Die Macht der Gewohnheit in Wahlinterpretationen

Kein Philosoph hat die Macht der Gewohnheit so kritisiert wie David Hume, der ihre Hinterfragung zum Ziel der Wissenschaft machte. Das sollten auch Erstinterpretationen von Wahlergebnissen nicht vergessen, in denen es von unbewiesenen Gemeinplätzen nur so strotzt.

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David Hume, 1711-1776, empfahl vor 250 Jahren, die Empirie den Denkgewohnheiten gegenüber zu setzen, um diese hinsichtlich ihrer Wahrheitsgehaltes zu überprüfen
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In Wahlanalysen besteht die Macht der Gewohntheit darin, jede Veränderung in der Zahl der Sitze als Wechsel der WählerInnen zwischen Gewinner- und Verliererparteien zu interpretieren.

Solange die Zahl der Sitze fix und die Wählenden bei zwei Wahlgängen identisch sind, mag das gehen. Doch unterscheidet die Wahlforschung schon längst zwischen dem Wechsel der Wahl einer Partei und die Wechsel der Teilnahme an Wahlen.

Lange tippten die Wahlanalytiker debb auch ohne vertiefte Untersuchungen auf das Wechselwählen, und sie bekamen durch die Forschung in der Regel recht. Denn bei sinkender Beteiligung verloren meist alle Parteien anteilsmässig gleich viel an die Nicht-WählerInnen, sodass die Effekte daraus vernachlässigt werden konnten. Doch seit rund 10 Jahren häufen sich Hinweise, dass dem nicht mehr so ist. Vor allem wenn die Gesamtbeteiligung steigt, ist die selektive Teilnahme an Wahlen wichtiger als das Wechselwählen, um die Veränderungen in den Parteistärken zu erklären.

Das hat eine Konsequenz: Eine Partei, die heute gewinnt, gewinnt vor allem, weil es ihr gelingt, im Wahlkampf bisherige Nicht-WählerInnen zu mobilisieren. Das ist umso wahrscheinlicher, als es sich um eine Protestpartei in der Opposition handelt. Und es ist auch wahrscheinlich, dass eine Partei aus der Regierung, die verliert, vorwiegend durch Abgänge zu den Nicht-Wählenden geschwächt wird.

Ich schreibe das bewusst am Tag nach den Genfer Parlamentswahlen. Und ich sage: Es ist gegen niemanden persönlich gewendet – gegen keine Journalistin und gegen keinen Politologen. Doch drängt sich mir heute die Frage auf, wie nach so vielen kantonalen Parlamentswahlen, die über die ohne auch nur halbwegs gesicherte Erkenntnisse mit der Macht der Gewohnheit argumentiert wird.

Die Politologen in der Schweiz trifft der Einwand doppelt. Denn im Ausland haben sich für die Erstanalyse von Wahlen Wählerströmanalysen etabliert. In Oesterreich gehört es zum Fernsehservice des Wahlabends. Und in Deutschland und Frankreich liegen solche Analyse auf der Basis von effektiven Wahlergebnissen in den Zählkreise oder aufgrund von Wahltagsbefragungen in den erstern Tagen nach der Wahl vor. Nur in der Schweiz haben sich gewisse Wahlforscher im Auftrag des BfS gegen diese Art der Analyse (aus dem Ausland) gestemmt, sodass wir Schweizer Insulaner Wahlinterpretationen meist ohne aufwendige und deshalb seltene Ueberprüfungsmöglichkeit hinnehmen müssen, selbst wenn sie weniger plausibel sind als Wahluntersuchungen mit gewissen Mängeln.

David Hume, der grosse britische Aufklärer, würde sich ärgern, wenn er das sehe. Denn als Erstes würde der alles bezweifeln, was nicht hinterfragt wurde, und als zweites würde er fragen, was, das wir nachprüfen können, spricht für die kommoden Interpretation. Meist nichts als der Wunsch, der die Spekulation nährt, würde er hinzufügen.

Claude Longchamp