Schweiz, Oesterreich, Deutschland: politische Kulturen im Forschungsvergleich

Es hat gedauert, bis der Band wirklich erschienen ist. Doch liegt mit dem Buch „Deutschland, Oesterreich und die Schweiz im neuen Europa“ nun ein umfangreicher Sammelband vor, der in der ländervergleichenden politischen Kulturforschung mittels Umfragen neue Massstäbe setzt.

9783832949945

Oscar Gabriel, Politikprofessor in Stuttgart, hat die Einleitung zu „Citizen Politics“ als wissenschaftliches Konzept verfasst, in der es ihm um eine Neudefinition des Verhältnisses von „Bürger und Politik“ (in der Demokratie) geht. Politische Einstellungen, politische Kommunikation und politisches Verhalten sind seine Grundkonzepte. Damit definiert er den Gegenstand offener, als es die Begründer in den USA taten, aber auch im deutschsprachigen Raum nach Max Kaase üblich war. Auch geht der Kenner der Materie über die individualistischen und funktionalistischen Ansätze der bisherigen Politischen-Kultur-Forschung hinaus, wenn er zwei neue Forschungsperspektiven diskutiert: einerseits die Differenzierung in zentrale und periphere Elemente der Staatsbürgerkultur, anderseits eine stringentere Verknüpfung zwischen Mikro- und Makroebene einschliesslich der damit verbundenen Kausalitätsfragen.

Im Sammelband folgen drei Länderkapitel, je eines zu Deutschland, Oesterreich und der Schweiz. Sie sind im Ansatz gleich aufgebaut, um als Nachschlagewerk über Zeit und Raum die aktuellen Ergebnisse aus der Umfrageforschung. Verfasst wurden Oscar Gabriel und Kajta Neller (Stuttgart) aufgrund deutscher, von Fritz Plasser und Peter Ulram (Innsbruck/Wien) anhand österreichischer und von Bianca Rousselot und mir (beide Bern) mit schweizerischen Daten. Dabei schöpfen alle AutorInnen aus dem Fundus der nationalen Forschungsergebnisse, soweit ihnen diese aus der theoretischen und vergleichenden Perspektive sinnvoll erscheinen. Die Bezüge zu Demokratie, politischer und medialer Involvierung und der Unterstützung nationaler und europäischer System interessieren dabei in allen drei Kapiteln gleichermassen.

Das alles wir im Synthesekapitel der beiden Editoren Gabriel und Plasser in zwei Schritten vereinheitlicht und summarisch mit den Resultaten in Verbindung gebracht, welche ein analoges Unterfangen vor 20 Jahren für die drei (damals noch vier) Länder hervorgebracht hatte. Der wichtigste Befund hierzu ist, dass die nationalen Besonderheiten, die stark aus der Struktur des jeweiligen nationalen politischen Systems abgeleitet werden konnten, zwar nicht verschwunden sind, aber erheblich eingeebnet wurden. Rangierte die Schweiz hinsichtlich der “Citizen Politics” Ende der 80er Jahre überraschender Weise nur auf Rang 3 im Dreiländer-Vergleich, und lag (für mich ebenso erstaunlich) Oesterreich an der Spitze, hat sich, aufgrund der Neudefinition der Kriterien ein Platzwechsel zwischen der Schweiz und Deutschland ergeben.

Konkret sind Demokratieunterstützung und -zufriedenheit in allen drei Ländern vergleichsweise hoch (letzteres kennt in der Schweiz einen Spitzenwert). Das gilt etwas eingeschränkt auch für die politische Einbettung, gemessen am kognitiven Engagement und an der Parteiidentifikation (wobei die Abstriche in Oesterreich und Deutschland etwas grösser ausfallen). Indes erweist sich die mediale Involvierung in politischen Fragen im Vergleich generell tief (ganz besonders in der Schweiz), ohne dass sich das nachteilig auf die politische Partizipation im konventionellen wie auch unkonventionellen Sinne auswirkt, während die Wahlbeteiligung in der Schweiz der direkten Demokratie wegen auffällig tief ist, und es weitgehend auch geblieben ist. Keine Auswirkungen lassen sich jedoch beim Vertrauen nachweisen, das gerade in der Schweiz am höchsten ausfällt – und zwar nicht nur auf die nationale Ebene bezogen, sondern auch auf die europäische. Dabei ist zu erwähnen, dass die Euroskepsis namentlich in Oesterreich, aber auch in Deutschland angesichts unerwarteter Hoffnung mit der EU-Mitgliedschaft am wachsen ist. In den beiden untersuchten EU-Staaten drückt sich das auch in einer mittleren Unzufriedenheit mit der nationalen Regierung und dem Output des politischen Systems aus, was in der Schweiz (noch?) wenig beobachtet werden kann.

Ganz interessant ist der Schluss des Buches, der alle Befunde im grossen europäischen Massstab diskutiert. Er legt nahe, dass die politische Kultur Russland nur mit sich selber verglichen werden kann. Darüber hinaus macht er deutlich, dass ein osteuropäischer, ein nordeuropäischer und westeuropäischer Typ existiert. Deutschland und Oesterreich gehören zum letzteren, während die Schweiz aus der Sicht der empirischen Komparatistik am meisten Gemeinsamkeiten mit Luxemburg (und mit Finnland) kennt und zu keinem Typ passt.

Der grosse Vorteil des übersichtlich gemachten Buches ist, die vergleichende politische Kulturforschung recht systematisch erfasst und ein Stück weit auch vorangetrieben zu haben. Die Länderkapitel können sowohl für die länderspezifische Forschung nützlich werden, wie auch den internationalen Vergleich befruchten. Am innovativsten ist sicher auch die Synthese, die auf den insgesamt 14 Indikatoren beruht, die national und europäisch sinnvoll erscheinen, inskünftig zum Kern der politischen Kulturmessungen gezählt zu werden. Wohl noch am wenigsten eingelöst wurde der Anspruch zu klären, wie politischen Strukturen und politischen Kulturen mehr als über ihre jeweilige Geschichte in ihrer Entstehung zusammenhängen.

Claude Longchamp