Eine interessante Studie ist in der Vorortsgemeinde von Bern zur Teilnahme ab Abstimmungen und Wahlen erstellt worden. Sie beobachtete BürgerInnen über die Zeit hinweg in ihrem Verhalten bei Volksabstimmungen. Der Forscher in mir ist entzückt, der Bürger erschreckt und der Demoskope erstaunt, welche weitrechende Schlüsse aus einer Fallstudie gezogen werden.
Ruedi Burger, parteiloser Gemeindepräsident von Bolligen, im Nebenamt Berner Journalist, verkauft “seine” Gemeinde gerne medienträchtig: mal mit einem gefällschten Ortsschild, mal mit einer überinterpretierten Fallstudie zur politischen Partizipation.
Oliver Heer analysierte die politische Partizipation bei 15 Abstimmungen und Wahlen in der Gemeinde Bolligen. Dafür bediente er sich nicht der klassischen Methode, der Befragung. Vielmehr erhielt er den Zugang zu den Daten der Gemeinde, die zeigen, wer jeweils teilnimmt, und wer jeweils der Entscheidung fernbleibt. Er analysierte also Beobachtungen.
Sein erster Befund lautet: Nur rund 1 Prozent nimmt immer teil, wenn die Bürgerschaft aufgerufen wird, politisch zu entscheiden. Und nur 15 Prozent beteiligen sich nie. 84 Prozent sind damit selektiv Teilnehmende.
Sein zweiter Befund heisst: Die Häufigkeit der Abstimmungsteilnahme variiert nach Kriterien, wie etwa der Integration und Schicht, nicht aber hinsichtlich des Geschlechts und des Alters.
Der erste Befund radikalisiert Vortellungen, die es in der politischen Partizipationsforschung der Schweiz seit rund 20 Jahren gibt. Demnach ist die Unterteilung in Aktive und Passive nicht korrekt, vielmehr gibt es regelmässig Teilnehmende, gelegentlich Partizipierende und konstant Abwesende. Die Zahlenverhältnisse wären aber, so die Bolligen-Studie, klar krasser als bisher angenommen zugunsten der selektiven Teilnahme verteilt. Der zweite Befunde überrascht nicht bei den sozio-ökonomischem Determinanten, wohl aber beim Alter. Denn alle anderen Auiswertungen hierzu verweisen mit hoher Regelmässigkeit auf entsprechende Abhängigkeit der politischen Partizipation in der Schweiz.
Nun können die Divergenzen in den Ergebnissen zum Anlass genommen werden, denn Stand der Forschung, der überwiegend auf Befragungsdaten basiert, einer kritischen Prüfung zu unterziehen.
Im Schwang ist es dabei, die Demoskopie für falsche abweichende Befunden verantwortlich zu machen und zu diskreditieren. Dafür müssten die gleichen Fälle mit verschiedenen Methoden untersucht worden sein.
Das ist es aber nicht, denn einmal hat man gesamtschweizerische Umfragen vor Augen, dann Beobachtungen in der Vorortsgemeinde. Wäre diese repräsentativ, ging der Vergleich noch. Doch auch das ist nicht Fall. Faktisch ist Bolligen eine reiche Vorortsgemeinde mit starker Ueberalterung, was Verzerrungen gerade in der Partizipation mit sich bringen kann. Diese Verdacht nährt schon der Vergleich mit der Quasi-Nachbargemeinde Bern, wo die Unabhängigkeit der Teilnahme vom Alter nicht belegt wird.
So bleibt der Einwand, dass Verallgemeinerungen aus Fallstudien erst dann gezogen werden sollten, wenn viele Fallstudien vorliegen, oder typologisch ausgewählte oder solche in klaren Durchschnitssgemeinde. Sonst vergleicht man Kirschen mit Melonen!
Dass es bisher nur wenige Studien mit der hier beschriebenen Methode gibt, hat seine Gründe. Der BürgerInnen-Beobachtung hängt der Geruch an, das Stimm- und Wahlgeheimnis zu unterlaufen. Das muss zwar nicht der Fall sein, man bewegt sich aber sehr nahe an der Grenze dazu. Diesen Verdacht auf keine Art und Weise schüren zu wollen, dürfte denn auch der Hauptgrund sein, weshalb “Bolligen” Bolligen ist und wohl auch für immer “Bolligen” bleiben wird.
Der erste Befund erstaunt mich eigentlich nicht. Er bestätigt, was ich schon vor Jahren einmal in der Zeitung gelesen habe, dass nämlich nur etwa 20% der Stimmberechtigten nie von ihrem Recht Gebrauch machen und eine grosser Teil sehr selektiv teilnimmt.
