Die vierte Zürcher Vorlesung zur Wahlforschung war der Entstehung und Transformation von Parteiensystemen in Europa gewidmet. Mit Bezug auf die schweizerische Gegenwart war der Nationalkonservatismus ein zentrale Thema, das von der politischen Philosophie wie auch der massenmedialen Publizistik mehr behandelt wurde als von der Politikwissenschaft.
Nationkonservatismus wird meist als Sammelbegriff für verschiedene politische und gesellschaftliche Bewegungen innerhalb des Konservatismus verwendet. Ihren gemeinsamen Kern haben sie im Streben nach einem unabhängigen Nationalstaat, und ihr wichtigster politischer Programmpunkt ist die Ablehnung der Einwanderung.
Parteipolitisch gesehen ist der Nationalkonservatismus verschiedenerorts zu Hause: bei den amerikanischen Republikanern und bei den britischen Tories findet man ihn. Ohne Zweifel hat er gerade im alpinen Raum breiten Rückhalt. Das gilt etwa für die österreichische BZOe, die (vormalige) italienische Alleanza nazionale und die Schweizerische Volkspartei. Anti-europäische Haltungen sind gerade in diesen Parteien stark verankert; nationale oder regionale Identitäten werden von Nationalkonservativen als wichtigste Barrieren gegen supra- und internationale Organisationen gesehen, die mit der zugelassenen Migration die Eigenheiten der nationalen und regionalen Kulturen bedrohen. Nicht selten geht der Nationalkonservatismus Verbindungen zu religiösen Strömungen ein, welche die christlichen Werte der westlichen Gesellschaft verteidigen. Gerne kennt er auch Schriftstellern und Intellektuellen Anhänger.
Selber verwende ich den Begriff seit den Wahlen 1999 um die weltanschauliche Entwicklung der SVP zu charakterisieren. Themen wie die Ueberfremdung der Schweiz, der schleichende EU-Beitritt, Probleme im Asylwesen und Missbräuche in den Sozialversicherungen haben der ehemaligen Mittelstandspartei eine neue Identität gegeben, Wahlsiege und Macht gebracht, konservativen Gesellschaftsvorstellungen Auftrieb verliehen und den politischen Stil in der Schweiz durch einen anhaltenden Rechtspopulismus verändert.
Diese Perspektive bevorzuge ich gegenüber der des (alpinen) Rechtsextremismus resp. des Rechtsautoritarismus. Zwar zeigen sich Elemente, wie sie etwa Herbert Kitschelt für die Analyse neuer Strömungen im Parteiensystem herausgearbeitet habt, auch innerhalb der SVP. Und es ist unbestritten, dass sich die SVP als Gegenpol zu linkslibertären Strömungen versteht, wie es Kitschelt in seiner Erweiterung der klassischen Links/Rechts-Achse durch Weltanschauungen herausgearbeitet hat, die für die Gewinner und Verlierer des Globalisierungsprozesses typisch sind.
Doch verstellt die Rechtsextremismus-Analyse den Blick auf das Entscheidende an der Transformation der SVP. Denn anders als der Rechtsextremimus, der durch seine Programmatik in der Regel nur Aussenseiter und Minderheiten anspricht, ist der Nationalkonservatismus eine populäre Strömung innerhalb der Wählerschaft, die sich in einer breiten Unterstützung einer restriktiven Asylpolitik ausdrückt, die den Patriotismus bürgerlicher Parteien kontert und die namhafte Teil der Unterschichten anspricht. Typischer als antidemokratische Haltungen der Rechtsextremen sind bei der SVP zudem staatskritische Positionen aufgrund der propagierten Eigenverantwortung und geforderten Steuersenkungen, die eher dem liberalkonservativen Spektrum zuzurechnen sind.
Zu den Eigenheiten der SVP gehört aber, dass sie sich gegen politischen Bewegungen zwischen dem Nationalkonservatismus einerseits, dem Rechtsextremismus anderseits offen erweist, um das Entstehen einer Partei rechts von ihr zu verhindern. Das ergibt sich aus der Grösse und Funktion der Partei, die zwischenzeitlich am meisten Wählende in der Schweiz hat und die – anders als die Republikaner in den 70er Jahren – für sich beanspruchen kann, das rechtskonservative Spektrum alleine abzudecken.
Claude Longchamp
Literatur:
Analysen des Nationalkonservatismus in der Schweiz
Claude Longchamp (2000): Die nationalkonservative Revolte in der Gestalt der SVP. Eine Analyse der Nationalratswahlen 1999 in der Schweiz, in: Fritz Plasser/Peter A. Ulram/Franz Sommer (Hg.): Das österreichische Wahlverhalten. Wien: WUV, 393-423
Hanspeter Kriesi (u.a.) 2005: Der Aufstieg der SVP. Acht Kantone im Vergleich, Zürich: NZZ-Verlag
Vergleichende Analysen des Rechtspopulismus
Hans-Georg Betz 2001: Exclusionary Populism in Austria, Italy, and Switzerland, in: International Journal 56: 393-420
Oscar Mazzoleni: Nationalisme et populisme en Suisse. La radicalisation de la ‘nouvelle’ UDC. Lausanne 2003
Vergleichende Analysen des alpinen Rechtsradikalismus
Anthony J. McGann/Herbert Kitschelt 2005: The Radical Right in the Alps. Evolution of Support for the Swiss SVP and Austrian FPÖ, in: Party Politics 2/2005: 147-171
Nach der Vielzahl tendenziöser Analysen über die SVP endlich eine interessante Einschätzung. Die SVP kann mit fast 30 Prozent Wähleranteil nicht extrem sein. Oder sind 70 Prozent die für ihre Asylpolitik gestimmt haben alles heimliche Nazi?
