Ueber die positiven Zeichen des Entscheids für Burkhalter hinaus Bundesratswahlen neu denken

Drei Tage nach der Wahl von Bundesrat Didier Burkhalter legt der emeritierte Politologie-Professor Wolf Linder eine erste Diagnose zu den Bundesratswahlen der Gegenwart vor, und macht er im newsnetz-Interview auch Vorschläge, wie die bisherigen Strukturen und Prozesse weiter entwickelt werden müssten, um wieder stabile Regierungsverhältnisse zu garantieren.

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Wolf Linder, zwischen 1987 bis 2009 Inhaber des Lehrstuhles für Schweizer Politik in der Bundesstadt Bern

Burkhalters Wahl habe drei positive Zeichen gesetzt, bilanziert Wolf Linder, in jungen Jahren SP-Politiker und Thurgauer Richter: Alle Parteien hätten betont, Konkordanz sei unverändert wichtig. Mehrere hätten auch transparent gemacht, wie sie stimmen werden, um Intrigen zu vermieden. Und der Bundesrat habe in seinem Herzen einen Anhänger der Regierungsreform mehr.

Der Verfasser des Standardwerkes “Schweizerische Demokratie” widerspricht der Auffassung, die Konkordanz sei heute brüchig, betont aber ihren anspruchsvollen Charakter. Jahrelang habe es nur die bürgerliche Konkordanz gegeben. Heute gäbe es wechselnde Mehrheiten aufgrund punktueller Absprachen im Bundesrat. Genau deshalb zieht Linder die arithmetische Konkordanz vor. Sie verhindere Diskriminierungen der politischen Ränder, weil sie sich parteipolitisch neutral auswirke. Dabei bevorzugt der Politologe die Parteistärken als Entscheidungsgrundlage, weil sie dem Demokratie-Prinzip verpflichtet seien.

Um den Handlungsspielraum des Parlaments nicht einzuschränken, wendet sich der emeritierte Berner Professor gegen jede Vorauswahl von KandidatInnen durch ihre Parteien. Ziel der Bestrebungen, Bundesratswahlen wieder berechnbarer zu machen, sei die gegenseitige Sitzgarantie bei freier Personenwahl. Das müsse letztlich auch für Abwahlen gelten.

Wolf Linder erwartet, dass eine Stabilisierung der parteipolitischen Beistzansprüche nicht auf der alten 2:2:2:1-Formel zustande kommt, sondern erst dann, wenn die erstarkten Grünen ihren Platz im Bundesrat gefunden haben. Aus seiner Sicht werde das zu Lasten der Mitte-Parteien gehen. Darüber hinaus schliesst er nicht aus, dass dereinst auch die SVP drei der sieben Sitze beanspruche könnte. Die Ansprüche von Parteien, die sich aus WählerInnen-Gewinnen ergeben, müssten allerdings nicht sofort eingelöst werden, sondern erst, wenn die Parteistärken über mehr als eine Wahl hinaus konsolidiert seien.

Bezogen auf die Regierungsreform fordert Linder eine aktivere Rolle des Bundespräsidenten. Verbessert werden müsse die Kommunikation, Verstärkung brauche auch die Zusammenarbeit. Die Rolle des Vorsitzenden werde inskünftig sein, nicht selber Aussenpolitik zu betreiben, sondern die vielfach mit dem Ausland verbundenen Geschäfte aller Departement besser zu koordinieren. Das Hauptproblem ortet der jüngste Pensionär unter den Politologen im Mangel an Zeit, um aus der departementalen Perspektive heraus eine kohärente Gesamtpolitik des Bundesrates zu entwickeln.

Wolf Linder entwickelt damit über die ersten Kommentare hinaus eine ausgeglichene Gesamtschau auf den Stand und die Perspektiven von Bundesratswahlen. Er ist und bleibt ein Anhänger der (grossen) Konkordanz als System und der wechselnden Mehrheiten, die flexible Politik ermöglichen. Polarisierungen steht er nicht ablehnend gegenüber, erwartet aber eine höhere Koordinationsleistung. Noch nie so pointiert gehört habe ich die Forderung, die Bundesversammlung in ihrer Personenwahl (ausser hinsichtlich des selbstredenden Sprachenproporzes) gar nicht einzuschränken.

Claude Longchamp