Direkte Demokratie ist eu-kompatibler als man gemeinhin denkt

Wäre die Schweiz 1992 dem EWR beigetreten, hätte sie 94 Prozent aller Volksabtimmung seither genau gleich durchführen können, und bei einem EU-Beitritt wären es 85 Prozent gewesen. Den Vorteilen im Einzelfall stehen aber Nachteile bei Grundsatzfragen gegenüber, bei denen die Schweiz mit den Bilateralen ausgeschlossen bleibt. Das sagt Thomas Cottier in einem Gutachten, das die Sonntagszeitung gestern veröffentlichte.

cottier
Prof. Thomas Cottier, Verfasser der neuesten Gutachtens zu EU und direkte Demokratie in der Schweiz

Der neue Diskussionsstil
In diesem Sommer änderte sch einiges an der Art der Europa-Debatte in der Schweiz: ie Denkfabrik Avenir Suisse publizierte zuerst eine Analyse der Souveränitätswahrung mit dem Status Quo und denkbaren Weiterentwicklungen. Das Ergebnis fiel ausgesprochen nüchtern aus. Der EU-Beitritt hat finanzielle Nachteile, die durch politische Mitsprache kompensiert werden. Der Preis für einen EWR-Beitritt ist deutlicher geringer, allerdings fallen auch die politschen Möglichkeiten der Mitbestimmung entsprechend aus. Der Bilaterale Weg schliesslich ist der für die Schweiz optimale Weg in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, doch droht er in einer Sackgasse zu enden, wenn das Interesse der EU schwindet.

Gestern nun hat die Sonntagszeitung, seit dieser Ausgabe unter Martin Spieler als neuem Chefredaktor, die Frage mit den Plus und Minus einer verstärkten Integration mit Bezug auf die Volksrechte aufgenommen. Das Gutachten erstellte Thomas Cottier, auf einmal Schweizer Koryphäe für Europarecht und EU-Beitrittsbefürworter.

Fact-sheet Volksrechte
Wäre die Schweiz 1992 dem EWR beigetreten, hätten sich die folgenden Aenderungen ergeben: Bei 10 der 163 Vorlagen wäre es zu Problemen verschiedener Art gekommen. Acht davon betreffen Volksinitiativen, von denen 6 verworfen, zwei aber angenommen wurden. Namentlich sind dies die Alpen-Initiative von 1994 einerseits, das Gentech-Moaratorium von 2005 anderseits. Zwei der Abstimmungen aus jüngster Zeit hätten so wie gehabt nicht stattgefunden. Konkret sind dies die Einführung resp. die Erweiterung der Personenfreizügigkeit, bei denen aber auch die Folgen einer Ablehnung für die Bilateralen ein Gegenstand der Diskussionen waren.

Wäre die Schweiz im gleichen Zeitraum bereits EU-Mitglied gewesen, wären die Differenzen grösser, aber auch nicht fundamental gewesen. 3 Abstimmung wären obsolet gewesen und hätten gar nicht stattgefunden. Sie alle betreffen Fragen des EU-Beitritts oder der Teilmitgliedschaft wie den Bilateralen I. Ueber den Beitritt zum Schengenraum hätte man indessen auch bei einem vorgängigen EU-Beitritt abstimmen können. Die Zahl der problematischen Volksinitiativen erhöhte sich auf 14, von denen drei angenommen wurden. Zu den beiden oben erwähnten Fällen käme der Gegenvorschlag zur Landwirtschaftsinitiative von 1996 hinzu.

10 Mal wären Behördenvorlagen nicht ohne Schwierigkeiten zur Abstimmung gelangt. Die Erhöhung der Treibstoffzölle (1993), die Einführung der LSVA (1998) und der Getreideartikel (1998) widersprechen EU-Recht. In sieben weiteren Fällen hätten Folgeabstimmungen nach Grundsatzentscheidungen nicht durchgeführt werden können. Sie betreffen zweimal die Erweiterungen der Personenfreizügigkeit und das Referendum gegen die Biometrischen Pässe, während die Zahlungen an den Kohäsionsfonds in der Form obsolet gewesen wären.

Kommentare
EU-Optimisten und Skeptiker reagieren unterschiedlich auf das Gutachten. Auf der einen Seite hätten sich klar mehr Richtlinien ergeben, die man, einmal angenommen, hätte umsetzen müssen resp. deren Nicht-Realisierung ihren Preis gehabt hätte. Auf der anderen Seite sind die Möglichkeiten zu erwähnen, die uns entgangen sind. So hatte die Schweiz keinen Einfluss auf die Ausarbeitung oder Entscheidfindung bei den Verträgen von Amsterdam oder Nizza, und sie konnte bei den Erweiterungen nicht mitentscheiden, genauso wenig wie sie bei der EU-Verfassung abstimmen durfte.

Eines habe ich an diesem Wochenende gelernt: EU-Integration und direkte Demokratie schliessen sich nicht grundsätzlich aus! Sie haben aber wechselseitige Konsequenzen. Zunächst müsste sich das Verständnis der direkten Demokratie im nationalkonservativen Lager von der selbstbezogenen Souveränitätsdefinition in jeder Einzelfrage zu einem Prinzip der Entscheidfindung weiterentwickeln, das auf einmal getroffenen Beschlüssen aufbaut, ohne diese immer wieder in Frage zu stellen. Doch auch für die Oekokonservativen wäre eine vermehrte EU-Integration eine Herausforderung. Denn die wirklichen Problemfälle unserer Entscheidungen stammen vorwiegend aus ihrem Bereich, seien es Verkehrs-, KonsumentInnen- oder Landwirtschaftsbereich. Am geringsten wären die Auswirkungen wohl für das Parlament, das einige seiner Entscheidungen nicht hätte treffen dürfen oder müssen.

Das Wesentliche aber wurde nicht wirklich gesagt: Dass die Schweiz als Musterland der direkten Demokratie glaubwürdig zeigen könnte, wie diese Form der Entscheidung in einem mittelgrossen Staat Platz hat und damit Vorbild für eine Reihe von Nationalstaaten oder Bundesländern in EU-Mitgliedstaaten werden könnte.

Claude Longchamp