Die Umkehrung des Wertewandels in den Niederlanden

Wenn die Niederlande politische nach rechts rückt, kann man nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Schliesslich galt das Land lange als Frontstaat im säkularisierten Calvinismus, gekennzeichnet durch rationale und individualistische Einstellungen.

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Stärkste Partei in den niederländischen Wahlkreisen 2010

In seiner berühmten Klassierung der politischen Kulturen zählt der amerikanische Politikwissenschafter Ronald Inglehart die Niederlande zu jenen Staaten mit dem ausgeprägtesten Wertewandel. Zur Gruppe des protestantischen Europas gehörend, kennt sie eine hohe Betonung individueller Seltentfaltungswerte, welche die des kollektiven Ueberlebens weitgehend überlagern. Aehnliches gilt für säkular-rationale Werte, die klar vor den traditionell-religiösen rangieren.

Diese Niederlande rückte diese Woche politisch weit nach rechts. VerlierInnen der nationalen Wahlen sind die traditionellen Christdemokraten und die linken Sozialisten (SP), beschränkte Verluste gab es für die gemässigten Sozialdemokraten (PvdA). Klare GewinnerInnen sind ist die nationalliberale “Partei für Freiheit” (PVV), begleitet von der rechtsliberalen “Volkspartei für Freiheit und Demokratie” (VVD). Zulegen konnten zudem die kleine sozialliberale D66 und die Grüne Partei.

Spektakulär ist insbesondere der Aufstieg der Freiheitspartei. 2006 trat sie erstmals bei nationalen Wahlen an und erreichte 6 Prozent der Stimmen. 4 Jahre später sind es gut 15 Prozent. Augenfälligstes Merkmal der Partei ist es, dass sie nur ein Mitglied, ihren Anführer Geert Wilders, hat. Alle anderen sind nur als Sympathisanten und Spender willkommen, womit man am demokratischen Charakter der Partei zweifeln kann. Selbst in der Partei rumort es deshalb; Franktionskollege Hero Brinkmann forderte Mitten im Wahlkampf die Demokratisierung der Partei.

Wilders selber stammt aus der liberalen VVD. Er trennte sich 2004 von ihr, um eine pointiert nationalliberale Politik verfolgen zu können. Vordergründig geht es ihm um den niederländischen Sozialstaat, hintergründig um seine Wirkungen auf Migrationen. Aktuell kämpft die Freiheitspartei an vorderster Front gegen den Islams.

Legendär hierfür ist, dass Wilders das Tragen von Kopftüchern durch Musliminnen vom Besitz einer Lizenz abhängig macht will, deren Kosten prohibitiv wirken sollen. Finanziell profitieren sollten seiner Meinung nach die Frauenhäuser.

Bei den Kommunalwahlen im Frühling 2010 trat die Partei der Freiheit in zwei Städten an; in Den Haag wurde sie gleich zweistärkste Partei. Der Stimmungstest verschaffte ihr inner- und ausserhalb der Niederlande viel politisch-mediale Aufmerksamkeit, die sich in der aktuellen Wahl, mehr noch als, in allen Umfragen erwartet, auszahlte.

Historisch hat die Freiheitspartei in den Niederlanden mehrere Vorläufer wie die Boerenpartij oder die Centrumsdemokraten, die in den 60er resp. 80er Jahren immigrationskritisch ware. Aber auch die Partei von Pim Fortuyn, welche 2002 aus dem Nichts zweitstärkste Partei wurde, nach der Ermordung des Parteiführers aber zerfiel, gehört hierzu.

Unterstützt wird Wilders von konservativen US-amerikanischen Think Tanks einerseits, radikalen Siedlern in Israel anderseits. Meist spricht man, aufgrund des Auftritts des Parteiführers, meist von einer rechtspopulistischen Partei – eine Kennzeichnung, welcher die Partei selber nicht widerspricht.

Die niederländische Parteienforschung bezeichnet sie auch als neo-rechtsradikal, weil sie nicht die rassistischen Orientierungen zeige, wie die bisherigen Rechtradikalen, mit ihnen aber den generellen politischen Standort teilt.

Gut denkbar ist, dass es in den Niederlanden bald zu einer Rechtskoalition unter Führung der Liberalen von Mark Rutte kommt, in der nebst den bisher regierenden Christdemokraten auch die oppositionelle Freiheitspartei Einsitz nimmt. Politische Uebereinstimmungen gibt es sehr wohl, in der Fiskal- und Sozialstaatspolitik, wenn auch die trennenden Elemente, vor allem die demokratischen Grundhaltung der Freiheitspartei, unübersehbar sind.

Zwar hat Wilders PVV keine Mehrheit, reflektiert sie aber die Unzufriedenheit einer respektablen Minderheit im Land. Es ist durchaus denkbar, dass man das von Inglehart gekennzeichnete Bild der Niederlande das bald schon revidieren muss. Denn der frühere Liberalismus von Gert Wilders mutierte vorerst zu einem rechten Nationalliberalismus, der sich mit Einstellungen eines neochristlichen Kulturkampfes zu mischen beginnt. Das Säkulare und das Rationale in den Werten der niederländischen Politkultur wird dadurch erheblich relativiert.

Das zeichnet einen Weg der Umkehr des westeuropäischehn Wertwandels vor, der auch andernorts Erfolg haben könnte.