Zu den wichtigen Veränderungen der Schweizer Politik der Gegenwart zählt ihre parteipolitische Polarisierung. Wer sich klar positioniert und das im Alltag zu kommunizieren weiss, gewinnt Wahlen, und der scharfe Gegensatz prägt auch eine wachsende Zahl von Sachentscheidungen.
Genau dem ist Thomas Milic , heute Lehrbeauftragter für politische Psychologie an der Uni Zürich, in seiner Dissertation jüngst nachgegangen. Entwickelt hat er seine Fragestellung aus der internationalen Literatur. Ueberprüft hat er sie aufgrund von Schweizer Wahl- und Abstimmungsnachbefragungen.
Die zeitgenössische Veränderung
Lange herrschte in der Politikwissenschaft zur Schweiz die sog. Surrogatsthese vor. Demnach seien Positionierungen der BürgerInnen auf der Links/Rechts-Achse nur ein Ersatz für ihre Parteiidentifikation. Wer mit der SP sympathisiert, ist links; bei Verbindungen mit der CVP, ist man in der Mitte, und wer hinter der SVP steht, versteht sich als Rechte(r). Wer keiner Partei nahesteht, verortet sich mit Vorliebe im Zentrum. Dieser Vorstellung widersprochen haben vor allem WertforscherInnen: Mit der Entwicklung neuer Werte wie Oekologie oder Selbstverwirklichung verschwinde die Bedeutung der Parteibindung für die Selbstdefinition, argumentieren sie bis heute unverändert.
Milic gibt eine differenzierte Antwort: Typisch für die ideologischen Teile der Wählerschaft sind Parteibindung und Wertemuster, die zu einer eindeutigen Position auf der Links/Rechts-Achse führen. Bei den Un- oder Ueberparteilichen findet sich ähnliches, gibt es aber keine feste Parteibindungen. Und bei den Unpolitischen (mit oder ohne Parteibindungen) entsteht kaum eine ausgeprägte und konsistente Verteilung auf der Links/Rechts-Achse.
Die Surrogatsthese, folgert Milic, trifft bei BürgerInnen ohne ausgeprägtes politisches Interesse zu, während die These des Wertedeterminismus bei den Unparteilichen Gültigkeit beanspruchen kann. Miteinander kombiniert erscheinen beide These bei den ideologischen WählerInnen erfüllt.
Die Konsequenzen bei Wahlen und Abstimmungen
Die weltanschauliche Polarisierung zwischen den Parteien spricht die IdeologInnen unter den Wählenden an, die thematische Auseinandersetzung ist für die Ueberparteilichen wichtig, während die Unpolitischen wohl am meisten auf die Aktualität reagieren.
Komplexer sind die Folgen der Links/Rechts-Positionierung bei Abstimmungen. Hier bringt Milic nicht Ideologien, sondern Heuristiken ins Spiel – Entscheidungsroutinen, die mehr als nur einmal angewendet werden. Typisch hierfür sieht die Position zum EU-Beitritt, die in zahlreichen weiteren Themen Antworten gibt. Vertrautheit mit der Fragestellung einerseits, die Konflikthaftigkeit bei Auftauchen entsprechender Probleme sieht er für die Entscheidungen wichtiger an als Parteiparolen. Auf diese greift man vor allem dann zurück, wenn ein Thema unbekannt oder unwichtig ist.
Bei bekannten Themen folgt man nach Milic nicht blind einer Partei, orientiert sich aber an ihnen. Der Forscher vermutet, dass sich die BürgerInnen jenen Argumenten zuwenden, die von ihrer Partei kommen und die ihre eigenen Werthaltungen stützen. Kurz streift er auch die Bedeutung neuer Reizwörter, zu denen man “Privatisierung/Liberalisierung”, “Ueberreglementierung/Bevormundung” und “Verschwendung/Steuerlast” zählen kann. Sie dürften insbesondere für das wenig politische Publikum entscheidend sein.
Würdigungen
Die Links/Rechts-Dimension, eine Folge der Erschütterungen in europäischen Parteiensystem nach der Russischen Revolution, ist nach Milic als überlebensfähig, weil sie politische Komplexität reduziert. Doch ist sie periodischen Transformationen unterworfen, sodass die Inhalte ändern. Diese Veränderungen sind wichtiger als die Dimension selber. Neueinbindungen entstehen über neu auftretende Themen, die man mit Parteien in Verbindung bringt, und für bestimmte (Werte)Konflikte typisch sind.
Mit Grund, fügt er an: Denn links und rechts fehlt in der Schweiz letztlich das Affektive, dass Personen, Parteien und Werten eigen ist, weshalb sie mehr zu politischen Entscheidungfindung beitragen als Worthülsen.
