Soziale Erwünschtheit in Umfragen zum Minarett-Verbot

Lange habe ich geschwiegen, was die SRG-Befragungen zur Minarett-Initiative beitrifft. Das war übrigens nicht der Fall, weil ich mich nicht äussern wollte, jedoch weil ich keine ungeprüften Aussagen in die Welt setzen wollte. Hier der Stand der Abklärungen.

Widerlegte Annahmen

Eine gfs-interne Untersuchung sowie eine externe eines unabhängigen Experten liegen zwischenzeitlich vor. Sie wurden weitgehend parallel erstellt, ohne dass ein direkter Gedankenaustausch stattfand. Sie vertiefen eine erste Analyse, die in der ersten Woche nach der Abstimmung gemacht worden war.

Die externe Evaluierung kommt zum Schluss, die Befragungen seien handwerklich korrekt und methodisch nach dem internationalen Standard erstellt worden. Beide Analysen widerlegen die Annahme, die Nutzer von nicht eingetragenen Handies seien für die ausgetretenen Probleme entscheidend. Dafür spricht vor allem, dass die gleiche Umfrage in den beiden anderen Vorlagen zu Ergebnissen vom 29. November mit der üblichen Genauigkeit führt.

Soziale Erwünschtheit ganz allgemein
Vielmehr legen beide Abklärungen das Hauptaugenmerk auf das Phänomen der sozialen Erwünschtheit. Damit bezeichnet man Verzerrung in Umfrage-Ergebnissen nicht-statistischer Art. Sie treten auf, weil Antworten, die normativ konform sind, anziehender wirke werden als umgekehrte.

Wäre die letzte Umfrage zur Minarett-Initiative am Freitag vor der Volksabstimmung gemacht resp. am Samstag davor publiziert worden, und wären die Mehrheiten gegensätzlich gewesen, würde man zurecht von Lügen in Umfragen sprechen.

Diese Uebersetzung von sozialer Erwünschtheit ist jedoch irreführend. Die letzte Befragung war am Abstimmungstag rund 18 Tage alt. Das lässt genügend Spielraum für spätere definitive Entscheidungen offen, die zu relevanten Verschiebungen in den Ja- und Nein-Anteilen führen. Auch die letzte Umfrage ist keine Prognose, sondern eine Momentaufnahme.

Soziale Erwünschtheit bei Entscheidungsambivalenz
Soziale Erwünschtheit in Abstimmungsbefragungen tritt dann auf, wenn während der Meinungsbildung erhebliche Ambivalenz vorliegt, die scih erst mit der verbindlichen Entscheidung zugunsten einer eindeutigen Stellungnahme aufgelöst wird.

Konkret: Ein Sympathisant der FDP weiss, dass seine Partei gegen die Initiative ist. Doch lassen ihn seine Alltagserfahrungen zweifeln, die Vorlage abzulehnen. Mit Muslimen verbinden ihn am Wohnort oder in den Medien nicht nur gute Erfahrungen. Dieses Gefühl hat in den letzten Jahren sogar zugenommen, und es ist seither der Nährboden, dass man auf Parolen gegen die Islamisierung der Schweiz anspricht – selbst wenn man bedenken hat, dass es zur wirtschaftlichen oder politischer Gegenmassnahmen bei einer Initiative-Annahme kommt.

In der Umfrage sagt diese Person, sie sei unentschieden, lässt aber bei den Argumenten erkennen, sie könnte zustimmen.

Soziale Erwünschtheit unter Kooperationsbereitschaft bei Interviews

Soziale Erwünschtheit kann auch aus einem anderen Grund zu Antwortverzerrungen führen. Vor allem dann, wenn der eigene Standpunkt in Abweichung zur Mehrheitsmeinung in der Politik gesehen wird, kann man versucht sein, ein Interview zu verweigern. Das wiederum führt zu unterschätzten Anteilen in der ausgewiesenen Zustimmung in der Umfrage, während die ausgewiesene Nein-Anteile zu hoch sind.

Auch hier ein Beispiel: Eine Frau, die wenig politisch ist, nicht immer an Abstimmungen teilnimmt, bei der Minarett-Abstimmung aber mit Ja stimmen will, getraut sich weniger schnell, ein Interview zu gewähren, als ein hochpolitischer Parteigänger, der auf der Nein-Seite steht.

Stand der Dinge
So hoch die Uebereinstimmung beider Evaluierungen in der Diagnose der Minarett-Befragungen ist, so schwer fällt es allen zu sagen, wie stark die benannten Effekte sind. Das hat mit den nur ansatzweise entwickelten Methoden zu tun, soziale Erwünschtheit empirisch messen zu können. Sicher ist vorerst nur, dass der erste der beiden Effekte wichtiger ist als der zweite.

Sicher ist auch, dass das ein seltener Fall ist, weshalb wir von einem durch das Thema bedingten Spezialfall sprechen, der aber bei diesem thema recht systematisch aufkommt, und zwar bei den Vor- wie bei den Nachbefragungen.