Politische Gene statt politische Sozialisation?

Gibt es Gene, die politische Partizipation steuern? Mit dieser provokativen Frage versuchen gegenwärtig junge Forscher der Universität San Diego die Politikwissenschaft neu aufzumischen. Fragezeichen sind erlaubt, wenn man nicht nur auf Formeln und Grafiken schaut, sondern das Umfeld der Untersuchungen miteinbezieht.

Genetic Variation in Political Participation“, lautet der ungewöhnliche Titel eines Aufsatzes, der jüngst in der American Political Science Review” (2/102) erschienen ist. Das lässt aufhorchen: Prestigeträchtiges Journal und die renommierte Universität von San Diego sprechen schon mal für einflussreiches Umfeld. Eine Kritik des Zeitgeistes lässt aber auch verschiedene Zweifel aufkommen an der ersten Wirkung des Artikels aufkommen.

Kein neuer Befund
Alles andere als neu ist, dass sich eine hohe Uebereinstimmung in der politischen Partizipation zwischen der Eltern- und der Kindergeneration finden lässt. Gerade in den Vereinigten Staaten sind seit 50 Jahren unzählige Studien vorgelegt worden, wonach Jugendliche aus unpolitischen Haushalten vermehrt dazu neigen, selber unpolitisch zu werden und umgekehrt.

Die bisher zentrale Erklärung dafür griff auf sozialwissenschaftliche Konzepte der 70er Jahre zurück: die Sozialisation. Wenn man so will: auf die Vergesellschaftung des Menschen, die durch Vorbilder in Medien, Kulturen von Schulen, Nachahmung von Eltern und Vergleiche mit Peers entsteht. Umfeld-Faktoren haben seither ihren festen Stellenwert in der soziologisch ausgerichteten Erklärung politischen Verhaltens, die sich von einer Generation auf die andere überträgt.

James H. Frowler, Laura A. Baker und Christopher T. Dawes deuten das Neue anders: “Our results show participation ist heritable”. Da geht es nicht mehr über soziale Ueberträgung, da spricht man schlicht und einfach vom Vererbung.

Ihr Hauptargument beziehen die Politikwissenschafter auf Experimente in Los Angeles mit ein- und zweieiigen Zwillingen, die man um politische Fragestellungen erweitert hat. Demnach kann man einen signifikanten Anteil des politischen Verhaltens (nicht der politischen Entscheidungen) bei Wahlen auf bestimmte Genvariationen zurückführen. Kausal ist das zwar nicht belegt, statistisch aber schon. Vermutet wird nicht ein einzelnes “Politik”-Gen, jedoch eine Reihe von Genen, die das Verhalten mitbestimmen.

Wäre das alles mehr als statistische Evidenz, wäre es Aufsehen erregend: Der freie Wille, der politischem Verhalten zugrunde liegt, wäre nicht nur relativiert, wie das Studien zu institutionellen Rahmenbedingungen, kulturellen Faktoren, gesellschaftlichen Einflüssen und psychischen Dispositionen schon lange annehmen. Vielmehr würde er den genetischen Determinismus ersetzt. Das würde die abendländische Philosophie zutiefst erschüttern, denn Politik wäre nicht mehr wie seit Aristoteles ein Produkt des sozialen Wesens. Sie wäre nach den San-Diego-Boys und -Girls nur noch eine bstimmbare Folge vererbter biologischer Funktionen.

Eine distanzierte Analyse
Ich will das alles gar nicht richtig ernst nehmen! Nicht nur, weil ich eine andere Forschungsrichtung vertrete. Ich bin vielmehr überzeugt, dass man auch in Zukunft aus Speichelproben weniger über Wahlbeteiligungen herauslesen wird als aus Umfrageergebnissen bei Inidividuen und Vergleichen zwischen Wahlsystemen. Ich sehe in den Schlagzeilen aus der amerikanischen Forschung vor allem ein forschungsimmanentes Problem: Wichtige Geldgeber aus der nationalen Wissenschaftsförderung sponsoren immer wieder ausgefallene Ideen. Das belebt die Grundlagenforschung zurecht resp. prägt die wissenschaftlichen Journals. Das kann zu neuen Erkenntnissen jenseits einspielter Denkmuster führen, muss es aber nicht! Es können auch wissenschaftliche Moden sein, die weniger aus der Empirie als aus dem Zeitgeist abgeleitet sind. Und genau dahin zielt meine Kritik.

Ich will die Testergebnisse per se gar nicht bestreiten. Ueber ihre Relevanz kann man geteilter Meinung sein. Ich sehe vor allem eine Vermengung von theoretischen Ueberlegungen. In der Diskussion der emprischen Befunden ist man nämlich viel vorsichtiger als im Lead zum genannten Artikel. Da heisst es dann typischerweise: “The results presented here suggest that there is some (possibly large) set of genes whose expression – in combination with environmental factors – regulates political participation.” Weicher kann man es gar nicht mehr sagen!

Politik: ein soziales oder als biologisches Phänomen?
Denn damit sind wir trotz aufwendiger Datenbeschaffungen mit neuen Experimenten wieder bei den bekannten Umfeldeinflüssen. Sie haben die Modernisierung der politischen System seit den bürgerlichen Revolutionen als Voraussetzungen der politischen Breitenbeteiligung gesehen. Sie haben gezeigt, dass diese mit einer Vielzahl sozio-kultureller und sozio-ökonomischer Faktoren entsteht. Und sie haben uns ausgeführt, dass es in diesem Uebergang bestimmte Einstellungs- und Verhaltens-Inidikatoren gibt, die ihrerseits schicht-, generations- und geschlechtsspezifisch verteilt sind.

Wenn man nun den ganzen Vorspann weglässt, um ihn undiskutiert mit der generellen Evolution des Menschen zu ersetzen, wenn man gleichzeitig das Politische im Menschen negiert, und das auf die Genstrukturen reduzieren will, dann spiegelt das meines Erachtens mehr den Zeitgeist als die Daten. Den Menschen auf seine Gene beschränken zu wollen, ist eine in die Naturwissenschaften durchaus vorherrschende Sichtweise, die sich bei der Untersuchung physischer Prozesse bewährt hat. Ob sie aber auch die Psyche erklärt, ist, mit Verlauf, mehr als umstritten.

Gerade in den Sozialwissenschaften, die versuchen, sich methodisch an die Naturwissenschaft anzulehnen ohne deren Philosophie zu übernehmen, muss man hier Einspruch erheben. Und man muss einmal mehr Emil Durkheim erinnern. Demnach sind soziale Erklärungen des Sozialen immer vorzuziehen, um nicht erneut in die Fehler der frühen Sozialwissenschaften zu verfallen, die sich im Gefolge der Positivisten des 19. Jahrhunderts verbreitet hatten.

Claude Longchamp