Lieber Herr Longchamp,
Ich war mir beim Verfassen dieser Studie sehr wohl bewusst, dass deren Ergebnisse nicht auf die gesamte Schweiz verallgemeinert werden können. Dies war auch nie der Anspruch dieser Studie. Trotzdem müssen auch die Resultate der Selects und VOX-Analysen hinterfragt werden. Vielleicht gibt es – mit Ausnahme der Gemeindeversammlungen, wo es offensichtlich ist – tatsächlich keinen Zusammenhang zwischen Alter und Stimmbeteiligung. Unbestritten ist ja, dass bei Befragungen die tatsächliche Partizipation um circa 15 Prozent überschätzt wird. Dies kann zwei verschiedene Gründe haben: entweder ist, wie gfs-Sprecher Lukas Golder ausführte, die Stichprobe der Befragten nicht repräsentativ oder ein Teil der Leute gibt an, teilgenommen zu haben, obwohl dies gar nicht der Fall war, um sich der sozialen Norm anzugleichen. Falls das zweite zutrifft, könnte es sein, dass ältere Leute öfters lügen als jüngere, da sie sich generell stärker verpflichtet fühlen, sich politisch zu engagieren. Falls sie dann einmal nicht partizipieren tun sie sich schwerer als Jüngere dies zuzugeben. Dies wäre ein Argument dafür, dass es tatsächlich keinen Zusammenhang gibt zwischen Alter und Stimmbeteiligung. Letztlich ist aber alles Spekulation. Um den wahren Ursachen auf die Spur zu kommen, müsste man die Stimmberechtigten in Bolligen befragen und in weiteren repräsentativeren Gemeinden äquivalente Studien durchführen.
Guten Abend Herr Heer.
Ihre Studie ist, soweit sie auf Daten basiert, in Ordnung. Ich habe das hier auch klar zum Ausdruck gebracht.
Nicht in Ordnung ist aber, dass Sie versuchen, mehr daraus zu machen, und andere Untersuchung in Zweifel ziehen.
Zum Beispiel, indem Sie unterstellen, Männner und Frauen würden in Befragungen unterschiedliche Partizipationsraten zeigen.
Das war mal so, vor mehr als 10 Jahren. Seither verringert sich der Unterschied, und er ist bei Abstimmungen kaum mehr relevant.
Ganz anders als Sie in den Unterlagen an der Medienkonferenz behaupten. Das stützen Sie sich schlicht auf veraltetes Material. Zwei Berichte, die sich auf dem web leicht greifen lassen, hätten ihnen das gezeigt.
Das ist schon mein Einwand: Sie stellen Vergleiche an, wie es ihnen passt: Zwischen Methoden, politischen Ebenen, und Zeiträumen. Differenzen führen dann nur auf die Stärke ihrer Methode und die Schwäche anderer Methoden zurück.
Um klar zu sein: Natürlich ist es ihr recht, die Befragungs-Ergebnisse zu hinterfragen. Die zwei hier aufgeworfenen Hypthesen sind an sich plausibel. Es gab sie aber schon vor der Bolligen-Untersuchung. Hätten sie sich wirklich dafür interessiert, hätten Sie ihre Lizarbeit besser gleich dazu verfasst. Die nötigen Daten dazu stehen der Wissenschaft zur freien Verfügung. Doch genau die haben sie nicht verwendet.
Schlimmer noch: In den Berichten zu ihrer Medienkonferenz kommen ja nicht die zwei diskussionswürdige Hypothesen rüber, sondern eine klare Entscheidung zugunsten einer der beiden. Ohne dass das aus ihrer Untersuchung abgeleitet werden kann.
So bleibt, leider, mein Verdacht, dass die Bolliger-Studie durch einen Ausflug ins Feld der unüberprüften Spekulation aufgewertet werden musste.
Dagegen wehre ich mich, denn es entspricht nicht meinem Verständnis empirischer Wissenschaften, deren Aufgabe es ist, den Wissensstand aufgrund geprüfter Aussagen weiter zu bringen.
Claude Longchamp
1. Manueller Trackback: http://www.direktedemokratie.com/2010/06/26/wer-beteiligt-sich-wie-haufig-an-direkter-demokratie/
2. Ist die Studie online verfügbar – als Primärquelle, damit ich mir eine eigene Meinung jenseits der Zusammenfassung von «cal» bilden kann?
Lieber Martin
danke für den Link.
Online habe ich die Studie nicht, die Unterlagen habe ich von einem Journalisten bekommen. Die Studie selber sei auf der Gemeindeverwaltung erhältlich.
cal
Liebe Leute,
Claude Longchamp ist wie immer bärbeissig, wenn einmal etwas nicht aus seiner Küche kommt. Ich möchte nur ein paar Dinge festhalten:
1. Es gehört zu den Legislaturzielen des Bolliger Gemeinderats, die Stimmbeteiligung hoch zu halten und weiter zu verbessern, und die Untersuchung verfolgt den Zweck, die Bolliger für das Thema zu interessieren.
