Besser als der Ruf: die Wahlforschung nach den Bundestagswahlen

Kurz vor der Wahl steigt auch unter den ForscherInnen der Adrenalin-Spiegel, sodass Klagen über den Zustand der Profession in der Oeffentlichkeit laut werden. Zwei davon sind in der letzten Woche öffentlich ausgetragen worden. Ein Ueber-, Rück- und Ausblick eines halbwegs Aussenstehenden zur (deutschen) Wahlforschung.

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“Was entscheidet beim Wählen?”, beschäftigt die Wahlforschung. Interdisziplinär ausgerichtet hat sie sich trotz einige Defiziten auf hohem Niveau etabliert.

Klage Nummer 1
Rezensent Frank Decker, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Bonn, nahm das Erscheinen des politikwissenschaftlichen Standardwerkes zu den Bundestagswahlen 2005 kurz vor Ende der Legislatur zum Anlass, um kritische Fragen zur Grundlagenarbeit in der Wahlforschung zu stellen. Konkret monierte er drei Schwächen: Erstens, die Uebersicht zu den Wahlen 2005 erscheint viel zu spät. Fast vier Jahre Produktionszeit für ein Buch sei heute deplatziert. Das wüssten selbst die Herausgeber, die einen Teil ihrer Ergebnisse schon vorgängig publiziert hätten. Zweitens, die Sprache der Wahlforschung leidet. Die Anwendungsforscher seien sich gewohnt, zu einem Publikum aus Nicht-Fachleute sprechen zu müssen; den Grundlagenforscher gehe das mit ihrem Fachjargon ab – beides merke man den entsprechenden Publikationen an. Drittens: Die Theorie- und Methodendiskussion stagniere. Vor allem behandle die politikwissenschaftliche Forschung Wahlen als Entscheidungen in der Mediengesellschaft stiefmütterlich.

Klage Nummer 2:
Andreas Wüst, ein junger Wahlforscher im akademischen Sektor, geriet in Wallung, nachdem Mathias Jung, Direktor der Forschungsgruppe Wahlen im ZDF verkündete: “Knapp, aber sicher.” Damit meinte dieser den Vorsprung von CDU/CSU und FDP in den Wahlumfragen. Er machte das am Freitag vor der Wahl zur eigentlichen Prognose, einem Moment, zu dem sich ARD und ZDF verpflichtet hatten, keine weitere Umfragen mehr zu machen. Der Politikwissenschafter nahmen das zum Anlass, um über die Trendwende unter dem Demoskopen zu spekulieren. Demnach gebe die Wahlforschung an, prognosefähig zu sein, selbst wenn sie den Prozess der Meinungsbildung nicht bis zum Wahltag verfolge. Oder die Umfrageinstitute machten Erhebungen kurz vor der Wahl, die sie nicht veröffentlichten.

Rück- und Ausblick

Nun wissen wir es wenigstens im Nachhinein alles besser: Die Wahlforschung hat bei den deutschen Bundestagswahlen 2009 korrekt gearbeitet. Der Ausreisser 2005, der bei allen Umfrage-Instituten die Wähleeranteile der CDU/CSU-Stärke betraf, hat sich nicht wiederholt. Unter dem Druck der öffentlichen Schelte von 2005 haben sich die Praktiker weiterentwickelt, selbst wenn ihre Lösungen die Methodenspezialisten nicht immer befriedigen.

Demoskopie ist und bleibt daten-getrieben, auch wenn gelegentlich Erfahrung und Intuition die reine Wissensbasis ergänzt. Das hat mit den Bedingungen zu tun, unter denen Wahlrealitäten entstehen: Diese werden durch den produktiven Wettbewerb der politischen Konkurrenten bestimmt. ForscherInnen, die anwendungs-orient arbeiten, sind dem näher als grundlagen-orientierte WissenschafterInnen.

Die grösste Schwäche der Wahlforschung bleibt, dass es keine genuin politologische Theorie des Wählens gibt, die uns gestern schon klar gemacht hätte, warum man heute nicht mehr SPD, aber FDP wählte. Weil das spezifisch Politologische an der Wahlforschnung fehlt, bleiben die parteiunspezifischen Zugänge der Oekonomen, Psychologen und MedienwissenschafterInnen stetige Verlockungen sind, wenigstens interdisziplinär der Sache auf der Spur zu bleiben.

Von der Politologen-Kritik im kritischen Moment bleibt damit nicht viel übrig, – am ehesten noch, dass die Grundlagen- und Anwendungsforschung auch in Deutschland verschiedene Sphären des wissenschaftlichen Arbeitens sind, die nach je eigenen Gesetzmässigkeiten funktionieren und dabei nicht immer zum Vorteil der Profession Klagen auf dem Marktplatz der öffentlichen Eitelkeiten austragen.

Claude Longchamp