Von der Schwierigkeit, in der Schweiz Intellektuelle zu identifizieren

Die Schweiz befinde sich im kollektiven Dauerschock, befand Adolf Muschg jüngst in der Schweizer Ausgabe der “Zeit”. Gemeint waren die Einwürfe des Auslandes an die Adresse der Schweiz, denen niemand etwas entgegenzusetzen habe. Nicht einmal die Intellektuellen, die sich in nationaler Selbstgeisselung bescheiden würden.

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Georges Clemenceau, französischer Journalist, Politiker, Staatsmann. Seine Fähigkeit, in Unabhängigkeit zu intervenieren, wo die Oeffentlichkeit versagte, machte ihn zum Ur-Typ des Intellektuellen in der Moderne.

Nun sticht der Tages-Anzeiger ins Wespennest. Nominiert hat er 20 Top-Shots des kritischen Denkens, das in der Oeffentlichkeit stattfindet, um das Selbstbewusstsein einer Nation klüger zu machen und durch Debatten weiter zu entwickeln. Schriftsteller sind dabei, Publizisten und Journalisten auch. Es hat Soziologen, Oekonomen, Historiker und Theologen. Alles Männer. Bis auf zwei Sprachwissenschafterinnen. Ueberhaupt, kein(e) einzige(r) KünstlerIn ist dabei, unseren Filmemachern, Aktionistinnen und Architketen zum Trotz.

Die Online-Radaktion spitzt die Sache noch zu: Wer ist der/die Wichtigste fragt sie, und lässt die LeserInnen mitbestimmen. “Wählen Sie aus unseren Top 20 die allergrösste Schweizer Geistesgrösse”, wird da in Aussicht gestellt. Zur Auswahl stehen:

Bärfuss, Lukas, Autor
Binswanger Daniel, Kolumnist
Bronfen, Elisabeth, Anglistin
Caduff, Corina, Germanistin
Frey, Bruno S., Oekonom

Held, Thomas, Soziologe
Imhof, Kurt, Soziologe
Jost, Hans-Ulrich, Historiker
Kapeller, Beat, Publizist
Koch, Kurt, Bischof

Köppel, Roger, Verleger
Küng, Hans, Theologe
von Matt, Peter, Germanist
Meyer, Martin, Journalist
Muschg Adolf, Schriftsteller

Sarasin, Philipp, Historiker
Schwarz, Gerhard, Journalist
Strahm Rudolf, Oekonom
de Weck, Roger, Publizist
Ziegler, Jean, Soziologe

Leider, muss man beifügen, ist die Liste unvollständig: Nicht, dass der eine oder die andere, den oder die man erwartet hätte, fehlen würde. Darum geht es mir nicht. Doch es sind nur Personen aus der deutschsprachigen Schweiz nominiert worden. Die Romand(e)s sind mitgemeint, mit zwei Deutschsprachigen, die in die französischsprachige Schweiz gingen. Auch die TessinerInnen sind abwesend. Ganz zu schweigen von den Rätoromanen. Lebt Iso Camartin gar nicht mehr, frag’ich da?

Wäre nicht gerade das ein Kriterium für eine(n) wichtige(n) Intellektuelle(n) in der Schweiz, dass er oder sie die Denkströmungen in allen Sprachkulturen kennt, dass man sich in ihnen bewegt und sie beeinflusst? Klug sein ist das eine, streitbar sein das anderes. Doch in einer Gesellschaft verankert sein, und ihre Werte zum Sprechen zu bringen, ist das wichtigste für Intellektuelle.

Oder haben unsere Kritiker doch recht, die meinen, man könne die Schweiz ohne Verlust dreiteilen und den Nachbarn angliedern, denn ausser Roger Federer als Identitätsstifter hätten die SchweizerInnen keine Gemeinsamkeiten mehr?

Claude Longchamp