2. Es hat nie jemand behauptet, Bolligen sei repräsentativ für andere Gemeinden.
3. Mich hat vor allem die Zahl der Totalverweigerer interessiert (rund 15 Prozent). Das ist ein Ergebnis, wie es meines Wissens auf diese Weise, eben halt doch zuverlässiger als mit Umfragen, noch nie erforscht war . . .
4. . .. ausser in der Gemeinde Birsfelden, wo ich ca. 1978 eine ähnliche Studie gemacht habe. Die Daten sind noch irgendwo vorhanden. Leider war ich damals mit meiner ersten Stelle und weiteren Aufgaben dermassen absorbiert, dass ich die Studie nie veröffentlicht habe. Jetzt bin ich motiviert, mir die Zahlen nochmals anzusehen.
5. “Stimm- und Wahlgeheimnis unterlaufen”: Wie die Leute abgestimmt und gewählt haben, ist natürlich anhand der abgegebenen Stimmrechtsausweise nicht zu ermitteln. Weil es aber schon ein Problem sein kann zu wissen, ob eine Person X überhaupt an der Urne war, habe ich Wert darauf gelegt, dass eine Person die Untersuchung durchgeführt hat, die Bolligen nicht kennt. Deshalb habe ich mich seinerzeit an die Universität Zürich und nicht etwa Bern gewandt (dass Adrian Vatter von Zürich nach Bern wechselte, konnte ich natürlich nicht voraussehen). Herr Heer hat keinerlei Ortskenntnisse, er kennt also Frau XY, die in der Stichprobe war, nicht. Ich selber habe natürlich keine Ahnung, welche Personen in der Stichprobe gezogen wurden.
Im übrigen freue ich mich, dass die Studie ein grösseres Echo ausgelöst hat, als ich es erwartet habe.
Rudolf Burger, Gemeindepräsident Bolligen
Lieber Ruedi Burger
Ob ich deshalb immer alles, was nicht aus meiner Küche komme, bärbeisse, kann man an diesem Blog überprüfen. Es ist entstanden, um die zahlreichen interessanten Ergebnisse aus der empirschen Forschung mit Praxisbezug, die gerade nicht (nur) von gfs.bern produziert werden, diskutieren zu können.
Wenn ich hier deutlich wurde, dann deshalb, weil die VOX-Analysen an der von dir geleiteten Bolliger-Medienkonferenz unsachlich angegriffen wurden. Stellung nehmen konnten mein Medienverantwortlicher erst, als es schon auf dem Web war. Um im Bild zu bleiben: als der Bär schon mal getroffen war!
Der Satz, 15 Prozent würden lügen, geht weder aus der Erhebung von Herrn Heer hervor, da er keine Befragung machte, noch aus den kritisierten VOX-Analysen, die gar nicht beigezogen wurden.
Das hätte eindeutig für Schweigen in dieser Sache an dieser Stelle gesprochen.
Hätte man wenigstens die wissenschaftliche Literatur hierzu korrekt widergegeben, wären differenzierte Interpretationen auf drei verschiedenen Pfaden nötig gewesen:
dem Pfad der nicht wahrheitsgetreuen Antworten (“Lügen”, “normkonforme Antworten”),
dem Pfad der Lerneffekten im Interview (“wegen der Umfrage an einem Thema Interesse gefunden”) und
dem Pfad der Nicht-Teilnahme von Nicht-Stimmenden in Abstimmungsumfragen (“mangelndes Interesse an beidem”).
Seit 10 Jahren verweisen unsere Evaluierungen der VOX-Bfragungen regelmässig auf die dritte Ursache. Ein Beispiel soll klar machen, worum es hier geht: An einer Abstimmung nehmen 40 Prozent teil, 60 Prozent nicht. Die angefragten Teilnehmenden machen zu 80 mit, die Nicht-Teilnehmenden zu 30 Prozent. Bei 1000 Befragten haben wir dann nicht 400 Teilnehmende, sondern 640. Und wir haben keine 600 Abwesende, sondern 360. Der ausgewiesene Wähleranteil ist damit 64 Prozent, 24 Prozent zu viel, ohne dass auch nur eine Person gelogen hätte.
Den VOX-Analysen ist das übrigens nicht abträglich: Denn sie wollen definitionsgemäss untersuchen, wer wie warum gestimmt hat.
Im “Bund” heisst es dazu aber, die ganze Differenz zwischen Umfragen und Resultat entsteht nur durch Angaben, die nicht wahrheitsgetreu geantwortet hätten.
