Nach der KVP kommt nun auch die EVP unter Druck ihrer Mitglieder, weil sie die Minarett-Initiative ablehnt. Zur Beruhigung der inneren Spannung erwägt sie, einen Vorstoss zugunsten einer christlichen Leitkultur in der Schweizer Bundesverfassung zu unternehmen.
Znbeirrt mittendrin, so sieht sich die EVP in der heutigen Gesellschaft; zwischenzeitlich rumort es wegen der Nein-Parole zur Minarett-Initiative, mittendrin in der eigenen Partei.
Die EVP, eine Kleinpartei in der Zentrumsfraktion, lanciert eine Diskussion für einen neuen Religionsartikel in der Bundesverfassung. Erwogen wird ein parlamentarisches Vorgehen oder eine Volksinitiative zu starten.
Der EVP geht es darum, das Christentum als Leitkultur im Zusammenleben der Religionsgemeinschaften zu festigen. Erwogen wird auch eine staatliche Qualitätskontrolle bei der Ausbildung der Imame. Diskutiert würden obligatorischen Sprach- und Staatskundekurse an einer schweizerischen Universität. Begründet wird es, dass man eine Barriere gegen die Scharia aufbauen müsse.
Dass religiös fundierte Parteien wie die EVP die christliche Tradition als Leitkultur verankern möchten, überrascht nicht. Vorstösse hierzu hatten bisher wenig Erfolg, da der Laizismus gut verankert, der konfessionelle Pluralismus breit akzeptiert und die Mitgliederzahlen in de reformierten wie der katholischen Kirche rückläufig sind.
Mit der Ausbildung der Imame nimmt die EVP etwas hastig auch eine aktuelle Diskussion in ihren Forderungskatalog auf, wie die nur vage formulierten Vorschläge zeigen. Joel Blunier, Generalsekretär bestätigt denn auch gegenüber der Sonntagspresse, dass die Parteileitung wegen (angedrohten) Austritten in Folge der Nein-Parole zur Minarett-Initiative unter Druck geraten sei. Es wird also noch dauern, bis über ein spruchreifes Vorhaben entschieden wird.
Claude Longchamp
Der Vorschlag scheint auf den ersten Blick (für die EVP) erschreckend reaktionär. Wenn man genauer über den Inhalt nachdenkt, entpuppt er sich aber als halb so wild.
De facto hat die Schweiz mit den Landeskirchen bereits “Leit-Religionen”, allerdings auf kantonaler Ebene definiert. Nur Neuenburg und Genf kennen keine Landeskirchen und sind damit laizistische Staaten. Der Rest der Schweiz ist nicht und war nie rein laizistisch. Die Landeskirchen sind christlich, genauer röm.-katholisch, zwinglianisch und christkatholisch. In vier Kantonen kommen dazu jüdische Gemeinden. Es ist eine Tatsache, dass die römische Kirche von ca. 700 — daneben die reformierten Kirchen seit ca. 1520 — bis ca. 1970 n. Chr. die Leitkultur im Gebiet der heutigen Schweiz darstellte. Das ist signifikant genug, um diese Religionsgemeinschaft sozusagen unter Denkmalschutz zu stellen, gerade wenn und weil sie unter Mitgliederschwund leiden (sonst wäre das ja nicht nötig).
Der Vorschlag der EVP läuft nun darauf hinaus, anderen Religionsgemeinschaften, insbesondere islamischen, die Gleichstellung mit den Landeskirchen zu verweigern. Dagegen spricht a priori nichts, es würde einfach bedeuten, dass der Status der “Landeskirche” sich in einer historisch-nostalgischen, denkmlschützerischen Richtung verschöbe. Es geht damit keineswegs um “das Christentum” sondern um die genannten Kirchen. Insbesondere wäre auch christlichen Freikirchen eine solche Gleichstellung verwehrt, mit gutem Grund, denn momentan stellen Freikirchen amerikanisher Prägung eine wesentlich ernsthaftere Bedrohung für die
einheimischen Kirchen dar als der Islam.
“cujus regio, ejus religio” (“Wer herrscht, bestimmt die Religion”) hielt der Augburger Religionsfrieden von 1555 fest. Das gewährte den Landesfürsten im Kaiserreich zu bestimmen, wer als Ketzer bestimmt, verfolgt und ausgewiesen werden durfte. Es braucht eine konfessionell bestimmten Krieg, der zwischen 1618 und 1648 halb Europa zerstörte, um zu begreifen, dass konfessionelle bestimmte Politik ohne überstaatliche Regelungen in der Zerstörung des Gegenüber endet. Und es brauchte die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, dass Religionskritik, wie sie die Philosophie und die Wissenschaft üben, im Christentum akzeptiert wurde.
