Das Dilemma der “Politischen Kultur”-Forschung

(zoon politicon) “Politische Kultur” ist für die Sozialwissenschaft kein einfacher Begriff. Im Alltag häufig verwendet, ist er seit 1945 auch in die Sprache der Politik- und Gesellschaftswissenschaften aufgenommen worden. Im Englischen wird er mehrheitlich als “mass culture” verstanden, im Französischen normalerweise im Plural verwendet (“les cultures politiques”), und im Deutschen gibt es zahlreiche unterschiedliche Konotationen.

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Das breit angelegte Lehrbuch
Vor genau diesem Dilemma steht das Lehrbuch der beiden deutschen PolitikwissenschafterInnen Susanne und Gert Pickel. Und die AutorInnen stehen dazu: Die Politische Kultur-Forschung ist einerseits als Demokratieforschung nach dem 2. Weltkrieg entstanden und entwickelt sich dort weiter, anderseits beschäftigt sie sich vor allem seit den 60er Jahren mit den Einflüssen der gesellschaftlich bestimmten Kultur auf die Politik. Sie ist dabei zunächst empirisch-analytisch ausgerichtet, kann sich aber von den Zusammenhängen, in denen sie entstanden ist, nicht lösen.


Die Ausbildung der spezifischen politischen Kulturforschung

Im Lehrbuch kommen zunächst die wesentlichen Ansätze zur Sprache: Die allgemeinen Vorgehensweisen der amerikanischen Forschung in Anlehnung an Gabriel Almond und Sidney Verba, sowie die speziellen Ansätze, die Ronald Inglehard für den Wertwandel und Robert Putman für die Bestimmung von Sozialkapital in die Forschung eingebracht haben, werden vorgestellt. Das Buch spart nicht mit der Kritik dazu Die Einwände der Verhaltensforscher wie auch am kulturalistischen Selbstverständis des Wissenschaftszweiges kommen ebenso vor wie die eigenständige Konzipierung von politischer Kultur, die Karl Rohe vorgeschlagen hat, zur Sprache.

Für Rohe ist die aus der Umfrageforschung entstanden Bestimmung von politisch Kulturen im Nationalstaatenvergleich unzureichend, denn sie erschliesst einem nur die Soziokultur, wie es der Kritiker nennt. Vor allem entwickelt die vergleichende Sozialforschung kaum ein Verständnis für den Wandel politischer Kulturen. Rohe geht demgegenüber von einem dynamischen Konzept aus, das sich aus dem Verhalten und den Denkweisen der Akteure ergibt, die mit ihren Ordnungskonzepten des Politischen um die Deutungsmacht ringen und so nebst der Soziokultur auch Deutungskulturen etablieren. Diese sind zwar von der Soziokultur (oder Teilen davon) abhängig, einmal etabliert formen und verändern sie die Soziokultur auch.

Die Rückführung in die Demokratieforschung

Die Beobachtung politischer Kultur setzt bei der mainstream-Forschung beim Bürger/bei der Bürgerin an. Den möglichen individualistischen Fehlschluss überwindet sie, wie das Lehrbuch mehrfach zeigt, durch Aggregation und Ländervergleich. Die Minderheit der Forschenden, die Karl Rohe folgen, orientiert sich dagegen an der Meso-Ebene: dem Kampf der Akteure um die Deutungshoheit, die sich, so die beiden Pickels, besonders in Krisensituationen zeige.

Der zweite Teil des Buches konzentrieren sich die AutorInnen dann ganz auf die Makro-Ebene. Politische Kultur wird dabei nicht mehr hergeleitet aus Mentalität und Handlungsweisen, sondern anhand institutioneller und verfassungsrechtlicher Grössen bestimmt. Was Gabriel Almond für die Bestimmung von Massenkulturen bedeutet, ist Robert Dahl für die empirische Demorkatieforschung. Entsprechend stellt das Lehrbuch sein Polyarchie-Konzept breit vor und weist nach, wie es sich bis zum viel diskutierten Demokratieindex des Finnen Tatu Vanhanen weiterentwickelt hat. Schliesslich werden die heute so beliebten Untersuchungen der demokratischen Verfassungswirklichkeiten breit vorgestellt und diskutiert.

Wie es ist, wenn es kein Paradigma gib
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Lange Zeit wurde diskutiert, ob Thomas Kuhns Analyse der Wissenschaftsentwicklungen in Paradigmen richtig sei oder nicht; dabei ist auch viel Kritik geübt worden an der Vorstellung, dass die Wissenschaft sich revolutionär entwickle und nach jeder Revolution einen Muster an Denk- und Vorgehensweisen entwickle, das sich in der Forschung weitgehend durchsetze. Wer sich mit der politischen Kulturforschung beschäftigt, merkt schnell, wie es ist, wenn sich, für einmal, gar kein dominantes Paradigma in der Definition des Gegenstandes, der Wahl der Ansätze und der Bestimmung geeigneter Methoden entwickelt hat. Das wiederum haben Susanne und Gert Pickel zum Anlass genommen, die offen verwendeten Konzept zur Annäherung an politische Kultur in einem Lehrbuch Interessierten vorzustellen. Und genau das ist ihnen gelungen, – mit allen Stärken und Schwäche der Sozialwissenschaften, die sich nicht nur mit abtrakten Systemen, sondern mit kulturell gewachsenen Beispielen beschäftigen.

Claude Longchamp