Dank Lernprozessen lebensfähig bleiben.

Die Kritik an und in der Schweiz ist beträchtlich. Die Steuerpolitik ist umstritten, Institutionen wie Miliz- und Konkordanzsystem zeigen Erosionserscheinungen. Da weckte Wolf Linders Abschiedsvorlesung an der Uni Bern hohe Erwartungen. Denn sie war dem “Zustand der Republik” gewidmet. Und hielt nur streckenweise, was sie versprach.

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Dank soliden Institutionen blieb die Schweiz bis heute lebenfähig. Fraglich ist aber, ob sie auch in Zukunft eigene Wege gehen kann. (Bildquelle)

Seinen letzten Auftritt als Politologie-Professor in Bern begann Wolf Linder vor einer vollen Aula der Berner Alma mater mit einer Kritik am Zeitgeist-Surfen. Dieses überzeichne in der Regel, sei es wegen der Staatsgläubigkeit der Linken, die jeden Interventionismus gut finde, oder wegen der Staatsdistanz der Rechten, welche jede Privatisierung befürworte. Lange habe ersters überwogen, jetzt dominiere zweiteres.

Gesicherte Befunde!
Die politologische Analyse kommt nach Linder zu deutlich weniger aufgeregten, dafür gesicherten Befunden. Mit schöner Regelmässigkeit hat der Professor für Schweizer Politik diese auch in die Oeffentlichkeit getragen.

Die zentralen Institutionen der schweizerischen Innenpolitik sind nach Linder in der Bevölkerung unverändert gut verankert. Zu direkter Demokratie, Föderalismus, Milizssystem und Konkordanz zeichne sich in der Schweiz keine Alternative ab. Unterschätzt werde aber das Mass an politischer Institutionalisierung der Schweiz, welche im letzten Vierteljahrhundert stattgefunden habe. Das internationale Recht wachse schneller als das Binnenrecht, was einen Anpassungsdruck erzeuge, der Exekutivstaat nehme rasant zu und lasse die politische Entfremdung anwachsen.

Nutzniesser sei ausgerechnet die SVP, welche die Prozesse am wenigsten kontruktiv mitentwickle. Denn sie gewinne mit Abschottungsparolen Wahlen. Doch können sie diese politische Macht nicht umsetzen. In Parlament und Regierung würde unverändert die Kooperationen der Mitte den Ausschlag geben. FDP und CVP setzten mehrheitlich ihre Politik durch, ergänzt durch Mitte/Rechts und Mitte/Links-Allianzen.

Den Wechsel der Mehrheiten hält Politologe Wolf Linder für einen Segen in der Konkordanz. Denn fixe Mehrheitsbildungen, wie sie bis in die 80er Jahre durch die bürgerlichen Parteien gebildet worden seien, schränkten die Lernfähigkeit des politischen Systems ein. Doch gerade diese sei entscheidend, weil kontinuierliche personelle und materielle Erneuerungen der Politik zwingend seien, wenn man nicht auf Machtwechsel setze.

Gesicherte Folgerungen?

So treffend sachlich Linders Beobachtungen zum Zustand der Republik waren, seine Folgerungen für ihre Zukunft blieben vage. Denn die reichhaltige Empirie, die in den zwei Jahrzehnten, während denen Linder die Professur für Schweizer Politik inne hatte, entstand, fand in dieser Zeit keine Krönung in einer erhellenden Theorie der Konkordanz, die politikwissenschaftlich anerkannt Interessierten Möglichkeiten und Grenzen des Staatshandelns à la suisse aufzeigen würde.

So bleibt das Credo Linders, die Schweiz überlebe, wenn sie lernfähig bleibe, letztlich ohne tiefere Gewissheit die Folgerung aus seinem Wirken.

Claude Longchamp