Seither sind, anders als sie meinen, Konfessionen keine Leitkulturen mehr, vielmehr wurden sie durch die Deklaration der Menschenrecht in ihrem Anspruch, wo auch immer universalistisch zu sein, abgelöst.
Die Bundesverfassung von 1848 garantiert die Religionsfreiheit. Das setzt die konfessionelle Neutralität des Staates voraus. Und es bedingt den Resepkt der Konfessionen untereinander. Die Nicht-Diskriminierung religiöser Bekenntnisse ist eine zentrale Voraussetzung hierfür.
Die Schweiz hat das nicht ganz aus freien Stücken gemacht. Denn bei der Gründung des Bundesstaates vertrat sie noch den Standpunkt, die Grundrechte würden nicht für alle Bürger, sondern nur für die (männlichen) Angehörigen christlichen Glaubens gelten. Das diskriminierte die Juden, denen man erst zwischen 1866 bis 1874 schrittweise die gleichen Rechte einbürgerte. Notabene auf Druck Frankreichs, welche ein klarere Vorstellung von der Trennung von Kirche und Staat hatte.
Eine Leitreligion zu postulieren, wie Sie das hier machen, würde das alles rückgängig zu machen, und die alten Probleme, die sie ausblenden, wieder aufleben lassen.
Zudem: Gedanken der Leitkulturen scheinen mir in einer religiös und sprachlich plurikultellen Gesellschaft äusserst gefährlich, den sie streben entweder die kulturelle Homogenisierung oder die Herrschaft einer Kultur über die andere an.
Das hatten wir vor 1798 in sprachlicher Hinsicht, und bis 1712 in religiöser Hinsicht in der Schweiz. Und es hat uns 5 Bürgerkriege beschert.
Sorry, aber ich kann ihrem Vorschlag nicht folgen. Mein Vorschlag: Versuchen sie es doch mal mit dem Gedanken der (nicht-religiösen) Integration statt des (religiösen) Leitbildes!
Solange der Katholizismus noch mit Zölibat und Pädophilie in Verbindung gebracht werden kann, sollte man von solchen Vorschlägen absehen.
Religionsfreiheit ist sicher nicht schlecht. Diese sollte aber die Rechte der Menschen nicht einschränken dürfen, da dies einen Einfluss auf den weltlichen Bereich haben kann.
[…] Einerseits ist auch in der Schweiz immer deutlicher ein Abwehrreflex in rasch wachsenden Teilen der Bevölkerung zu erkennen, der sich in der Ausgrenzung der “Fremden”, alles “Fremden” äussert. Dabei scheinen sich die Interessen der Religiös-Konservativen zunehmend mit den kurzfristigen politischen Interessen der National-Konservativen und den materiellen Ängsten der (absteigenden?) Mittelklasse und der wirtschaftlich Schlechtgestellten zu verbinden. Ausdruck dafür sind die zunehmende Popularität von Themen wie Kopftuch/Burka, Kruzifix in der Schule, aber auch gleichgeschlechtliche Ehe oder Abtreibung – oder, wie in Basel, scheinbare Abstrusitäten wie der “Sexkoffer“. Dazu gehört auch das Thema “Leitkultur Christentum“. […]
[…] Einerseits ist auch in der Schweiz immer deutlicher in rasch wachsenden Teilen der Bevölkerung eine Abwehrreflex, eine negative Haltung allem Fremden und Neuen gegenüber zu erkennen. Die “Ausländer” und speziell die Muslime werden als Bedrohung und Schuld an allem Übel empfunden. Dabei scheinen sich die Interessen der Religiös-Konservativen zunehmend mit den kurzfristigen politischen Interessen der National-Konservativen und den materiellen Ängsten der (absteigenden?) Mittelklasse und der wirtschaftlich Schlechtgestellten zu verbinden. Ausdruck dafür sind die zunehmende Popularität von Themen wie Kopftuch/Burka, Kruzifix in der Schule, aber auch, die nicht mit der Ausländerfrage verbunden Themen wie gleichgeschlechtliche Ehe oder Abtreibung – oder, wie in Basel, scheinbare Abstrusitäten wie der “Sexkoffer“. In dieselbe Kategorie gehört das Stichwort “Leitkultur Christentum“. […]