Abstimmungskampf ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. Gleiches gilt für die Raumplanung, die letztlich ein weltanschaulich bekämpft wurde, wobei es mit Ausnahme des Kantons Wallis dabei blieb, sodass exemplarische gesellschaftlichen Einflüsse die Ablehnung nicht verstärkten.

Profilierter als noch am Sonntagabend fällt das Ergebnis im Kanton Zürich bei der Abzocker-Initiative. Das hat dürfte mit der klareren Position der SVP im Kanton zu tun haben, deren Ja-Empfehlung einfacher zu vermitteln war als das Nein auf Bundesebene. Entsprechend kommt das nationalkonservative Element im Zürcher Ergebnis besser zum Ausdruck.

Man kann das auch so zusammenfassen: Die Analyse von Dimensionen im Abstimmungsergebnissen ist zwar limitiert, liefert aber robuste (und durchaus vernünftig) interpretierbare Resultate. Für die Vermittlung bleibt einschränken, dass Aussagen mit Zustimmungs- und Ablehnungsraten in bestimmten Gruppen ausbleiben müssen.

Vielleicht ware es, wenn ich mir diese Bemerkung erlauben darf, im Fazit konsequenter gewesen, keine Evaluierunng der SVP-Parolen zu den Vorlagen vorzunehmen, denn dies bleibt mit dieser Methode und der vorlegten Analyse letztlich spekulativ.

Claude Longchamp