Die SVP ist die einzige Partei die begriffen hat, dass man heute die Eigenheiten der Vaterländer gegen die Interessen der Hochfinanz verteidigen muss. Anders als die Linke braucht sie den Staat nicht um sich selber am Leben zu erhalten. Sie ist die Partei der Volkes die ohne Wenn und Aber zur Schweiz und ihrer Tradition steht.
Ich gehe einig, dass die SVP gelegentlich übertreibt. Vielleicht geht sie bisweilen auch zuweit wenn sie auf verkannte Probleme hinweist. Das wäre nicht nötig würden die Medien unvoreingenommen über die SVP berichten. Denn so, wie der Hase heute läuft muss man provozieren um sich Gehör zu verschaffen. Dazu zählt, dass man sagt was man denkt.
Ich frage mich, ob sich die Gemeinsamkeiten nationalkonservativer Parteien nur auf inhaltliche Aspekte beschränken. Tatsächlich: Die Parteien ähneln sich in einer xenophoben Politik, einer pointierten antieuropäischen Haltung und der Überhöhung der eigenen Nation. Sie ähneln sich aber auch in ihrem populistischen Stil:
Margaret Canovan beschrieb in ihrem Artikel «Trust the People!» den Populismus folgendermassen: «Populism in modern democratic societies is best seen as an appeal to ‹the people› against both the established structure of power and the dominant ideas and values of the society». Lebt Christoph Blocher nicht genau dieses Credo? Etwa wenn er sich in der Minarettplakat-Arena (9.19.09) über das Rednerpult beugt und sagt: «Wir haben eine direkte Demokratie, wie sie kein anderes Land kennt. In der Schweiz finden auch Diskussionen statt, welche Politiker unter den Tisch kehren wollen.» Auch Gianfranco Fini, Jean-Marie Le Pen oder der verstorbene Jörg Haider sahen sich in der Vergangenheit als Fürsprecher des Volkes und Bekämpfer des politischen Establishments.
Paradoxerweise ist Christoph Blocher selbst Teil der politischen Elite. Die Kategorisierung der politischen Milieus von Herbert Kitschelt scheint mir sehr aufschlussreich. Offenbart sie nicht auch eine Divergenz des politischen Klientels nationalkonservativer Parteien und deren Führung? Die Akademiker Blocher, Le Pen, Fini und Haider können kaum der «petite bourgeoisie» zugeordnet werden. Die Frage ist nur, wie das Auseinanderklaffen von Basis und Führung trotzdem so erfolgreich sein kann. Ist der Populismus der notwendige Klebstoff?
Der letzte Absatz ist interessant. In die Praxis übersetzt heisst das: Die SVP steckt kein Geld in die Abstimmung für die Minarett-Initiative, sagt aber dennoch Ja und Blocher engagiert sich, wenn deren Plakat verboten werden sollten.
Selbstverständlich gehört Christoph Blocher nicht zum Kleinbürgertum. Das Schema von Kitschelt (siehe unten) ist ja auch nicht entwickelt worden, um einzelne Exponenten zu analysieren.
Vielmehr will das Schema aufzeigen, welches die gesellschaftlichen Entwicklungen sind, wie sie sich auf das ideologische Spektrum auswirken, genauer: wie die klassische Links/Rechts-Achse durch die zwischen libertärer und autoritärer Politik erweitert wird.
Das Kleinbürgertum erscheint dann am ehesten als Potenzial für rechts-autoritäre Politik. Es kommen aber Professionelle aus liberalen Beruf hinzu, ausdrücklich auch Unternehmer; selbst nicht-qualifizierte ArbeiterInnen kann man hierbei erwähnen.
Die Mehrschichtigkeit entspricht durchaus der der SVP. Dennoch will mir das Schema nicht ganz genügen, um die Wählerschaft der SVP insgesamt zu kennzeichnen. Denn zwischen 2003 und 2007 wuchs sie in allen gesellschaftlichen Schicht. Das ist nach meiner Aufassung typisch für Nationalkonservatismus, der breiter gefasst und offener ist als rechtsautoritäre Politik.
Populismus und C.B.? Selbstverständlich. Denn eine Populismus-Definition ist auch, “Politik im Namen des Kleinen Mannes zu machen”, ohne selber dazu zu gehören. Dazu zählt, sich im öffentlichen Diskurs regelmässig von den Herrschenden, die diskreditiert werden, abzuheben. In der besagten Arena Sendung kam das etwa in der Polemik gegen die beiden “Professoren auf der anderen Seite” zum Ausdruck. Am Tag, an dem bekannt wurde, dass Christoph Blocher als Professor für Wirtschaftsethik in St. Gallen nicht auf der short list steht …