Die Sitzverteilung im Bundesrat erfolgt nach der arithmetischen Konkordanz, lautet der Minimalkonsens unter den PolitikerInnen, welche die Nachfolge von Pascal Couchepin regeln wollen. Doch wenn man zu rechnen beginnt, staunt man nur noch!
Fast unbemerkt publizierte der Zürcher Politikwissenschafter Daniel Bochsler unmittelbar nach den Parlamentswahlen 2007 seine Berechnungen zur Sitzverteilung im Bundesrat als Folge der damaligen Wahlergebnisse. Jetzt, wo es konkret wird, ist diese Publikation von höchster Brisanz. Ihr Zentrales Fazit: Der Anspruch der FDP auf die Nachfolge von Pascal Couchepin lässt sich arithmetisch kaum begründen.
Verteilung nach Hagenbach-Bischoff
Wendet man den Proporzschlüssel wie beim Nationalrat (das sog. Hagenbach-Bischoff Verfahren) an, scheidet die FDP aus, egal ob man auf WählerInnen-Anteil oder Fraktionsstärken abstellt.
Die Gewinnerparteien sind je Indikator unterschiedlich. Stellt man auf die Parteienstärken ab, geht der frei gewordene Sitz in der Bundesregierung an die Grünen. Nimmt man dagegen die Fraktionsstärken von 2009 als Massstab, kann die Zentrumsfraktion, bestehend aus CVP/EVP und glp, effektiv einen rechnerischen Anspruch auf den Sitz von Couchepin/FDP erheben.
So oder so stehen der SVP im Proporzverfahren zwei Sitze zu, der BDP keinen. Entwicklungsgeschichtlich kann man allerdings begründen, dass jener der BDP bis zum Rücktritt oder zur Abwahl von Eveline Widmer-Schlumpf der SVP abgezogen wird.
Variante nach Sainte-Lagué
Rechner Bochsler bleibt allerdings nicht bei dieser Verteilung stehen. Als Variante spielt er durch, was geschehen würde, sollte man das Rechenverfahren von André Sainte-Lagué anwenden, dem Verteilschlüssel, der neuerdings bei einigen kantonalen Wahlen zum Einsatz kommt.
Danach gewinnen erneut die Grünen als kleinste Partei auf jeden Fall einen Bundesratssitz. Nach Parteistärken kalkuliert haben weder die FDP noch die CVP einen Anspruch auf zwei Sitze, bevor die Grünen aufgewertet werden. Stellt man auf die Fraktionsstärken ab, bekommt die Zentrumsfraktion tatsächlich einen zweite Sitz gutgeschrieben, der aber bei der SP verlustig geht.
Das Ganze wirkt jedoch ziemlich hypothetisch, da hier nach einem Verfahren gerechnet wird, das gesamtschweizerisch nicht einmal beim Nationalrat gilt.
Variante: Abbild der gegenwärtigen Polarisierung
Die Rechenbeispiele können auch anders gemacht werden: Denn die aktuelle Debatte nicht mehr durch den Gedanken der Proportionalität von Parteien geprägt, sondern durch die Verteilung entlang möglicher Polarisierung im Parlament.
Davon gibt es drei, die wesentlich sind: das bürgerlichen Lager gegen die Linke, alle gegen die SVP und Mitte-Links gegen Mitte-Rechts.
Die jetzige Verteilung und Diskussion entspricht der hergebrachten Polarisierung von Bürgerlich vs. Linke. Das Verhältnis ist dann 5:2, – und innerhalb des bürgerlichen Lagers ist die erweiterte CVP-Fraktion an zweiter Stelle, unter den Wählenden an dritter. Das gilt auch, wenn mit umgekehrten Vorzeichen, wenn man die Polarisierung “Alle gegen die SVP” durchrechnet.
In der Polarisierung zwischen linker und rechte Hälfte des Parlaments stehen Mitte-Links 4, SVP, FDP und BDP 3 Sitze zu. Das Quartet aus Mitte und Linken besteht dann aus je zwei SPlern und 2 CVPlern.
Bilanz
Die FDP steckt in einem tiefen Dilemma. Mit ihrer Neuorientierung weg von der Mitte hin nach rechts ist sie ihrer Scharnierfunktion in der Bundesversammlung verlustig gegangen, ohne dass sie nur mit der SVP die aktuellen Verhältnisse im Bundesrat numerisch erzwingen kann.
Wer rechnet, merkt’s!
Claude Longchamp
Die Sainte-Laguë-Methode ist etwas mehr als “ziemlich hypothetisch”: es ist nicht ganz ohne Grund, dass in aktuelleren Wahlrechtsreformen in der Schweiz diese Methode ziemlich konsequent zum Zug kommt. Schliesslich geht es um diejenige Methode, die dem Ideal der Proportionalität am nächsten kommt, währenddem die herkömmliche Methode, die für die Nationalratswahlen verwendet wird, den grossen Parteien resp. Koalitionen überproportional viele Sitze zuordnet. Wer also mit Proportionalität argumentiert, sollte konsequenterweise diese Formel brauchen. Oder dann dazu stehen, dass Bundesratswahlen nicht reine Arithmetik sind – und sich dann entsprechend auch nicht auf arithmetisch begründete Ansprüche, sondern auf politische Gründe berufen.
Lieber Daniel Bochsler,
auf Kantonsebene ist die Aussage richtig. Der Trend geht in Richtung Proportionalisierung.
Aus meiner Sicht macht das in Kantonen auch mehr Sinn. Die Parlamente bestehen aus einer Kammmer, die meisten Wahlrechte funktionieren nach dem Proporzmodus. Es geht um die unmittelbare Volksvertretung.
Auf nationaler Ebene ist das doch ein wenig different. Zunächst gibt es zwei Kammern, wobei nur eine nach dem Proporz funktioniert, eine eindeutig nicht.
Im Parlamentsselbstverständlich gelten beide Kammer als gleichwertig. Das ist zwar unter Politologen umstritten; die Kritik hat sich aber letztlich nicht durchgesetzt.
Gerade wegen dem Bikameralismus sind die Kriterien für die Repräsentation im Bundesrat so umstritten. Und auch hier gilt: Im Parlament geben die meisten den Fraktionen den Vorzug, nicht den Parteistärken in der Wählerschaft.
Das spricht nicht gegen arithemtische Ueberlegungen, wie sie seit 2003 statt den traditionellen Konkordanzregeln von Politikern und Politologen verwendet werden.
Man kann also sehr wohl arithmetischen Ueberlegungen Sinn abringen, ohne gleich auf den kantonalen Proproporzschlüssel kommen zu müssen. Das ist ja beispielsweise bei Andreas Ladner ausgesprochen der Fall.
Meine Kritik geht weniger in die Richtung, als in die, dass die radikale Proportionalisierung dem alten Repräsentationsdenken in der Parteientheorie der Schweiz (jedes Milieu hat seine Partei, jede Reegierung integriert jede relevante Partei und damit auch die Milieus) überholt ist, und die Politologen den seit 15 Jahren indizierten neuen Polarisierung der Parteienlandschaft Rechnung tragen sollten. Da gälte es Modell zu entwerfen, die den zentralen Konfliktlinien im eidg. Parlament Rechnung tragen, die ich im Beitrag kurz skizziert habe.