Dem muss schlicht widersprochen werden.
Denn es schürt das Negativ-Image von Umfragen, was die Mitmachbereitschaft senkt. So wie Du in Bolligen für eine höhere Beteiligung bist, bin ich für eine solche in Umfragen.
Ohne irgend jemanden zu beissen, trotz gezieltem Streifschuss!
Jürg Steiner hat in den 60er Jahren eine ähnliche Untersuchung durchgeführt. Zuerst mit den Stimmrechtsausweisen, dann mittels Umfragen. Anschliessend konnte er überprüfen, wie viele Leute gelogen haben. In seiner Untersuchung waren das circa 20 Prozent. Beide Hypothesen (lügen und nicht-repräsentative Stichprobe) sind folglich plausibel und müssten überprüft werden. Aber auf gesamtschweizerischer Ebene könnte es schwierig werden an die Stimmrechtsausweise ran zu kommen. Das wäre doch einmal eine Herausforderung für das gfs-Institut.
Die Studie von Jürg Steiner kenne ich (sie wurde ja auch in Kooperation mit dem damaligen GfS gemacht).
Gegen die Gültigkeit der Ergebnisse aus den 60ern des 20. Jahrhunderts (50 Jahre alt!!!) gibt es zwischenzeitlich auch Einwände. Nicht wegen der Methode, die ist (und bliebt wohl) einmalig gut, und wird aus Datenschutzgründen (für die ich sehr wohl Verständnis habe) nie mehr repliziert werden können.
Der Einwand bezieht sich auf den politkulturellen Wandel. Das Bürgerleitbild vom treuen, (partei)loyalen Mann, der regional stark verankert, milieumässig wählt und stimmt, ist (mit wenigen Ausnahmen wie Wallis) schlicht erodiert. Neu entstanden sind individualistischere BürgerInnen, die sich aus Interesse, Betroffenheit und Aerger einbringen wollen, die normativen Ideen der Männerdemokratie aus der frühen Nachkriegszeit aber nicht mehr verinnertlicht haben.
Das lässt sich exemplarisch am Fall (resp. an der Nicht-Durchsetzbarkeit)des Wahlzwangs in allen Kantonen zeigen, der in den 70er Jahren eingesetzt hat.
Selbst in Schaffhausen, wo man am längsten dem (ausländisch performierten) Bürgerbild anhing, ist das zwischenzeitlich so.
Das war übrigens Thema des NFP-Projektes “Politische Kultur im Wandel” an dem ich mitarbeiten durfte. Unsere wichtigste Feststellung Ende 80er/Anfang 90er Jahre war ja, dass der selektive Urnengang, den sie jetzt bestätigt haben, entstehen würde.
Wir gingen aufgrund der damals verfügbaren Daten von 30 Prozent konstant Teilnehmenden und von 25 Prozent konstant Abwesenden aus, und dass auf kantonaler und kommunaler Ebene die Anteile kleiner sind.
Ihre Studie fügt sich da sehr wohl in das Annahmen ein, ist insofern neu belegt, aber nicht neu erfunden.
Mit dem erwarteten Wandel geht aber auch einher, dass das alte Bürgerleitbild, das Steiner untersucht hat, verschwindet. Damit entfällt auch die normative Notwendigkeit des “Lügens” in Umfragen, so das Argument.
Die selektive Partizipation hatte aber, wie uns Sibylle Hardmeier vor gut 10 Jahren gezeigt hatte, Auswirkungen nicht nur auf das politische Verhalten, sondern auch auf die Teilnehme an Umfragen zum politischen Verhalten, wo das Interesse und die Betroffenheit ebenfalls wichtiger geworden sind, wenigstens darüber Auskunft zu geben. Genau das spielt sich heute bei Wahl- und Abstimmungsumfragen ab. In den technischen Berichten zu den VOX-Analysen wird dies regelmässig dokumentiert und diskutiert.
Notabene: Ohne das jemand lügt, wie ich in einer obigen Antwort modellhaft gezeigt habe.
Parallel dazu sind, wie ich aus Erfahrung weiss, die Sensibilitäten der Gemeinden, die über die Stimmrechtsausweise verfügen, gestiegen. Das hat die Stichprobenbildung aufgrund von Einwohnerregister schlicht aussterben lassen. Zurecht, denn da bekam man beispielsweise auch zu sehen, wer welche Sachen unterschrieben hatte.
Das man nun schweizweit Zugang bekommt wenigstens zu den Stimmrechtsausweisen bekommt, wie sie es in Bolligen hatten, halte ich (berechtigterweise) für ausgeschlossen.
Wenn Sie hierzu aber einen praktikablen Ausweg wissen, lasse sich mich gerne überraschen.