Ich staunte, als ich mich das erste Mal mit den Thesen von Thomas Milic auseinandersetzte. “Ideologie im Stimmverhalten” hielt ich für überzeichnet. Gut fünf Jahre danach habe ich meine Meinung geändert, denn der Zürcher Politikwissenschafter hat so frühzeitig ein Thema aufgegriffen, das sich in der politischen Realität der Schweiz wandelt, âber weder von der Wahl- noch in der Abstimmungsforschung der Schweiz bisher systematisch untersucht worden ist. Mehr davon, vor allem für die Entscheidungsmechanismen der Unpolitischen angesichts der Offensive des Nationalkonservatismus beispielsweise wäre wünschenswert.
Was meint Surrogatsthese? Ich kann mir darunter nichts vorstellen.
Eigentlich ist die Sache einfach.
Surrogat kann man mit Ersatz übersetzen.
Die Surrogatsthese meint demnach, dass die Positionierung auf der Links/Rechts-Achse nichts anderes ist als ein Ersatz für die Identifikation mit einer Partei, die sich selber im Links/Rechts-Spektrum definiert.
Ersatzthese könnte man das auch nennen.
Die Ausführungen zeigen aber, dass dem nur vordergründig so ist, namentlich bei geringem und mittlerem politischen Interesse.
einfach gesagt: Das Links-Rechts-Schema existiert zwar noch, um sich pseudomässig zu definieren.
In Sachfragen ist das Schema überholt und dient nur noch dazu, Wähler zu holen. Dass dies bremsend wirkt, ist selten zu übersehen.
Würde man die Wähler wirklich nach ihrer Überzeugung einer partei zuordnen, wären wohl alle von links bis rechts überrascht. Siehe Minarettinitiative.
Das Gegenstück zur Minarett-Initiative wäre dann die Einbürgerungsinitiative, mit 67 Prozent nein verworfen.
Die einfache thematische Zuordnung von Parteien und WählerInnen funktioniert eben nicht – auf Dauer.
Das gehört zu den Eigenheit der Schweizer Parteiidenfitikation.
Sie erfolgt aufgrund von Milieus, Familientraditionen oder Bildungskarrieren. Sie bildet sich nicht selten in Form von Generationenerfahrungen aus, die Themen und Konflikte auf ihre Art austragen. Doch schwächt sie sich in der Folge nicht selten wieder ab, oder ändert sich auch.
Das lässt in Sachfragen dann auch wieder mehr Spielraum zu, selbst wenn die Parteibindung (vorerst) bleibt.
Das Buch versucht das auf seine Art und Weise zu bezeichnen: als Heuristik. Was nichts anderes heisst: Ich stimme immer, egal um was es geht, gegen den Bundesrat, weil ich dem misstraue. Oder ich bin immer für die Oeffnung der Schweiz, wie auch immer die Abstimmungsfrage ist, weil wir hier Nachholbedarf haben.
Einbürgerungsinitiative ist ein gutes Beispiel, aber wofür?
Bei dieser Abstimmung waren Facts vorhanden, und wohl mancher, der nie an einer Gemeindeversammlung oder Einbürgerung teilgenommen hat, roch wahrscheinlich den Käse. Nicht mal ich konnte ausmachen, warum nur einer weniger eigebürgert würde.
Wäre da noch die verlorene Abstimmung über das Steuerpaket (schon länger zurück), das auf einmal offenbarte, dass die singles nicht etwa gleich viel Steuern zu berappen gehabt hätten, sondern ein Mehrfaches. Selbst Ueli Maurer war erstaunt, als ich es ihm geschildert hatte …..
Nimmte man alle drei Abstimmungen, so bleibt doch ein fahler Nachgeschmack: wird so versucht Probleme zu lösen?
Dann nehmen wir das Familiengeld als Vorlage.
Sie erreichte mehr Zustimmung als die beiden (Regierungs)Parteien, die sie annahmen.
Es stimmten also nicht einmal soviel dagagen, wie es Wähler ablehnender Parteien gab.
nun ja, was beweist das? Geld überstimmt die Parteiloyalität?
Oder vielleicht sind einfach mal ein Teil der sonst Nichtstimmbeteiligten an die Urne gegangen.
Mich beruhigt es jedenfalls, dass das Parteiengefüge nicht zu stark ist.
Das ist gut so, ich zweifelte ja an der Aussage, dass das Parteiengefüge anhand von (einzelnen) Abstimmung neu definiert werden kann.
Nun sind wir ja gleicher Meinung.
[…] Begonnen hat die weitere Zusammenarbeit mit der Dissertation von Thomas Milic zu „Ideologie und Stimmverhalten“. Denn der Autor führte in der Folge die damals verwendeten Methoden und Konzepte via […]